BGE 101 Ia 82 |
16. Urteil vom 4. Juni 1975 i.S. Erben des A. gegen Gemeinde X. und Verwaltungsgericht (Steuerrekursabteilung) des Kantons Nidwalden. |
Regeste |
Rückwirkungsverbot; Art. 4 BV, Art. 5 Nidwald. KV |
Sachverhalt |
Die Ziffern 1 und 2 des zur Zeit der Schenkung geltenden § 30 des Armengesetzes lauteten:
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"1. Der Staat erhebt eine Erbschafts- und Vermächtnissteuer.
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2. Der Besteuerung unterliegt das Vermögen, das durch gesetzliche Erbfolge, letztwillige Verfügung oder Erbvertrag jemandem zu Eigentum anfällt. Schenkungen oder anderweitige Vermögenszuwendungen, die innerhalb von 2 Jahren, vom Todestag des Erblassers zurückgerechnet, erfolgt sind, werden den steuerpflichtigen Vermächtnissen gleichgestellt."
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"Der Besteuerung unterliegt das Vermögen, das durch gesetzliche Erbfolge, letztwillige Verfügung, Erbvertrag oder Schenkung auf den Todesfall jemandem zu Eigentum anfällt. Schenkungen oder anderweitige Vermögenszuwendungen, die innerhalb von fünf Jahren, vom Todestag des Erblassers zurückgerechnet, erfolgt sind, werden den steuerpflichtigen Vermächtnissen gleichgestellt."
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Gestützt auf diese Bestimmung hat das Steueramt die von A. am 20. November 1967 gemachten Schenkungen der Erbschafts- und Vermächtnissteuer unterstellt. Eine von den betroffenen Erben erhobene Einsprache, mit welcher geltendgemacht wurde, die Besteuerung widerspreche dem Rückwirkungsverbot von Art. 5 KV, wurde von der Gemeindesteuerkommission X. abgewiesen. Auch ein Rekurs an das kantonale Verwaltungsgericht hatte keinen Erfolg.
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Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Nidwalden (Steuerrekursabteilung) vom 17. Oktober/26. November 1973 legten die Erben staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 5 KV ein.
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Das Verwaltungsgericht Nidwalden und die Gemeindesteuerkommission beantragen Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
1. Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht, der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts Nidwalden verletze sowohl Art. 5 KV, wonach "rückwirkende Gesetze, die den Privaten neue Belastungen auferlegen, unzulässig sind", wie Art. 4 BV (Verletzung wohlerworbener Rechte). Es wird darin allerdings nicht dargetan, inwiefern das in Art. 5 KV verankerte Prinzip über das bundesverfassungsmässige Rückwirkungsverbot hinausgehe. Im angefochtenen Entscheid wurde Art. 5 KV dahingehend ausgelegt, dass alle rückwirkenden Gesetze, die den Privaten neue Belastungen auferlegen, unzulässig sind. Diese Auslegung deckt sich mit dem Wortlaut der kantonalen Verfassungsbestimmung. Demgegenüber lässt das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 BV die Rückwirkung regelmässig dann zu, wenn sie ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlasses klar gewollt ist, in zeitlicher Beziehung mässig ist, zu keinen stossenden Rechtsungleichheiten führt, sich durch beachtenswerte Gründe rechtfertigen lässt und nicht in wohlerworbene Rechte eingreift (BGE 94 I 5 mit Verweisungen). Die kantonale Verfassungsnorm gewährt dem Berechtigten insofern einen weitergehenden Schutz als das Bundesrecht, als sie nach der Auslegung des Verwaltungsgerichts keine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot zuzulassen scheint. Ob ein Verstoss gegen das bundesrechtliche Rückwirkungsverbot vorliegt, ist somit nicht zu prüfen, sondern es ist vorerst einzig zu untersuchen, ob die Anwendung von Art. 45 des am 1. Januar 1971 in Kraft getretenen Steuergesetzes auf den zur Frage stehenden Tatbestand eine Rückwirkung im Sinne des Art. 5 KV darstellt. |
a) Die Gemeindesteuerkommission hat sich darauf berufen, dass das an der Landsgemeinde vom 26. April 1970 angenommene neue Steuergesetz nicht rückwirkend, sondern auf den 1. Januar 1971 in Kraft gesetzt worden sei und nur auf Nachlasssteuern Anwendung finde, die durch einen nach dem 1. Januar 1971 erfolgten Todesfall ausgelöst würden. Von einem rückwirkenden Gesetz könne deshalb nicht gesprochen werden. Dieser Umstand reicht aber, wie die Beschwerdeführer mit Recht geltend machen und das Verwaltungsgericht stillschweigend anerkennt, nicht aus, um eine verfassungswidrige Rückwirkung auszuschliessen. Nicht nur die rückwirkende Inkraftsetzung ganzer Gesetze, sondern auch einzelne rückwirkende Gesetzesbestimmungen, welche Privaten neue Belastungen bringen, sind unzulässig. Andernfalls könnte das Rückwirkungsverbot durch einzelne, die Rückwirkung statuierende Gesetzesvorschriften völlig seine Wirksamkeit verlieren.
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b) Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Entscheid im wesentlichen folgendermassen begründet: Ausgangspunkt für die Berechnung der Frist, innert deren Schenkungen den steuerpflichtigen Vermächtnissen gleichgestellt würden, sei der Todestag des Erblassers. Deshalb seien die Bestimmungen des zu diesem Zeitpunkt geltenden neuen Steuergesetzes uneingeschränkt anwendbar. Dass die Schenkungen, welche steuerfrei gewesen wären, wenn der Erblasser vor dem 1. Januar 1971 verstorben wäre, nach Inkrafttreten des neuen Steuergesetzes wieder von der Steuer erfasst würden, erfülle den Tatbestand der Rückwirkung nicht. Die Rechtsordnung des Rechtsstaates stelle eine dynamische, abänderbare Ordnung dar, und die zeitliche Geltung der Rechtssätze sei beschränkt. Da der Erblasser nach Inkrafttreten des neuen Steuergesetzes gestorben sei, bedeute die Anwendung von Art. 45 nicht eine rückwirkende, sondern nur eine zusätzliche Belastung der Rekurrenten. Diese hätten sich, solange der Erblasser noch gelebt habe, nicht darauf verlassen können, dass sie ein für allemal von der Erbschaftssteuerpflicht für Schenkungen befreit seien. Sie hätten kein wohlerworbenes Recht auf deren Steuerfreiheit gehabt. Von rückwirkender Kraft eines Steuergesetzes könne nur gesprochen werden, wenn die Steuerpflicht an Tatbestände anknüpfe, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes lägen. Die Steuerpflicht knüpfe jedoch hier an das Ableben des Steuerpflichtigen an. |
c) Dem gegenüber machen die Beschwerdeführer geltend, sowohl der Schenker als auch die Beschenkten hätten sich darauf verlassen dürfen, dass eine Besteuerung nach Ablauf der Zweijahresfrist des damaligen Gesetzes nicht mehr in Frage komme. Erst nach Ablauf dieser Frist, nämlich am 26. November 1969, sei es zu weiteren Schenkungen des Erblassers gekommen, im Vertrauen darauf, dass im Zeitpunkt der zweiten Schenkung jede Erbschaftssteuerforderung für die erste ausgeschlossen gewesen sei. Die Beschwerdeführer würden zwar anerkennen, dass es kein wohlerworbenes Recht auf den Fortbestand einer günstigen gesetzlichen Regelung gebe. Sie wehrten sich aber dagegen, dass trotz des ausdrücklichen Verbots der Rückwirkung neuer Gesetze die neue fünfjährige Frist auf die Schenkungen vom Jahr 1967 ausgedehnt werde, nachdem die damals geltende Zweijahresfrist bereits verstrichen gewesen sei. Der Erfolg sei für sie der gleiche, ob man von einer rückwirkenden oder zusätzlichen Belastung spreche. Zusätzliche Belastungen seien gleichbedeutend mit "neuen Belastungen", welche durch Art. 5 KV ausgeschlossen seien.
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2. Hinsichtlich des Begriffs der Rückwirkung wird im angefochtenen Entscheid auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 4 BV verwiesen. Danach liegt grundsätzlich nur dann eine Rückwirkung vor, wenn bei der Anwendung eines Verwaltungsgesetzes an ein in der Vergangenheit liegendes vor Erlass des den Bürger belastenden Gesetzes abgeschlossenes Ereignis, nicht jedoch, wo an Verhältnisse geknüpft wird, die zwar noch unter der Herrschaft des alten Rechts entstanden sind, beim Inkrafttreten des neuen Rechts jedoch noch fortdauern (BGE 96 I 676). Im Steuerrecht ist insbesondere dann von rückwirkender Kraft eines Gesetzes zu sprechen, wenn die Rechtsfolge der Steuerpflicht an Tatbestände anknüpft, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes liegen, nicht aber auch dann, wenn lediglich der Umfang der Steuerpflicht nach Tatsachen bestimmt wird, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten sind (BGE 74 I 104mit Verweisungen; IMBODEN, Verwaltungsrechtsprechung, 4. Aufl. Bd. I S. 160 ff., A. GRISEL, ZBl 1974 S. 242 f.). |
a) Auch wenn die geschenkten Güter möglicherweise weiterhin im Eigentum der beschenkten Beschwerdeführer sind, so sind die Schenkungen, die 1967 vollzogen worden sind, doch als abgeschlossene Vorgänge zu betrachten. Dies wird vom Verwaltungsgericht denn auch zu Recht in keiner Weise bestritten. Es fragt sich somit einzig, ob die Schenkung steuerbegründender Faktor ist, oder ob sie nur für den Umfang der Erbsteuerpflicht bzw. nicht einmal dafür von Bedeutung ist.
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b) Gemäss dem zur Zeit der Schenkung geltenden § 30 des Armengesetzes erhob der Kanton Nidwalden als Mittel zur Armenunterstützung eine Erbschafts- und Vermächtnissteuer (Ziff. 1). Eine allgemeine Schenkungssteuer war darin nicht vorgesehen. Dagegen wurden die Schenkungen unter Lebenden in Ziff. 2 Satz 2 unter einer Voraussetzung den Vermächtnissen gleichgestellt. Das bedeutet indessen nicht, dass dadurch solche Schenkungen zu Vermächtnissen wurden. Die Schenkung blieb nach wie vor - im Gegensatz zum Vermächtnis - ein zweiseitiges Rechtsgeschäft unter Lebenden, dessen Erfüllungszeitpunkt bzw. Vollzug entweder im schriftlichen Schenkungsversprechen festgesetzt wird oder - bei der Handschenkung - mit der Übergabe der geschenkten Sachen an den Beschenkten zusammenfällt. Die Schenkung war nur dann wie ein Vermächtnis zu besteuern, wenn der Schenker innerhalb von zwei der Schenkung folgenden Jahren verstarb. Offenbar sollte durch diese Vorschrift die Umgehung der Erbschaftssteuer durch Schenkungen unter Lebenden auf dem Totenbett verhindert werden.
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§ 30 Ziff. 2 des Armengesetzes schuf somit zwei steuerrechtliche Kategorien von Schenkungen, nämlich steuerfreie und steuerpflichtige Schenkungen. Die letztgenannten erklärte das Gesetz nach den gleichen Grundsätzen steuerbar wie die Vermächtnisse, d.h. der Umfang der Steuerpflicht richtete sich nach den für Vermächtnisse massgebenden Bestimmungen. Die Vorschrift hätte ebensogut lauten können: |
"Steuerpflichtig sind solche Schenkungen, bei welchen der Schenker innerhalb von zwei Jahren nach Vollzug der Schenkung stirbt; ist der Schenker zwei Jahre nach der Schenkung noch am Leben, so ist die Schenkung steuerfrei. Steuerpflichtige Schenkungen werden nach den für die Vermächtnisse geltenden Regeln besteuert."
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Die Tatsache, dass gemäss § 30 Ziff. 2 vom Todestag des Schenkers zurückzurechnen ist, ändert nichts daran, dass der massgebliche Beziehungspunkt die Schenkung und nicht der Tod ist.
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Wurde eine Schenkung gemacht, so bestand bezüglich der Steuerpflicht zuerst ein Schwebezustand, der höchstens zwei Jahre betrug. Dieser Schwebezustand endete entweder mit dem Ableben des Schenkers innerhalb der zweijährigen Frist, oder beim Weiterleben des Schenkers mit dem Ablauf derselben zweijährigen Frist. Starb der Schenker innerhalb von zwei Jahren, wurde die Schenkung steuerpflichtig; lebte er nach zwei Jahren noch - sei es auch nur einen Tag - wurde die Schenkung endgültig steuerfrei. Der nachherige Tod des Schenkers liess die einmal erlangte Steuerfreiheit nicht wieder dahinfallen.
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c) Im zu beurteilenden Fall erfolgte die Schenkung am 20. November 1967. Am 20. November 1969, zwei Jahre später, lebte der Schenker noch. Der vom damals geltenden Gesetz erfasste Tatbestand (Schenkung, Weiterleben des Schenkers nach zweijähriger Frist) war vollständig verwirklicht, der Schwebezustand beendet, die gesetzliche Voraussetzung der Steuerfreiheit erfüllt. Die Schenkung wurde steuerfrei. Indem das am 1. Januar 1971 in Kraft getretene neue Steuergesetz einen vor seinem Inkrafttreten vollständig abgeschlossenen Vorgang der Besteuerung unterwirft, ist es rückwirkend im eigentlichen Sinne. Es verstösst damit gegen Art. 5 KV, weshalb die Beschwerde gutzuheissen ist. Anders wäre es höchstens dann gewesen, wenn das neue Steuergesetz, das die früher vorgesehene zweijährige Frist auf fünf Jahre verlängert, während des vom alten Recht beherrschten Schwebezustandes in Kraft getreten wäre; wenn z.B. die Schenkung am 30. Juni 1969 erfolgt, das neue Gesetz am 1. Januar 1971 in Kraft getreten und der Schenker am 30. September 1971, d.h. mehr als zwei Jahre, aber weniger als fünf Jahre nach der Schenkung, gestorben wäre. In einem solchen Fall liesse sich allenfalls die Auffassung vertreten, der rechtserhebliche Tatbestand sei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts noch nicht vollständig verwirklicht gewesen. |
d) Ist der angefochtene Entscheid schon aufgrund des Verstosses gegen das kantonale Rückwirkungsverbot aufzuheben, so erübrigt sich, weiter zu prüfen, ob Art. 4 BV in irgendeiner Weise verletzt sein könnte.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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