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Urteilskopf

101 Ia 88


17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. Juni 1975 i.S. X. gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern.

Regeste

1. Keine Verletzung des aus Art. 4 BV fliessenden Anspruchs auf rechtliches Gehör, wenn ein Angeklagter in seinem mündlichen Vortrag vor Gericht deshalb unterbrochen oder zeitlich beschränkt wird, weil seine Ausführungen unnötig weitschweifig sind oder nicht zur Sache gehören (Erw. 2).
2. Ob der Beizug eines amtlichen Verteidigers erforderlich ist, hängt weitgehend von den Umständen des Einzelfalles ab, wobei die Schwierigkeiten, die die Strafsache in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bietet, an den Fähigkeiten, den prozessualen Erfahrungen des Angeklagten und den gerichtlichen Vorkehren zu messen sind (Erw. 3e).

Sachverhalt ab Seite 89

BGE 101 Ia 88 S. 89

A.- Am 17. Dezember 1973 sprach das Strafamtsgericht von Aarberg X. schuldig des wiederholten Diebstahls in dreiundzwanzig Fällen, der Entwendung eines Mofas zum Gebrauch, der Wiederholten Sachbeschädigung, der wiederholten Irreführung der Rechtspflege, des wiederholten Betruges, der Gewalt und Drohung gegen Beamte und der Verletzung des Fernmelderegals und verurteilte ihn zu drei Jahren Zuchthaus, abzüglich 13 Monate Untersuchungshaft.

B.- Gegen dieses Urteil appellierte X. Der Generalprokurator des Kantons Bern schloss sich der Appellation an.
Mit Urteil vom 3. September 1974 sprach das Obergericht des Kantons Bern X. in 2 Diebstahlsfällen frei, erhöhte aber die Strafe auf 3 1/2 Jahre Zuchthaus und rechnete lediglich 10 Monate Untersuchungshaft auf die Zuchthausstrafe an.

C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt X. durch den Anwalt seines Vormundes, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben, die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen und dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu bewilligen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Der Beschwerdeführer rügt, bereits mit der Vorladung zur obergerichtlichen Verhandlung sei die Redezeit auf 20 bis 25 Minuten beschränkt worden. Mehrmals sei er während seiner Verteidigung unterbrochen worden und nach Ablauf der 25 Minuten habe man ihm das Wort entzogen. Zahlreiche Anklagepunkte seien in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umstritten gewesen. Eine Beschränkung der Redezeit sei mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht vereinbar. Mindestens sei im vorliegenden Fall die Redezeit unverhältnismässig beschränkt worden.
Gemäss Art. 322 Abs. 1 StrV ist der Gerichtspräsident befugt,
BGE 101 Ia 88 S. 90
"die Dauer der für die Vorträge eingeräumten Zeit festzusetzen; jede Partei kann hiegegen die Entscheidung des Gerichtes anrufen. Bei Nichteinhaltung der Frist kann das Wort entzogen werden".
Das Recht, die Redezeit der Parteien zu beschränken, fliesst aus der richterlichen Prozessleitung. Es ist dem rechtlichen Gehör, der Wahrheitserforschung und der Mitwirkung der Partei an der Rechtsfindung untergeordnet. Die Beschränkung der Redezeit darf die freie und wirksame Verteidigung nicht beeinträchtigen. Lediglich unnötige Weitschweifigkeiten und Ausführungen über Gegenstände, die nicht streitig sind oder nicht zur Sache gehören, dürfen unterbunden werden. In diesem Sinne wird die Prozessleitung auch von der Vorinstanz verstanden, wenn sie in ihrer Vernehmlassung schreibt, es komme vor Obergericht nicht vor, dass einer Partei, die zur Sache plädiere, nach Ablauf der vorgesehenen Redezeit das Wort entzogen werde. Ebenso sei bisher einem begründeten Gesuch um Verlängerung der Redezeit stets entsprochen worden. So gehandhabt verletzt Art. 322 Abs. 1 StrV den in Art. 4 BV verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör nicht.
Dem Verhandlungsprotokoll der Vorinstanz ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer sich zu verschiedenen Punkten äusserte, welche teils mit den ihm vorgeworfenen Handlungen, teils mit Fragen seiner Haft zusammenhängen. Der Vorsitzende rügte den Beschwerdeführer wegen ungebührlicher Ausdrücke wie "Schweinehunde" und "schikanieren" und forderte ihn auf, zur Frage Stellung zu nehmen, ob er die Diebstähle mit besonderer Gefährlichkeit begangen habe. Daraufhin verzichtete der Beschwerdeführer auf die weitere Verlesung des Parteivortrages. Die Vorinstanz wies den Beschwerdeführer auf die beschränkte Redezeit hin und gewährte ihm noch 4 Minuten Zeit zur Stellung der Strafanträge, worauf der Angeschuldigte erwiderte, er werde nunmehr schweigen und keine Anträge stellen. 12 Uhr 15 stellte der Vorsitzende den Ablauf der Redezeit fest. Die Vernehmlassung erwähnt, der Beschwerdeführer habe sich in seinem Parteivortrag während ca. 10 Minuten über frühere ungerechte Verurteilungen und den Strafvollzug im allgemeinen ausgelassen. Vom damaligen Präsidenten sei er darauf hingewiesen worden, dass er zur Sache, d.h. zu den einzelnen Fällen kommen solle. Nach weitern fünf Minuten habe der Hinweis
BGE 101 Ia 88 S. 91
wiederholt werden müssen, worauf der Beschwerdeführer noch vor Ablauf der Redezeit das Gericht als befangen erklärt und auf weitere Ausführungen verzichtet habe. Der Vorsitzende habe mit dem Schluss der Parteiverhandlungen einige Minuten zugewartet, ohne dass der Beschwerdeführer noch einmal das Wort ergriffen habe.
Stimmen auch die beiden Berichte nicht in allen Teilen überein, so geht doch daraus hervor, dass der Beschwerdeführer vom Vorsitzenden aufgefordert wurde, zum Verhandlungsgegenstand zu kommen, was pflichtgemässer Verhandlungsleitung entsprach. Das war ein Rat, der dem Beschwerdeführer helfen konnte, sich wirksam zu verteidigen. Vor allem stimmen Protokoll und Vernehmlassung darin überein, dass der Beschwerdeführer nun auf weitere Ausführungen verzichtete und die ihm zur Verfügung stehende Redezeit nicht ausnützte. An dieser Aussage zu zweifeln, besteht kein Anlass. Bei diesem Sachverhalt ist somit der vom Beschwerdeführer erhobene Vorwurf, an der Gerichtsverhandlung sei ihm das rechtliche Gehör durch Unterbrechung der mündlichen Ausführungen und durch Beschränkung der Redezeit verweigert worden, unbegründet.

3. e) Art. 4 BV gewährleistet dem Bürger ein Mindestmass von Rechtsschutz. Insbesondere hat der mittellose Angeklagte Anspruch auf den Beistand eines Pflichtverteidigers, wenn eine hinreichende Verteidigung dies erfordert (BGE 100 Ia 186 E. 4) oder, wie die Europäische Menschenrechtskonvention sich ausdrückt (Art. 6 Ziff. 3 lit. c): "lorsque les intérêts de la justice l'exigent". Ob der Beizug eines amtlichen Verteidigers erforderlich ist, hängt weitgehend von den Umständen des Einzelfalles ab. Die im Strafprozess geltende Wahrheitserforschung von Amtes wegen entlastet zwar den Beschuldigten, schliesst aber die Notwendigkeit, einen Verteidiger beizuziehen, nicht ohne weiteres aus. Dagegen kann ein rechtskundiger gesetzlicher Vertreter, dem nach den Umständen die Übernahme der Verteidigung zugemutet werden kann und der als Verteidiger zugelassen ist, eine amtliche Verteidigung entbehrlich machen (BGE 89 I 3 ff., BGE 100 Ia 188). Längere Haft kann die Verteidigung wesentlich erschweren. Die Schwierigkeiten, welche der Fall vor der betreffenden Instanz in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bietet, sind an den Fähigkeiten, den prozessualen Erfahrungen
BGE 101 Ia 88 S. 92
des Beschuldigten und den Veranstaltungen (Beweiserhebungen usw.) zu messen, welche eine Verteidigung erfordern (BGE 68 IV 15 E. 5, BGE 100 Ia 186). Je schwerer die Sanktion ist, welche der Angeklagte gewärtigen muss, umso eher ist die amtliche Verteidigung zu bewilligen (vgl. auch BGE 63 I 209 ff., BGE 100 Ia 187).
Im vorliegenden Falle war der Beschwerdeführer wegen zahlreicher Diebstähle angeschuldigt, die er - wenigstens zum grössten Teil - noch vor Obergericht bestritten hat. Die bezüglichen Akten füllen 15 Dossiers. Nicht jegliche Bestreitung war aussichtslos, hat ihn doch die erste Instanz in 13, das Obergericht in 2 weitern Anklagepunkten freigesprochen. Hinzu kommen Rechtsfragen, die ein Laie nicht ohne weiteres richtig darlegen kann, so diejenige der besonderen Gefährlichkeit des Täters im Sinne des Art. 137 Ziff. 2 StGB und der Umfang der anzurechnenden Untersuchungshaft. Überdies hatte sich der Generalprokurator der Appellation angeschlossen, sodass der Beschwerdeführer mit einer Erhöhung der dreijährigen Zuchthausstrafe und mit einer Kürzung der anzurechnenden Untersuchungshaft ernsthaft rechnen musste, wie das angefochtene Urteil auch beweist. Dieser Verteidigung war der Beschwerdeführer aber keineswegs gewachsen. Sein Auftreten vor Obergericht hat dies ebenso gezeigt wie seine verschiedenen Eingaben und Schreiben an das Bundesgericht, welche den Präsidenten des Kassationshofes veranlassten, die Beschwerde zur Verbesserung zurückzuweisen.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3

Referenzen

BGE: 100 IA 186, 89 I 3, 100 IA 188, 100 IA 187

Artikel: Art. 4 BV, Art. 137 Ziff. 2 StGB