BGE 102 Ia 188 |
30. Urteil vom 30. Juni 1976 i.S. Bernasconi gegen Ewald und Bezirksgericht St. Gallen. |
Regeste |
Art. 59 BV; staatsrechtliche Beschwerde. |
Sachverhalt |
Manfred Ewald-Fröscher reichte gegen Marcel Bernasconi beim Bezirksgericht St. Gallen eine Klage ein, mit der er die Bezahlung von Fr. 48'000.-- zuzüglich Zinsen verlangte. Die Klage wurde dem Beklagten am 16. Dezember 1975 zugestellt unter Ansetzung einer zwanzigtägigen Frist zur Einreichung einer Antwort. |
Der beklagte Marcel Bernasconi führt hiegegen am 9. Januar 1976 staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die Verfügung des Bezirksgerichtes St. Gallen vom 16. Dezember 1975 aufzuheben. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 59 BV. Er macht geltend, die Klageforderung betreffe eine angebliche Zinsverpflichtung aus einem Kaufvertrag über zwei Liegenschaften in St. Gallen, welche er zusammen mit einem Dritten, der ebenso wie er selber in Olten wohnhaft sei, als Privatperson vom Kläger erworben habe. Für diese Forderung könne er gemäss Art. 59 BV nur vor den Gerichten seines Wohnsitzkantons (Solothurn) belangt werden. Wohl betreibe er in St. Gallen eine Zweigniederlassung seiner Firma "Bernasconi-Tapeten", doch stehe die Klageforderung, entgegen der Auffassung des Klägers, mit der Tätigkeit dieser Filiale in keinem Zusammenhang.
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Das Bezirksgericht St. Gallen hat auf Gegenbemerkungen verzichtet; der Kläger beantragt Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
Auf die vorliegende Beschwerde, welche bereits gegen die Aufforderung des erstinstanzlichen Gerichtes zur Klagebeantwortung eingereicht wurde, wäre danach einzutreten.
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2. Wiewohl die dargelegte Rechtsprechung einer langjährigen, unangefochtenen Praxis entspricht, drängt sich doch die Frage auf, ob es sinnvoll ist, dass das Bundesgericht schon angerufen werden kann, bevor der in Anspruch genommene kantonale Richter überhaupt Gelegenheit erhalten hat, sich über seine Zuständigkeit unter dem Gesichtswinkel des Art. 59 BV schlüssig zu werden und auszusprechen. Vorab ist zu erwähnen, dass in der Praxis eine staatsrechtliche Beschwerde meist erst dann erhoben wird, nachdem wenigstens ein erstinstanzlicher Zuständigkeitsentscheid ergangen ist. Nur in verhältnismässig wenigen Fällen wird von der durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung eröffneten Möglichkeit, schon gegen die Vorladung vor Gericht oder die Zustellung der Klage staatsrechtliche Beschwerde zu führen, Gebrauch gemacht. Befremdlich ist in diesen Fällen der Umstand, dass sich die Beschwerde gegen eine Handlung richtet, die vom kantonalen Prozessrecht her gesehen nicht nur rechtmässig, sondern sogar unausweichlich ist: Der kantonale Richter muss ja zumindest dem Beklagten Gelegenheit geben, sich auf das Verfahren einzulassen. Zudem ist nach feststehender Praxis der angerufene Richter zuständig, über die Gültigkeit einer behaupteten Prorogation zu entscheiden (BGE VI S. 10 E. 2, 24 I 60 f., 26 I 184 E. 2; BURCKHARDT, Komm. BV, 3.A. S. 562; GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, S. 74). Wieso das Bundesgericht den Entscheid über die örtliche Zuständigkeit auf Verlangen der beklagten Partei dem kantonalen Richter völlig aus der Hand nehmen kann, leuchtet nicht ohne weiteres ein. Es ist daher zu prüfen, ob die erwähnte Praxis auf stichhaltigen Überlegungen beruht. |
Was den Zeitpunkt der Beschwerdeführung bzw. die Wahl des Anfechtungsobjektes anbelangt, erachtete es das Bundesgericht seit jeher als zulässig, bereits die Ladung vor Gericht oder die Zustellung der Klage zur Beantwortung mittels staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten (BGE I S. 164 ff., 169 ff.; V S. 22 ff.; VI S. 368 ff.; VIII S. 422 ff.; IX S. 30 ff.). In den einschlägigen ersten Urteilen wurde dies jedoch nicht näher begründet. Bereits in BGE XII S. 55 beruft sich das Bundesgericht auf eine konstante Praxis, nach der auch gegen eine blosse Ladung der Rekurs an die Bundesbehörden zulässig sei, sofern der Geladene die bundesrechtliche Kompetenz des ladenden Gerichtes bestreite: "Diesem, namentlich aus praktischen Gründen angenommenen, Satz gemäss ist der Rekurs gegen die Provokationsladung ... statthaft, obschon ja allerdings nicht zu verkennen ist, dass der Gerichtspräsident von Bern dieselbe nach der bernischen Gesetzgebung ohne weitere Prüfung zu bewilligen hatte." - Das Bundesgericht hat somit die etwas schiefe Situation, in welche der kantonale Richter durch diese Praxis gerät, nicht verkannt, aber angenommen, dass hierüber aus praktischen Gründen hinwegzusehen sei. Welches diese praktischen Gründe seien, wird indessen nicht dargelegt. Auch in den zahlreichen weiteren Entscheiden, mit welchen das Bundesgericht diese Rechtsprechung bestätigt hat, sucht man vergeblich nach einer Begründung (vgl. BGE XVII S. 374; BGE 26 I 184, 298; BGE 28 I 334; BGE 29 I 303; 31 I 310; BGE 33 I 737; BGE 35 I 363; BGE 51 I 49, 337; BGE 52 I 133; BGE 66 I 232). In BGE 68 I 150 führte das Bundesgericht aus, die Garantie des Art. 59 BV müsse ihrem Zweck nach vom Beklagten "sofort und ohne Weiterungen" angerufen werden können, wenn er sich dazu berechtigt glaube (E. 1). "Daraus folgt, dass sich die Garantie des Art. 59 BV nicht nur auf den Forderungsprozess im engeren Sinne, sondern auch und in erster Linie auf alle Verhandlungen über verfahrensrechtliche Vorfragen erstrecken muss. Die Garantie hätte keinen Sinn, wenn sich der Beklagte nicht schlechtweg von Anfang an, also auch schon bei Einleitung des Prozesses darauf berufen könnte. Er soll überhaupt nicht gezwungen werden können, sich auf ein Verfahren vor einem andern als dem Wohnsitzrichter einzulassen, solange er nicht auf die Garantie des Art. 59 BV verzichtet hat. Darum ist die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 59 BV von jeher gegenüber jeder Amtshandlung eines Richters zugelassen worden, dessen Zuständigkeit vom Beklagten bestritten wird..." (BGE 68 I 150 f. E. 2). |
Die seither ergangenen einschlägigen Urteile (BGE 87 I 55, 129; BGE 91 I 13; BGE 92 I 38, BGE 94 I 49) enthalten keine neuen Argumente. In BGE 92 I 38 wird darauf hingewiesen, der angefochtenen Fristansetzung zur Klagebeantwortung habe, wie der Gerichtspräsident selber ausführe, "stillschweigend" die Bejahung der örtlichen Zuständigkeit zugrundegelegen. Dies trifft freilich in der Regel nicht zu und wird vom Bundesgericht auch nicht als Voraussetzung des Eintretens betrachtet.
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b) Der bisherigen Praxis liegt der richtige Gedanke zugrunde, dass es dem Beklagten nicht zuzumuten sei, sich in ein Verfahren vor einem Richter einzulassen, der nach Art. 59 BV unzuständig ist. Dass sich der Beklagte nicht einzulassen braucht, heisst aber nicht, dass schon die Vorladung zur Verhandlung oder die Aufforderung zur schriftlichen Klagebeantwortung eine Verletzung von Art. 59 BV darstellt. Eine Verletzung liegt vielmehr erst dann vor, wenn dem Beklagten aus der berechtigten Weigerung, sich vor dem auswärtigen Richter einzulassen, ein prozessualer Nachteil erwächst. Der Gerichtsstandsgarantie ist daher Genüge getan, wenn der kantonale Richter auf eine entsprechende Einwendung des Beklagten hin noch vor dem materiellen Eintreten auf die Klage durch einen Zwischenentscheid über seine örtliche Zuständigkeit befindet. Mit Recht hat das Bundesgericht in BGE 31 I 308 ff. eine Beschwerde gegen einen kantonalen Entscheid gutgeheissen, mit welchem die Inkompetenzeinrede als nicht liquid ins "einlässliche" Verfahren verwiesen worden ist: Der Beklagte kann nicht verhalten werden, zur Sache selbst zu verhandeln, solange nicht rechtskräftig über die behauptete Verletzung der verfassungsmässigen Gerichtsstandsgarantie befunden ist. Hingegen entsteht dem Beklagten kein Nachteil, wenn der Eintretensentscheid des angerufenen Richters abgewartet werden muss, bevor er sich an das Bundesgericht wenden kann. |
Ob eine Verletzung von Art. 59 BV vorliegt, lässt sich allein aufgrund der Klage vielfach gar nicht beurteilen. Zunächst ist zu erwähnen, dass Art. 59 BV keine zwingende, beide Parteien bindende bundesrechtliche Gerichtsstandsnorm enthält. Es handelt sich vielmehr um ein verfassungsmässiges Individualrecht zugunsten des Schuldners, auf dessen Schutz dieser u.a. durch vorbehaltlose Einlassung auf den Prozess verzichten kann (BGE 87 I 58 E. 4, BGE 67 I 108 mit Hinweisen). Aber auch hievon abgesehen, kann der Richter die Frage, ob Art. 59 BV zum Zuge kommt, häufig erst nach Vorliegen der Stellungnahme des Beklagten schlüssig beantworten: Wird in der Klage der Wohnsitz des Beklagten als im Kanton liegend angegeben, so muss der Beklagte behaupten und dartun, dass er seinen Wohnsitz in einen andern Kanton verlegt hat. Beruft sich der Kläger auf eine Gerichtsstandsklausel, so muss der Beklagte behaupten, er habe sie übersehen und nicht gültig auf seinen Wohnsitzrichter verzichtet. Selbst wenn die Klausel nicht den Erfordernissen der bundesgerichtlichen Praxis entspricht, so ist dies kein Formmangel, der auch dann ihre Ungültigkeit zur Folge hätte, wenn sie vom Beklagten tatsächlich gelesen und akzeptiert worden ist (BGE 87 I 52). Der Beklagte muss somit in vielen Fällen selber aktiv werden, tatsächliche Behauptungen vorbringen und diese unter Beweis stellen, um die Verfassungsgarantie des Art. 59 BV wirksam werden zu lassen. Es ist nicht einzusehen, weshalb es ihm nicht zugemutet werden darf, seine Einwendungen vorerst gegenüber dem angerufenen Richter zu erheben, bevor er sich gegebenenfalls mit einer staatsrechtlichen Beschwerde an das Bundesgericht wendet. Richtigerweise kann von einer Verletzung der Gerichtsstandsgarantie erst dann gesprochen werden, wenn der angerufene Richter seine Zuständigkeit zu Unrecht bejaht hat, oder aber wenn er den Beklagten zwingen will, sich materiell zur Klage zu äussern, bevor über die Zuständigkeit unter dem Gesichtswinkel von Art. 59 BV entschieden ist. Der Beklagte hat andererseits, unabhängig von der Ausgestaltung des kantonalen Prozessrechtes, einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass seine auf Art. 59 BV gestützte Unzuständigkeitseinrede vom angerufenen Richter vorweg gesondert geprüft und entschieden wird, und dass er sich vor dem Entscheid über diese Vorfrage - den er gegebenenfalls mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechten kann - materiell zur Klage nicht zu äussern braucht. Der Beklagte ist nicht gehalten, seine auf Art. 59 BV gegründete Unzuständigkeitseinrede in dem nach dem kantonalen Prozessrecht für Kompetenzstreitigkeiten allenfalls vorgesehenen besonderen Verfahren zu verfechten (vgl. BGE 34 I 267 f., XI S. 429 E. 1, IX S. 147 f.). Es genügt, wenn er nach Erhalt der Vorladung oder nach Zustellung der Klage dem angerufenen Gericht eine schriftliche Erklärung zukommen lässt, mit der er dessen örtliche Zuständigkeit gestützt auf Art. 59 BV bestreitet. Der Richter ist alsdann von Verfassungs wegen verpflichtet, über diese Einrede Zu entscheiden, bevor er das Verfahren zur Sache fortsetzt. Erst wenn der angerufene Richter die Einrede verworfen und seine Zuständigkeit bejaht hat (oder einen gesonderten Entscheid über diese Vorfrage ablehnt), kann der Beklagte wegen Verletzung von Art. 59 BV staatsrechtliche Beschwerde führen. In diesem Sinne ist die bisherige Rechtsprechung zu ändern. |
Für den Beklagten ergibt sich hieraus kein Nachteil. Da eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 59 BV keine Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges voraussetzt (Art. 86 Abs. 2 OG), kann er im Verfahren vor Bundesgericht gegebenenfalls auch neue tatsächliche und rechtliche Einwände vorbringen; er ist an die Ausführungen, mit denen er die Unzuständigkeitseinrede vor dem kantonalen Richter begründet hat, nicht gebunden (BGE 99 Ia 86 E. 3b, BGE 87 I 51 E. 2). - Selbstverständlich kann der Beklagte, sofern er nicht durch vorbehaltlose Einlassung auf den Prozess auf die Gerichtsstandsgarantie verzichtet hat, eine Verletzung von Art. 59 BV auch erst im Anschluss an die Ausfällung des Sachurteils rügen (BGE 93 I 29 ff., 85 I 148 ff., BGE 81 I 219 ff.), allenfalls sogar noch im Stadium der Vollstreckung (BGE 87 I 129, 50 f.; BGE 69 I 85 ff.), und es steht ihm in jedem Falle auch frei, vor Anrufung des Bundesgerichtes von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch zu machen (Art. 86 Abs. 3 OG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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