98 Ia 596
Urteilskopf
98 Ia 596
87. Auszug aus dem Urteil vom 20. Dezember 1972 i.S. Dr. X. gegen Obergericht des Kantons Thurgau.
Regeste
1. Ist in einem Kanton für Anwälte eine verfassungsmässig zulässige Bewilligungspflicht durch Gesetz eingeführt, so besteht damit auch die gesetzliche Grundlage für das sich aus der Natur der Sache ergebende, selbstverständliche Erfordernis der persönlichen Vertrauenswürdigkeit, auch wenn das Gesetz diese Voraussetzung nicht ausdrücklich nennt. Gesetzliche Grundlage auch aufgrund von Gewohnheitsrecht? (Erw. 1 a).
2. Ist die Ausübung des Anwaltsberufs bewilligungspflichtig und einer besondern Aufsicht unterstellt, so bedarf der dauernde Entzug der Bewilligung wegen nachträglichen Wegfalls einer wesentlichen Voraussetzung nicht noch einer besondern gesetzlichen Grundlage (Erw. 1c).
Aus dem Tatbestand:
"Den Beruf eines Rechtsanwaltes kann jeder stimmberechtigte Schweizerbürger oder Kantonseinwohner ausüben, welcher vor der vom thurgauischen Obergericht bestellten Prüfungskommission die vorgeschriebene mündliche und schriftliche Prüfung besteht oder sonst in zureichender Weise über erworbene Rechtskenntnisse und praktische Tüchtigkeit den erforderlichen Ausweis leistet."
Unter den dem Obergericht zustehenden Disziplinarbefugnissen wird in § 7 Ziff. 3 AG der "Entzug der Berechtigung zur Ausübung des Anwaltsberufes auf die Dauer von einem Jahr" erwähnt. Von einem dauernden Entzug der Bewilligung ist im Gesetz nirgends ausdrücklich die Rede.
§ 2 des thurgauischen Reglements betreffend die Prüfung der Rechtsanwälte vom 16. März 1948 enthält in Abs. 1 eine Vorschrift über die Beschäftigung von Anwaltskandidaten ("Personen, die sich auf die thurgauische Rechtsanwaltsprüfung vorbereiten") und bestimmt in Abs. 2:
"Wegen schwerer Verstösse des Anwalts oder des Anwaltskandidaten gegen die Berufspflichten kann die Bewilligung verweigert oder entzogen werden."
B.- Dr. X. wurde vom Obergericht des Kantons Thurgau am 7. Oktober 1965 gestützt auf das Anwaltspatent des Kantons Unterwalden nid dem Wald gemäss Art. 5 ÜbBest. BV die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs im Kanton Thurgau erteilt.
Nachdem die Kantone Luzern und Zürich Dr. X. 1966 bzw. 1969 die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs wegen einer Bestrafung und wegen pflichtwidrigen Verhaltens entzogen hatten, beschloss das Obergericht des Kantons Thurgau am 30. Mai 1972, Dr. X. die am 7. Oktober 1965 erteilte Bewilligung wieder zu entziehen. Es begründete seinen Entscheid damit, dass Dr. X. die Anforderungen, die das thurgauische Recht an den guten Leumund und die Vertrauenswürdigkeit eines Anwaltes stelle, nicht mehr erfülle.
C.- Dr. X. hat gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er beantragt, dieser Beschluss sei aufzuheben.
Aus den Erwägungen:
1. Im vorliegenden Fall ist nicht bestritten, dass die Kantone die Zulassung zum Anwaltsberuf ausser vom Befähigungsausweis (Art. 33 BV) noch von persönlichen Voraussetzungen wie guter Leumund, Ehrenhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit abhängig machen dürfen (BGE 71 I 378, BGE 80 I 151 E. 1, Urteile des Bundesgerichts in Sachen des Beschwerdeführers vom 11. Mai 1966, 26. November 1968, 24. Juni 1970 und 12. November 1971). Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, im Thurgauer Anwaltsrecht fehle für den angeordneten, zeitlich unbeschränkten Bewilligungsentzug die gesetzliche Grundlage, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal würden persönliche Voraussetzungen - wie guter Leumund und Vertrauenswürdigkeit - im Gesetz nicht verlangt und bei der Bewilligungserteilung auch nicht geprüft, und zum andern sei ein dauernder Bewilligungsentzug im Gesetz nicht vorgesehen und daher unstatthaft.
a) Es trifft zu, dass weder im Anwaltsgesetz des Kantons Thurgau noch im Reglement betreffend die Prüfung der Rechtsanwälte guter Leumund oder Vertrauenswürdigkeit als Voraussetzung für die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs genannt werden. Die Vorschriften befassen sich lediglich mit dem Nachweis genügender Rechtskenntnisse. Wenn in § 1 des Anwaltsgesetzes von "praktischer Tüchtigkeit" die Rede ist, so bezieht sich dieser Ausdruck, der im Sinne der Rechtschaffenheit und Vertrauenswürdigkeit verstanden werden könnte, nach dem ganzen Zusammenhang nur auf die fachliche, nicht auch auf die persönliche, charakterliche Eignung; denn er wird als ein der Anwaltsprüfung gleichkommendes Element verwendet. Es stellt sich daher die Frage, ob in einem Kanton die Vertrauenswürdigkeit und Ehrenhaftigkeit auch dann als Voraussetzung für die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs betrachtet werden darf, wenn eine gesetzliche Umschreibung dieser persönlichen Voraussetzungen fehlt.
Durch die gesetzliche Einführung der Bewilligungspflicht und die Schaffung eines - wenn auch rudimentären - Aufsichts- und Disziplinarrechts hat der Kanton Thurgau zum Ausdruck gebracht, dass die Handels- und Gewerbefreiheit im Bereich des Anwaltsberufs aus polizeilichen Gründen den auch in anderen Kantonen üblichen Beschränkungen unterworfen sein soll.
BGE 98 Ia 596 S. 599
Wenn auch eine sorgfältige, zeitgemässe Anwaltsgesetzgebung sich nicht mit der Regelung der Fähigkeitsprüfung begnügt, sondern die persönlichen Voraussetzungen ebenfalls erwähnt, so kann doch aus der Tatsache, dass das Thurgauer Anwaltsrecht die persönlichen Anforderungen nicht regelt, nicht der Schluss gezogen werden, im Kanton Thurgau müsse wegen Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Vorschrift jeder fachlich Ausgewiesene ohne Rücksicht auf Leumund und Vertrauenswürdigkeit - also beispielsweise auch der schwer Vorbestrafte oder Geisteskranke - zur Ausübung des Anwaltsberufs zugelassen werden. Ist eine verfassungsmässig zulässige Bewilligungspflicht durch Gesetz eingeführt, so besteht damit auch die gesetzliche Grundlage für das sich aus der Natur der Sache ergebende, selbstverständliche Erfordernis der persönlichen Vertrauenswürdigkeit. Dass in einem älteren Erlass dieses Erfordernis nicht ausdrücklich genannt ist und bei der Zulassung ausserkantonaler Anwälte auf einen Nachweis des guten Leumunds verzichtet wird, kann nicht zum Schluss führen, trotz fehlender Vertrauenswürdigkeit müsse dem mit einem Fähigkeitsausweis Versehenen die Anwaltstätigkeit im Kanton Thurgau gestattet werden. Mit der Bewilligungspflicht ist das Recht der Bewilligungsbehörde zur Überprüfung aller für die Ausübung des Berufes wesentlichen Voraussetzungen verbunden, auch wenn das Gesetz diese Voraussetzungen nur ungenügend umschreibt. Die ausdrückliche Regelung im Gesetz ist für jene polizeilichen Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit unerlässlich, die sich nicht im Hinblick auf die Art der betreffenden Berufstätigkeit bereits ohne weiteres aus der Bewilligungspflicht ableiten lassen. Dass nur vertrauenswürdige Personen die Anwaltstätigkeit ausüben sollen, ist jedoch ein selbstverständlicher und elementarer Grundsatz. Das Obergericht des Kantons Thurgau als Bewilligungsinstanz und Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte darf daher, auch wenn dies in der kantonalen Gesetzgebung nicht ausdrücklich vorgesehen ist, die persönliche Vertrauenswürdigkeit überprüfen, sobald in dieser Richtung Zweifel bestehen.Im übrigen beruht die Befugnis der Aufsichtsbehörde zur Überprüfung des Leumunds und der Vertrauenswürdigkeit eines im Kanton tätigen (oder tätig werdenden) Anwalts wohl auch auf Gewohnheitsrecht. Mit wenigen Ausnahmen knüpfen alle Kantone die Erteilung der Berufsausübungsbewilligung
BGE 98 Ia 596 S. 600
für Anwälte ausdrücklich an die Voraussetzung des guten Leumunds (A. MAURER, Die Voraussetzungen der Zulassung zur Advokatur, Diss. Zürich 1941, S. 96, H. URECH, Der Rechtsanwaltskandidat, Diss. Zürich 1948, S. 69), und wo dies nicht der Fall ist, wird in der Praxis eine unbescholtene Lebensführung dennoch als selbstverständliche Voraussetzung für die Zulassung zum Anwaltsberuf angesehen (URECH, daselbst; vgl. auch DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe, ZSR 1951, S. 40a). Es dürfte mithin allgemeiner schweizerischer, insbesondere aber auch thurgauischer Rechtsüberzeugung entsprechen, dass Ehrenhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit unbedingte Voraussetzungen für die Anwaltstätigkeit sind, bei deren Fehlen die Bewilligung nicht zu erteilen bzw. zu entziehen ist. Seit wann im Kanton Thurgau auf das Vorhandensein dieser Eigenschaften geachtet wird und ob nähere Überprüfungen schon oft vorgenommen wurden, ist zwar nicht bekannt (der angefochtene Entscheid erwähnt lediglich ein Urteil aus dem Jahre 1966). Man wird aber trotzdem annehmen dürfen, auch in diesem Kanton entspreche es einer langdauernden - wenn vielleicht auch bloss stillschweigenden - Übung, von den Bewerbern um eine entsprechende Berufsausübungsbewilligung bzw. von den Inhabern einen guten Leumund und Vertrauenswürdigkeit zu verlangen. - Indessen braucht die Frage, ob im vorliegenden Fall lückenfüllendes Gewohnheitsrecht vorliege (vgl. dazu GRISEL, Droit administratif suisse, S. 36 ff., sowie BGE 94 I 141 und 308/09, BGE 96 I 228 und auch BGE 96 V 51 E. 4), nicht bis ins letzte untersucht zu werden, da, wie ausgeführt, die notwendige gesetzliche Grundlage schon in der nach thurgauischem Recht bestehenden allgemeinen Bewilligungspflicht erblickt werden kann, so dass insofern auf jeden Fall kein Verstoss gegen Art. 4 BV oder Art. 31 BV vorliegt.b) Der im angefochtenen Entscheid als Grundlage der Entzugsverfügung genannte § 2 Abs. 2 des thurgauischen Reglements betreffend die Prüfung der Rechtsanwälte bezieht sich nach dem Zusammenhang lediglich auf die Bewilligung zur Beschäftigung von Anwaltskandidaten. Diese Bewilligung kann "wegen schwerer Verstösse des Anwalts oder des Anwaltskandidaten gegen die Berufspflichten" verweigert oder entzogen werden. Mit Recht macht der Beschwerdeführer geltend, dieser § 2 Abs. 2 des Prüfungsreglements besage nichts über die Möglichkeit
BGE 98 Ia 596 S. 601
eines dauernden Entzugs der Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufs.c) § 7 des Thurgauer Anwaltsgesetzes nennt als schwerste Disziplinarstrafe den Bewilligungsentzug für die Dauer eines Jahres. Daraus folgert der Beschwerdeführer, dass ein Entzug auf unbestimmte Zeit nicht zulässig sei.
Dieser Schluss wäre zu ziehen, wenn § 7 als abschliessende Aufzählung aller dem Obergericht als Aufsichtsbehörde zustehenden Befugnisse verstanden werden müsste. Indessen handelt es sich in § 7 lediglich um die Regelung der Disziplinarstrafen, welche - bei grundsätzlicher Wahrung des Rechts zur Ausübung des Anwaltsberufs - ausgefällt werden können. Im Rahmen dieser Disziplinarstrafordnung ist als schwerste Sanktion das Verbot der Berufsausübung auf die Dauer eines Jahres vorgesehen. Daneben gibt es den Verweis und die Ordnungsbusse als mildere Strafen. Diese Disziplinarstrafen - unter Einschluss des zeitlich befristeten Berufsausübungsverbots - dienen der disziplinarischen Ahndung bestimmter Verstösse, ohne dass die fachliche und persönliche Befähigung zur Ausübung des Anwaltsberufs grundsätzlich in Frage steht. Mit der Erwähnung des vorübergehenden Entzugs als einer von vornherein begrenzten disziplinarischen Massnahme schliesst jedoch das Gesetz den dauernden Entzug der Berufsausübungsbewilligung wegen Wegfalls einer wesentlichen Voraussetzung nicht aus. Das Thurgauer Anwaltsgesetz befasst sich nur mit dem zeitlich begrenzten Entzug als Disziplinarstrafe bei grundsätzlicher Erhaltung der Fähigkeit zur Berufsausübung. Ist aber eine Berufstätigkeit bewilligungspflichtig und einer speziellen Aufsicht unterstellt, so muss die zuständige Behörde stets auch die Möglichkeit haben, die Bewilligung ohne zeitliche Beschränkung, d.h. dauernd, zu entziehen, wenn eine stillschweigende oder ausdrückliche Voraussetzung der Bewilligungserteilung nachträglich wegfällt (oder wenn es sich herausstellt, dass eine wesentliche Voraussetzung überhaupt nie gegeben war). Dass eine Bewilligung (Polizeierlaubnis) zurückzunehmen ist, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung weggefallen sind, ergibt sich aus den allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts (DUBACH, a.a.O. S. 40 a, GRISEL, a.a.O. S. 213). Einer besonderen gesetzlichen Grundlage bedarf der Entzug der Bewilligung wegen nachträglichen Wegfalls einer wesentlichen
BGE 98 Ia 596 S. 602
Voraussetzung nicht. Aus dem Fehlen ausdrücklicher Vorschriften kann somit nicht gefolgert werden, das Gesetz verbiete den Bewilligungsentzug. Dieser hat vielmehr zu erfolgen, wenn die Voraussetzungen weggefallen sind und das Gesetz nicht das Gegenteil vorschreibt.