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Urteilskopf

100 Ia 200


28. Urteil vom 13. März 1974 i.S. Gemeinde Celerina/Schlarigna gegen Suc SA und Mitbeteiligte und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden.

Regeste

Gemeindeautonomie.
Abgrenzung des Autonomiebereiches bei der Rechtsanwendung. Eine Gemeinde kann sich gegenüber dem Entscheid einer kantonalen Beschwerdeinstanz, welche bei der Auslegung und Anwendung eines unbestimmten Gesetzesbegriffes des kantonalen Rechtes zu einem andern Ergebnis kommt als die erstinstanzlich verfügende Gemeindebehörde, nicht auf die Gemeindeautonomie berufen.

Sachverhalt ab Seite 200

BGE 100 Ia 200 S. 200

A.- Das Bau- und Planungsgesetz des Kantons Graubünden vom 26. April 1964 (BPG), das bis zum 30. Juni 1973 in Kraft
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gewesen war, erklärte in Art. 1 die Gemeinden unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des eidgenössischen und kantonalen Rechtes für befugt, Bau- und Nutzungsvorschriften zu erlassen. Art. 5 lautete:
"Die Gemeindevorstände können Gebiete, für die keine oder abänderungsbedürftige Bebauungs- und Nutzungspläne bestehen, mit einer vorübergehenden Bausperre belegen. Die Erstellung von Bauten ist in diesem Falle nur zulässig, wenn dadurch die vorgesehene Planung nicht erschwert wird.
Die Sperre kann für längstens ein Jahr angeordnet werden. Bei umfangreichen Planungen kann diese Frist mit Zustimmung des Kleinen Rates angemessen erstreckt werden.
Die Anordnung der Bausperre ist öffentlich bekanntzugeben."
Eine gleichartige Bestimmung findet sich in Art. 54 des neuen kantonalen Raumplanungsgesetzes vom 20. Mai 1973, welches am 1. Juli 1973 in Kraft trat und das BPG von 1964 ersetzte. Das neue Gesetz ist auf alle bei seinem Inkrafttreten noch nicht behandelten Baugesuche anwenbar (Art. 60).

B.- Gestützt auf Art. 5 BPG und eine entsprechende Bestimmung des kommunalen Baugesetzes erliess der Gemeinderat Celerina/Schlarigna am 1. Mai 1972 mit sofortiger Wirkung für das ganze Gemeindegebiet eine einjährige Bausperre; ausgenommen wurden Bauten bzw. Quartierpläne, die dem Sinn und Zweck der beschlossenen Revision der Ortsplanung eindeutig nicht widersprechen.
Die Suc SA, die Ste SA, die Gess SA, die Ledci SA, die Suot SA sowie die Sud Proviezel SA, über deren Grundstücke im Baugebiet Proviezel-Suot mit der Gemeinde am 27. Januar 1971 ein Quartierplanvertrag abgeschlossen worden war, stellten am 20. Juli 1972 ein Baugesuch für die Errichtung von sechs Mehrfamilienhäusern auf den Parzellen Nr. 681-686. Mit Verfügung vom 24. August 1972 lehnte der Gemeinderat Celerina/Schlarigna das Baugesuch "auf Grund des geltenden Baustoppes" ab, ohne es näher zu prüfen. Er wies darauf hin, dass die Infrastruktur im betreffenden Quartier noch nicht geregelt sei und dies im Rahmen der generellen Planung noch nachgeholt werden müsse.
Die Baugesuchstellerinnen rekurrierten hiegegen an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses hiess den Rekurs, nachdem es einen Augenschein vorgenommen hatte, mit Urteil vom 31. Januar 1973 im Sinne der Erwägungen gut
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und hob den angefochtenen Entscheid auf. In den Erwägungen führte das Gericht aus, hinsichtlich der Parzelle Nr. 682 lasse sich der Entscheid des Gemeinderates nicht beanstanden, da eine Überbauung dieses Grundstückes die Planung tatsächlich präjudizieren könnte. In bezug auf die übrigen fünf Parzellen sei die Rückstellung der Baugesuche, wie das Verwaltungsgericht eingehend begründete, nicht gerechtfertigt. Insoweit könnten die Rekurrentinnen verlangen, dass die Gemeindebehörde ihr Baugesuch materiell behandle. Falls im Zeitpunkt der materiellen Beurteilung der Verlauf der geplanten Entlastungsstrasse und die technisch geeignetste Anschlussmöglichkeit für die Entwässerung noch immer nicht feststehen sollte, werde die Gemeinde zu einer für beide Seiten vertretbaren Übergangslösung Hand zu bieten haben.

C.- Die Gemeinde Celerina/Schlarigna führt gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes des Kantons Graubünden vom 31. Januar 1973 staatsrechtliche Beschwerde. Sie macht geltend, die vom Verwaltungsgericht angeordnete Durchbrechung der Bausperre beeinträchtige in schwerer Weise die im Gange befindliche Planung und sei sachlich völlig ungerechtfertigt. Sie rügt eine Verletzung der Gemeindeautonomie und verlangt Aufhebung des angefochtenen Entscheides.

D.- Das Verwaltungsgericht und die Baugesuchstellerinnen beantragen, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.

E.- Mit Beschluss der Regierung des Kantons Graubünden vom 9. Juli 1973 wurde die Gemeinde Celerina/Schlarigna ermächtigt, die am 1. Mai 1973 ablaufende Bausperre um ein Jahr, d.h. bis zum 30. April 1974 zu verlängern.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Entscheid des Verwaltungsgerichtes, wonach die Baugesuche der Beschwerdegegnerinnen trotz der bestehenden Bausperre materiell zu behandeln und gegebenenfalls zu bewilligen sind, berührt die Gemeinde Celerina/Schlarigna in ihrer Eigenschaft als Inhaberin der öffentlichen Gewalt. Da sie - freilich ohne nähere rechtliche Begründung - behauptet, dadurch in ihrer Autonomie verletzt zu sein, ist sie legitimiert, den Entscheid des Verwaltungsgerichtes anzufechten. Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist daher einzutreten. Ob die
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Gemeinde in dem Bereich, in dem sie sich für autonom hält, tatsächlich autonom ist, ist keine Frage der Legitimation, sondern eine solche der materiellen Beurteilung der Beschwerde (BGE 99 Ia 74 E. 1).

2. a) Das Urteil des Verwaltungsgerichtes stützt sich auf Art. 5 des damals noch anwendbaren Bau- und Planungsgesetzes vom 26. April 1964 (BPG). Die vorliegende Beschwerde ist daher aufgrund der Rechtslage zu beurteilen, wie sie während der Geltungsdauer des BPG bestand. Doch dürfte sich, wie den folgenden Erwägungen zu entnehmen ist, durch das Inkrafttreten des neuen Raumplanungsgesetzes im streitigen Punkt keine Änderung ergeben haben.
b) Zunächst ist zu prüfen, ob die Gemeinde hinsichtlich der Frage, über welche das Verwaltungsgericht im angefochtenen Entscheid befunden hat, überhaupt den Schutz der Gemeindeautonomie beanspruchen kann. Erst wenn dies zu bejahen ist, stellt sich die weitere Frage, ob die Gemeinde durch den angefochtenen Entscheid in ihrer Autonomie verletzt wurde.
Ist die Gemeinde nach dem massgebenden kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht in einem bestimmten Sachbereich zur Rechtsetzung ermächtigt und steht ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu, so ist sie in diesem Sachbereich autonom, und sie kann sich, wenn die kantonale Behörde in diese Rechtsetzungsbefugnis eingreift, auf die Gemeindeautonomie berufen (BGE 95 I 37 ff.; BGE 94 I 65; BGE 93 I 434; ZIMMERLI, Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Gemeindeautonomie, ZBl 1972, S. 262, 264). Darüber hinaus erstreckt sich der Schutz der Gemeindeautonomie nach der neuern Rechtsprechung auch auf die Anwendung dieses autonomen Gemeinderechtes; eine Autonomieverletzung kann danach auch darin bestehen, dass eine kantonale Rechtsmittel- oder Aufsichtsbehörde autonomes Gemeinderecht willkürlich anwendet oder in den der Gemeinde allenfalls vorbehaltenen Ermessens- und Beurteilungsspielraum eingreift (BGE 97 I 522; BGE 96 I 372 ff.; BGE 95 I 37 ff.; ZIMMERLI, a.a.O. S. 266 ff.).
c) Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen einen Akt der Rechtsanwendung. Die Gemeinde Celerina/Schlarigna geht stillschweigend davon aus, der Entscheid darüber, ob ein während der Bausperre eingereichtes Baugesuch materiell zu behandeln oder zurückzustellen sei, ergehe in Anwendung autonomen Gemeinderechtes.
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Wie aus zahlreichen Urteilen des Bundesgerichtes hervorgeht, fiel das öffentliche Baurecht im Kanton Graubünden während der Geltungsdauer des BPG von 1964 grundsätzlich in den Autonomiebereich der Gemeinden (BGE 97 I 138 mit Hinweisen auf frühere Urteile). Daran dürfte sich auch unter der Herrschaft des neuen Raumplanungsgesetzes wenig geändert haben (vgl. Art. 18 ff.). In bezug auf all jene Fragen, die im kantonalen Gesetz keine abschliessende Regelung erfahren haben und bei denen den Gemeinden eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zusteht, stellen die Vorschriften der kommunalen Bauordnungen autonomes Gemeinderecht dar, und die Gemeinden können sich gegenüber der Anwendung dieser Vorschriften durch kantonale Rechtsmittelbehörden auf den Schutz der Gemeindeautonomie berufen (BGE 96 I 372 ff.).
Art. 5 BPG sieht vor, dass Gebiete, für die keine oder abänderungsbedürftige Bebauungs- und Nutzungspläne bestehen, mit einer vorübergehenden Bausperre belegt werden dürfen: der Entscheid, ob eine solche Massnahme getroffen werden soll, wird in das Ermessen des Gemeindevorstandes gestellt. In bezug auf die Anordnung der Bausperre ist die bündnerische Gemeinde nach Art. 5 BPG daher autonom. Es steht ihr nicht nur weitgehend frei, ob und wie sie ihre Planung ändern will, sondern es ist auch ihr überlassen, ob sie von der Möglichkeit, für das betreffende Gebiet eine Bausperre zu erlassen, Gebrauch machen will. Hingegen sind die Rechtswirkungen einer Bausperre in Art. 5 BPG umschrieben. Die Bausperre hat nicht schlechthin ein Bauverbot zum Inhalt. Art. 5 BPG bestimmt vielmehr, dass "die Erstellung von Bauten in diesem Falle nur zulässig ist, wenn dadurch die vorgesehene Planung nicht erschwert wird". Eine entsprechende Vorschrift findet sich in Art. 54 Abs. 3 des neuen Raumplanungsgesetzes. Diese kantonalrechtliche Regelung hat klarerweise zwingenden Charakter, d.h. sie gilt in allen Gemeinden, gleichgültig ob ihre Bauordnungen eine entsprechende Vorschrift enthalten oder nicht, und es stünde einer Gemeinde nicht frei, die materiellen Rechtswirkungen einer Bausperre anders zu umschreiben, als es der kantonale Gesetzgeber getan hat. Die Bauordnung von Celerina/Schlarigna enthält diesbezüglich übrigens gar keine Vorschrift; sie sieht lediglich vor, dass eine Bausperre erlassen werden kann, ohne deren Inhalt näher festzulegen (Art. 22).
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Bei der Beantwortung der Frage, ob durch ein Bauprojekt die "vorgesehene Planung erschwert wird" (Art. 5 BPG), geht es um die Auslegung und Anwendung eines unbestimmten Gesetzesbegriffes, der der rechtsanwendenden Behörde in verschiedener Hinsicht einen gewissen Beurteilungsspielraum offenlässt. Wäre er in einer Vorschrift des autonomen Gemeinderechtes enthalten, so könnte sich die Gemeinde bei seiner Anwendung auf den Schutz der Gemeindeautonomie berufen und den Entscheid der kantonalen Rechtsmittelbehörde wegen Willkür anfechten oder - falls der Beschwerdeinstanz, wie hier, nur eine Rechtskontrolle zusteht - geltend machen, diese habe bei der Auslegung des Gesetzesbegriffes in den der Gemeinde vorbehaltenen Beurteilungsspielraum eingegriffen (BGE 96 I 372 ff., 99 Ia 254). Der im vorliegenden Fall in Frage stehende unbestimmte Gesetzesbegriff gehört indessen dem kantonalen Recht an, und die besonderen Gründe, welche dazu geführt haben, den Gemeinden nicht nur bei der Rechtsetzung, sondern auch bei der Anwendung ihres autonomen Rechtes gegenüber den kantonalen Aufsichts- und Rechtsmittelinstanzen einen gewissen Schutz zu gewähren, treffen hier nicht zu. Wie das Bundesgericht bereits in BGE 97 I 521 ff. entschieden und begründet hat, fällt die Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe des kantonalen Rechtes nicht in den Schutzbereich der Gemeindeautonomie. Die Gemeinde kann daher durch den Entscheid einer kantonalen Rechtsmittelinstanz, die bei der Anwendung eines solchen Gesetzesbegriffes zu einem andern Ergebnis kommt als die erstinstanzlich verfügende Gemeindebehörde, zum vornherein nicht in ihrer Autonomie verletzt sein (BGE 97 I 523 /24; ZIMMERLI, a.a.O. S. 269). Wieweit die Gemeinden in anders gelagerten Fällen bei der Anwendung kantonalen Rechtes einen geschützten Bereich autonomer Verwaltungstätigkeit beanspruchen können, braucht hier nicht erörtert zu werden (vgl. BGE 96 1724 ff.). Da der Gemeinde Celerina/Schlarigna in der streitigen Frage keine Autonomie zusteht, ist ihre Beschwerde abzuweisen, ohne dass der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichtes auf seine sachliche Richtigkeit hin zu prüfen wäre.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.