101 Ia 281
Urteilskopf
101 Ia 281
46. Auszug aus dem Urteil vom 24. September 1975 i.S. Willener gegen Begnadigungskommission des Grossen Rates des Kantons Basel-Stadt und Justizdepartement des Kantons Luzern.
Regeste
Art. 84 Abs. 1 lit. d OG; interkantonale Zuständigkeit zur Begnadigung.
1. Unter der "Begnadigungsbehörde des Kantons" im Sinne von Art. 394 lit. b StGB ist die Behörde desjenigen Kantons zu verstehen, dessen Richter die durch Begnadigung zu erlassende Strafe durch rechtskräftiges Urteil auferlegt hat (E. 3a).
2. Auch im Falle des Widerrufs des bedingten Strafvollzuges gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB steht die Begnadigungskompetenz der Behörde desjenigen Kantons zu, in welchem die bedingt aufgeschobene Strafe ausgesprochen wurde (E. 3b u. c).
Beat Willener wurde vom Strafgericht Basel-Stadt am 18. September 1970 wegen wiederholter und fortgesetzter Widerhandlung gegen das BG über die Betäubungsmittel zu 7 Monaten Gefängnis und am 29. September 1971 vom Polizeigericht Basel-Stadt wegen des gleichen Vergehens zu 7 Tagen Gefängnis verurteilt. Der Vollzug beider Strafen wurde bedingt aufgeschoben.
Mit Urteil vom 15. Februar 1974 fällte das Obergericht des Kantons Luzern gegen Willener erneut wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz eine Gefängnisstrafe von 5 Monaten aus. Für diese Strafe gewährte es ihm den bedingten Strafvollzug, ordnete aber den Vollzug der beiden im Kanton Basel-Stadt ausgesprochenen Gefängnisstrafen an.
Am 14. Juni 1974 reichte Willener im Kanton Basel-Stadt ein Begnadigungsgesuch ein, auf welches die Begnadigungskommission des Grossen Rates nicht eintrat mit der Begründung, es sei der Kanton Luzern zuständig, dessen Obergericht gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB den Vollzug der im Kanton Basel-Stadt ausgesprochenen Strafen angeordnet habe. Willener wandte sich daraufhin an das Justizdepartement des Kantons Luzern, das unter Berufung auf Art. 394 lit. b StGB und eine Auskunft der Bundesanwaltschaft vom 18. Dezember 1974 die Behandlung des Begnadigungsgesuchs mangels Zuständigkeit ebenfalls ablehnte.
Mit Beschwerde vom 22. April 1975, die als staats-, eventuell verwaltungsrechtliche bezeichnet wird und sich gegen die Kantone Basel-Stadt und Luzern richtet, ersucht Beat Willener das Bundesgericht um Feststellung, welcher der beiden Kantone zur Behandlung des Begnadigungsgesuchs verpflichtet sei, und dementsprechend um Anweisung des betreffenden Kantons, das Begnadigungsgesuch materiell zu behandeln.
BGE 101 Ia 281 S. 283
Aus den Erwägungen:
3. Es ist zu prüfen, welchem Kanton im Falle des Widerrufs des bedingten Strafvollzuges nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB das Begnadigungsrecht zusteht, ob dem Kanton, der das Haupturteil gefällt hat (Basel-Stadt), oder demjenigen, dessen Richter im Zusammenhang mit der Beurteilung einer neuen Tat den bedingten Strafvollzug widerrufen hat (Luzern).
a) Gemäss Art. 394 lit. b StGB wird das Recht der Begnadigung "in den Fällen, in denen eine kantonale Behörde geurteilt hat, durch die Begnadigungsbehörde des Kantons" ausgeübt. An sich und insbesondere in Verbindung mit Art. 396 StGB kann damit nur der Kanton gemeint sein, der die durch Begnadigung zu erlassende Strafe durch rechtskräftiges Urteil "auferlegt" hat. Dieses Urteil ist aber das Haupturteil, nicht der Widerrufsentscheid, der lediglich den Vollzug der durch Haupturteil ausgesprochenen Strafe anordnet. Das haben die Bundesbehörden in einem Fall angenommen, wo die kantonalen Behörden eine von den Bundesbehörden ausgefällte Busse nach Art. 49 Ziff. 3 StGB in Haft und damit die ursprüngliche Strafe in eine andere umgewandelt haben (BBl 1942 S. 382 Antrag 2; VEB 18/1947 Nr. 13 S. 29 f.; zustimmend SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Nr. 442a Ziff. 5 S. 248). Dass unter dem "rechtskräftigen Urteil" im Sinne von Art. 396 StGB das Haupturteil gemeint sein muss, folgt auch aus dem zwischen den Kantonen bestehenden Verhältnis, wonach kein Kanton in die Strafe eingreifen kann, die ein anderer rechtskräftig ausgesprochen hat. Hierzu bedürfte es einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift oder beim Schweigen des Gesetzes zumindest zwingender Gründe. Solche bestehen jedoch nicht.
b) Wohl hat der Gesetzgeber anlässlich der Revision vom 18. März 1971 angeordnet, dass derjenige Richter, der ein während der Probezeit begangenes Verbrechen oder Vergehen zu beurteilen hat, auch über den Vollzug einer früher bedingt aufgeschobenen Strafe entscheidet. Es bestehen indes keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber damit die bisherige interkantonale Kompetenzordnung hinsichtlich nachträglicher Entscheidungen grundsätzlich in Frage stellen wollte. Aus dem Spezialfall des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB können
BGE 101 Ia 281 S. 284
keine weitergehenden Folgerungen, auch nicht bezüglich der Begnadigungskompetenz, gezogen werden.Zwar würde es eine Vereinfachung bedeuten, wenn im Falle eines auswärts erfolgten Widerrufs des bedingten Strafvollzugs der Verurteilte am gleichen Ort die Begnadigung für alle, möglicherweise in verschiedenen Kantonen ausgesprochenen Strafen, die neue Strafe eingeschlossen, verlangen könnte. Dieses Ziel liesse sich aber auch mit der vom Kanton Basel-Stadt vorgeschlagenen Lösung nicht vollständig erreichen. Die Zuständigkeit der Begnadigungsbehörden verschiedener Kantone bliebe in vielen Fällen gleichwohl bestehen, so bei Strafen, die in verschiedenen Kantonen unbedingt ausgesprochen oder bei Strafen für Taten, welche nicht während der Probezeit verübt worden sind. Hinzu kommt, dass es mehr oder weniger von Zufälligkeiten abhinge, bei welcher Begnadigungsbehörde die Gesuche vereinigt würden. Bleibt es hingegen bei der Zuständigkeit des Kantons, der das Haupturteil gefällt hat, so ist es in der Regel der Kanton, wo der Täter die betreffende Tat oder wenigstens eine mit der Strafe zusammenhängende Tat verübt hat. Zwischen dem Gemeinwesen, dessen Ordnung durch die Tat gestört wurde, und dem Gemeinwesen, das die Strafe erlassen soll, ist damit ein sachlicher Zusammenhang gewahrt.
c) Die vom Kanton Basel-Stadt vorgeschlagene Zuständigkeitsordnung hätte sodann eine Verschiebung der Begnadigungskompetenz zwischen der Bundesversammlung und den kantonalen Begnadigungsbehörden zur Folge, könnte doch unter Umständen eine kantonale Behörde eine durch das Bundesstrafgericht bedingt ausgesprochene Strafe erlassen und umgekehrt. Das stünde im Widerspruch zu Art. 394 StGB, wonach sich die Begnadigungskompetenz nach der Gerichtsbarkeit richtet; diese orientiert sich weitgehend nach der bundesstaatlichen Aufgabenverteilung. Die Bundesgerichtsbarkeit ist vorwiegend für Delikte vorgesehen, die in Rechtsgüter eingreifen, deren Wahrung dem Bund übertragen ist (vgl. Art. 340 StGB). Es entspricht einer sinnvollen Aufgabenausscheidung, wenn allein die Bundesbehörden darüber befinden können, ob in solchen Fällen ohne Schaden für die Interessen des Bundes Gnade vor Recht ergehen kann. Diese Ausscheidung ist denn auch im Verhältnis zur militärischen Gerichtsbarkeit gewahrt (BGE 98 Ia 222 E. 2, 3).
BGE 101 Ia 281 S. 285
Würde man entsprechend der Auffassung des Kantons Basel-Stadt annehmen, die Behörde des Widerrufskantons sei zur Begnadigung zuständig, so könnte diese Behörde eine Strafe aufheben, die das Gericht eines andern Kantons ausgesprochen hat. Damit würde dem Widerrufskanton eine Kompetenz übertragen, die weiter ginge als die Widerrufskompetenz. Die Übertragung der Widerrufskompetenz gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB erfolgte aus der Überlegung, dass der spätere Richter, der sich vor Ausfällung seines Urteils ohnehin mit der Persönlichkeit des Angeklagten zu befassen hat, besser als der frühere Richter in der Lage ist, darüber zu entscheiden, ob der bedingte Strafvollzug zu widerrufen oder ob die Strafe allenfalls durch andere, in Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB vorgesehene Massnahmen zu ersetzen sei (BGE 98 Ia 222 E. 2). Diesem Motiv käme im Begnadigungsverfahren nur dann eine Bedeutung zu, wenn der spätere Richter mit der Begnadigungsbehörde identisch wäre, was natürlich nicht der Fall ist. Muss aber die Begnadigungsbehörde für ihren Entscheid ohnehin Gerichtsakten beiziehen oder beim Richter zusätzliche Berichte einholen, so spielt es keine Rolle, ob sie hiefür einen Richter des eigenen oder eines andern Kantons angehe. Es sprechen somit gewichtige Gründe dafür, die Begnadigungskompetenz auch im Falle des Widerrufs des bedingten Strafvollzuges gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB bei der Behörde desjenigen Kantons zu belassen, in welchem die bedingt aufgeschobene Strafe ausgesprochen wurde.
Ist demnach unter der "Begnadigungsbehörde des Kantons" im Sinne von Art. 394 lit. b StGB die Behörde desjenigen Kantons zu verstehen, dessen Richter die durch Begnadigung zu erlassende Strafe durch rechtskräftiges Urteil auferlegt hat, so verletzte der Kanton Basel-Stadt den bundesrechtlichen Anspruch des Beschwerdeführers auf Behandlung seines Begnadigungsgesuchs, wenn er darauf nicht eintrat. Die Beschwerde ist daher gegenüber dem Kanton Basel-Stadt gutzuheissen und dieser zur Behandlung des vom Beschwerdeführer gestellten Begnadigungsgesuchs zuständig zu erklären.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen den Kanton Basel-Stadt richtet, gutgeheissen und der Kanton Basel-Stadt als zuständig erklärt, über das Begnadigungsgesuch zu befinden.