BGE 102 Ia 363
 
52. Auszug aus dem Urteil vom 7. Dezember 1976 i.S. Burkhalter gegen Erismann und Appellationshof des Kantons Bern
 
Regeste
Art. 4 BV, Art. 85 SchKG; Verlustschein als Beweismittel für den Bestand einer Forderung, welche der Betreibungsforderung zur Verrechnung gegenübergestellt wird?
 
Sachverhalt


BGE 102 Ia 363 (363):

In der Betreibung Nr. 4435 des Betreibungsamtes Bern (Gläubiger: Jules Brand, später an dessen Stelle der Zessionar Hermann Burkhalter; Schuldnerin: Frau Gertrud Erismann) erging am 27. Februar 1976 die Pfändungsankündigung für den Betrag von Fr. 3'560.20. Die Pfändung wurde einstweilen nicht vollzogen, weil Frau Erismann wegen Krankheit Rechtsstillstand bewilligt worden war. Am 17. Mai 1976 stellte diese beim Gerichtspräsidenten IV von Bern ein Gesuch um Aufhebung

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der Betreibung. Sie machte geltend, die Betreibungsforderung sei durch Verrechnung getilgt. Als Beweismittel hiefür legte sie einen Pfändungsverlustschein gegen Jules Brand über den Betrag von Fr. 4'643.70 vor, der am 27. April 1965 zugunsten der Firma Edilcentro S.A. in Giubiasco ausgestellt wurde und auf der Rückseite eine vom 3. Mai 1976 datierte Zessionserklärung an Frau Erismann aufweist. Der Gerichtspräsident IV von Bern entsprach dem Begehren und hob mit Entscheid vom 24. Juni 1976 die Betreibung auf.
Burkhalter erklärte gegen diesen Entscheid Appellation. Die I. Zivilkammer des Appellationshofes des Kantons Bern bestätigte am 23. Juli 1976 den Entscheid des Gerichtspräsidenten. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, auf Grund des vorgelegten Verlustscheines gegenüber Brand sei der Bestand der Gegenforderung, die Frau Erismann zur Verrechnung stelle, erwiesen.
Burkhalter führt gegen den Entscheid des Appellationshofes staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
a) Das Bundesgericht hat in BGE 69 III 91 ff. in Abweichung von der früher herrschenden Praxis festgestellt, der Pfändungsverlustschein sei nichts anderes als eine amtliche Bescheinigung darüber, dass in einer Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner keine oder keine vollständige Deckung der Forderung habe erzielt werden können. Der Schuldner gebe bei dessen Ausstellung keine auf das materielle Rechtsverhältnis bezügliche Willenserklärung ab. Der Verlustschein bewirke daher keine Neuerung im Sinne von Art. 116 OR und schaffe auch keinen Schuldgrund, der neben dem ursprünglichen als selbständiger Klagegrund angerufen werden könnte. Weitere Wirkungen könne der Verlustschein nur kraft positiver gesetzlicher Vorschriften haben. Diese erschöpften sich jedoch, wenn man von den betreibungsrechtlichen Folgen absehe,

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darin, dass die Forderung unverjährbar und unverzinslich werde. Zwar bezeichne Art. 149 Abs. 2 SchKG den Verlustschein auch als Schuldanerkennung, jedoch mit der ausdrücklichen Einschränkung "im Sinne von Art. 82", d.h. nur als Titel für die Erlangung provisorischer Rechtsöffnung. Eine erhöhte Beweiskraft ausserhalb des Rechtsöffnungsverfahrens werde ihm durch das Gesetz nicht verliehen. Damit sei allerdings nicht gesagt, dass der Pfändungsverlustschein überhaupt keine Beweiskraft besitze. Er verurkunde, dass der Schuldner in einer früheren Betreibung keinen Rechtsvorschlag erhoben habe oder dass dieser durch Rechtsöffnung oder Urteil beseitigt worden sei. In diesem Sinne sei der Verlustschein zwar kein direkter Beweis, wohl aber ein Indiz für den Bestand der Forderung, dem der Richter dann entscheidende Bedeutung beimessen werde, wenn sich der Gläubiger infolge Ablaufs langer Zeit oder aus ähnlichen Gründen in die Unmöglichkeit versetzt sehe, von anderen Beweismitteln Gebrauch zu machen. In solchen Fällen habe der Schuldner, der keinen Rechtsvorschlag erhoben oder keine Aberkennungsklage angestrengt habe, selbst die Folgen dessen zu tragen, dass er nicht rechtzeitig einen gerichtlichen Entscheid über die streitige Forderung erwirkt habe. Im konkreten Falle - es handelte sich um einen Aberkennungsprozess - wurde der Verlustschein nicht berücksichtigt, weil der Schuldner seiner Behauptungspflicht nicht nachgekommen sei, indem er erklärt habe, über die Entstehung der Forderung überhaupt nichts zu wissen; zudem seien aus dem Verlustschein nicht einmal der Forderungstitel und das Datum jener Forderung ersichtlich. Dem Gläubiger, der sich auf einen Verlustschein stütze, müsse zugemutet werden, seine Forderung so zu substantiieren, dass der Schuldner erfahre, aus welchem konkreten Sachverhalt sie hergeleitet werde.
Dass der Verlustschein keine Neuerung der ihm zugrundeliegenden Forderung bewirke, wurde bestätigt in BGE 81 III 23, BGE 86 III 80 und neuestens in BGE 98 Ia 355 f., E. 2. Im letztgenannten Falle hatte ein Schuldner im Verfahren betreffend definitive Rechtsöffnung im Sinne von Art. 81 SchKG durch Vorlegung eines Verlustscheines gegen die Gläubigerin die Tilgung der Schuld durch Verrechnung darzutun versucht. Das Bundesgericht erklärte dies unter Wiederholung der Erwägungen von BGE 69 III 91 ff. für unzulässig, wobei es

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zusätzlich bemerkte, es liege nichts dafür vor, dass die Schuld, für die der Verlustschein ausgestellt worden sei, nicht durch andere Beweismittel hätte dargetan werden können; zudem bestünden Zweifel daran, ob der Verlustschein gesetzmässig erwirkt worden sei.
b) Weder der Appellationshof noch die Beschwerdegegnerin greifen die dargestellte Praxis des Bundesgerichtes an, und es besteht auch kein Anlass, sie von Amtes wegen in Frage zu stellen. Es geht somit lediglich darum, ob im vorliegenden Falle trotzdem auf den Verlustschein als einziges Beweismittel für den Bestand der zur Verrechnung gestellten Forderung habe abgestellt werden dürfen. Dies war zweifellos nicht deshalb zulässig, weil es sich hier um ein Verfahren betreffend Aufhebung einer Betreibung im Sinne von Art. 85 SchKG handelt, während die angeführten Urteile entweder Aberkennungsprozesse oder Verfahren über definitive Rechtsöffnung betrafen. Der Aberkennungsprozess ist ein ordentlicher Zivilprozess, in dem die Möglichkeiten zur Beweisführung bundesrechtlich in keiner Weise beschränkt sind. Dagegen lässt sich die Stellung des Schuldners im Verfahren betreffend definitive Rechtsöffnung (Art. 81 SchKG) durchaus mit derjenigen im Verfahren betreffend Aufhebung einer Betreibung (Art. 85 SchKG) vergleichen. In beiden Fällen spricht eine Vermutung für den Bestand der Forderung, im Falle von Art. 81 deshalb, weil der Gläubiger ihn durch vollstreckbare gerichtliche Urteile oder eine als gleichwertig anerkannte Urkunde belegt hat, im Falle von Art. 85 entweder aus dem nämlichen Grunde oder deshalb, weil der Schuldner es unterlassen hat, Rechtsvorschlag zu erheben. Auch die Formulierung des Gesetzes ("... durch Urkunden beweist") ist identisch. Es liesse sich daher nicht vertreten, an die Beweisführung des Schuldners für die Tilgung der Forderung im einen Falle geringere Anforderungen zu stellen als im andern. Der Verlustschein kann somit grundsätzlich als Beweismittel im Verfahren gemäss Art. 85 SchKG ebensowenig anerkannt werden wie in demjenigen gemäss Art. 81 SchKG (BGE 98 Ia 355 f., E. 2).
c) Damit kann sich nur noch fragen, ob die kantonalen Instanzen zu Recht annehmen durften, unter aussergewöhnlichen Umständen, so insbesondere bei weit zurückliegenden Ausstellungsdaten, könne ein Verlustschein gleichwohl als Beweismittel für die Tilgung der Schuld anerkannt werden. Die

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Erwägungen des Bundesgerichtes, auf die sich das angefochtene Urteil stützt, finden sich erstmals im vorstehend einlässlich wiedergegebenen BGE 69 III 91 f., der sich auf einen Aberkennungsprozess bezieht. Sie haben dort ihren guten Sinn: es handelt sich um einen ordentlichen Zivilprozess, in dem beide Parteien für den Bestand oder Nichtbestand der Gegenforderung beliebige Beweismittel bezeichnen können und dem Richter das Recht der freien Beweiswürdigung zusteht. In einem solchen Prozess kann sich die Notwendigkeit ergeben, auf Grund der besseren Indizien zu entscheiden, um das Risiko einer materiell rechtskräftig werdenden Fehlentscheidung möglichst einzuschränken. Diese Überlegung lässt sich indessen nicht auf die betreibungsrechtlichen Zwischenverfahren im Sinne der Art. 81 und 85 SchKG übertragen. Einerseits ist hier der Schuldner aus triftigen Gründen von Gesetzes wegen auf den Urkundenbeweis beschränkt, so dass sich die Frage des Beweisnotstandes nicht im nämlichen Sinne stellen kann wie im ordentlichen Prozess; andererseits ergeht der richterliche Entscheid in diesen Verfahren nicht mit materieller Rechtskraft, sondern nur mit Wirkung für die betreffende Betreibung, und es steht dem Schuldner bei Unterliegen immer noch die Rückforderungsklage im Sinne von Art. 86 SchKG offen. Diese Überlegungen führen dazu, dass ein Verlustschein aus Pfändung in den erwähnten Verfahren überhaupt nicht als zum Beweis für den Bestand einer Gegenforderung taugliche Urkunde anerkannt werden kann, auch dann nicht, wenn der Schuldner keine andere Möglichkeit hat, diesen Bestand zu beweisen. Es ist dies die Folge einerseits der dargestellten Rechtsnatur des Verlustscheines und andererseits der besonderen Natur der Verfahren gemäss Art. 81 und 85 SchKG, in denen die zugunsten des Gläubigers sprechende Vermutung nur mit völlig eindeutigen Urkunden widerlegt werden kann. Soweit das Bundesgericht in BGE 98 Ia 356 die Erwägungen von BGE 69 III 92 über die Möglichkeit, den Verlustschein ausnahmsweise als Beweismittel anzuerkennen, auch auf das Verfahren gemäss Art. 81 SchKG übertragen hat (allerdings ohne daraus konkrete Schlüsse zu ziehen), kann daran nicht festgehalten werden. Die hier von den kantonalen Instanzen vertretene Lösung, wonach ein Verlustschein dann als ausreichender Urkundenbeweis für die Tilgung einer Betreibungsforderung anerkannt

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werden müsse, wenn dem Schuldner keine Möglichkeit zur Verfügung stehe, den Beweis für das Grundschuldverhältnis zu erbringen, ist übrigens im Ergebnis durchaus unbillig. Sie führt, konsequent zu Ende gedacht, dazu, dass der Schuldner umso bessere Aussichten hat, mit einem Begehren um Aufhebung der Betreibung durchzudringen, je älter der zur Verrechnung gestellte Verlustschein ist und je mehr Personen ihn allenfalls in der Zwischenzeit besessen haben. Das kann nicht der Sinn des Gesetzes sein, umso weniger, als sowohl die absolute Unverjährbarkeit der durch den Verlustschein verurkundeten Forderung als auch der uneingeschränkte Handel mit Verlustscheinforderungen in der Literatur auf Kritik gestossen sind (FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl., Bd. I, S. 320 und 321, Fussnote 473).