BGE 103 Ia 191 |
35. Urteil vom 8. Juni 1977 i.S. Einwohnergemeinde Moosseedorf gegen Grossen Rat des Kantons Bern |
Regeste |
Gemeindeautonomie; Rechtsetzungsbefugnisse der bernischen Gemeinden auf dem Gebiete des Ladenschlusses (Abendverkauf). |
2. Engt der kantonale Gesetzgeber den von ihm einmal festgelegten Umfang der kommunalen Rechtsetzungsbefugnis nachträglich durch Gesetzesänderung ein, so liegt hierin keine Verletzung der Gemeindeautonomie, solange nicht in unmittelbar durch die Verfassung gewährleistete Rechtsetzungsbefugnisse eingegriffen wird (E. 3). |
3. Eine Gemeinde kann im Rahmen einer Autonomiebeschwerde nicht die Verletzung verfassungsmässiger Individualrechte rügen (E. 4a). Hingegen kann sie sich auf gewisse allgemeine Verfassungsgrundsätze berufen (E. 4b). |
Sachverhalt |
Nach Art. 20 des bernischen Gesetzes über Handel, Gewerbe und Industrie vom 4. Mai 1969 (Gewerbegesetz) war die Regelung des Ladenschlusses - und damit auch die Zulassung allfälliger Abendverkäufe - den Gemeinden überlassen. Die Genossenschaft Migros Bern erstellte in der (unweit von Bern gelegenen) Gemeinde Moosseedorf das Einkaufszentrum Shoppyland, das sie seit März 1975 zusammen mit vierzig Mietern betreibt. Der Gemeinderat Moosseedorf hatte seinerzeit im Rahmen einer "Vereinbarung" der Migros die Möglichkeit von vier Abendverkäufen pro Woche zugesichert. Die Stimmbürger von Moosseedorf nahmen in der Folge am 13. Dezember 1974 ein Ladenschlussreglement an, das den Gemeinderat ermächtigte, an bis zu fünf Abenden pro Woche (d.h. ausgenommen an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen) jeweils bis spätestens 21.00 Uhr den Abendverkauf zu bewilligen. Die kantonale Volkswirtschaftsdirektion erteilte dem Reglement am 28. Februar 1975 vorbehaltlos die erforderliche Genehmigung. Gestützt auf dieses Reglement und in Bestätigung der bisherigen, bereits seit Eröffnung des Einkaufszentrums geltenden Regelung bewilligte der Gemeinderat Moosseedorf am 9. Dezember 1975 die Durchführung von vier Abendverkäufen pro Woche (Dienstag bis Freitag, jeweils bis 21.00 Uhr). |
Als Folge einer im Februar 1975 angenommenen Motion beschloss der Grosse Rat des Kantons Bern am 9. September 1976 eine "Ergänzung" des kantonalen Gewerbegesetzes. Nach dem neuen Art. 20a können die Gemeinden den Abendverkauf nur noch an höchstens zwei Tagen pro Woche zulassen. Eine Ausnahme gilt nach Art. 20b für die überwiegend vom Fremdenverkehr abhängigen Gemeinden. Für die Anpassung der kommunalen Reglemente an die veränderte kantonale Gesetzgebung wird eine Frist von einem Jahr seit Inkraftsetzung eingeräumt.
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Der Erlass wurde, unter Hinweis auf die Möglichkeit des fakultativen Referendums, im kantonalen Amtsblatt vom 6. Oktober 1976 publiziert. Nachdem die Referendumsfrist am 7. Januar 1977 unbenützt abgelaufen war, setzte der Regierungsrat mit Beschluss vom 12. Januar 1977 den Erlass auf den 1. Februar 1977 in Kraft und ordnete seine Aufnahme in die Gesetzessammlung an.
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Die Gemeinde Moosseedorf führt im Anschluss an die Publikation der Referendumsvorlage am 28. Oktober 1976 staatsrechtliche Beschwerde mit dem Begehren, die am 9. September 1976 beschlossene Ergänzung des Gewerbegesetzes aufzuheben.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit es darauf eintritt, ab aus folgenden
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Erwägungen: |
1. Die dreissigtägige Frist zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen allgemeinverbindlichen Erlass beginnt, sofern kein kantonales Rechtsmittel mehr offensteht, grundsätzlich mit dessen Veröffentlichung im Amtsblatt zu laufen (BGE 99 Ia 643 mit Hinweisen). Handelt es sich um einen dem fakultativen Referendum unterstehenden Erlass, so beginnt die dreissigtägige Beschwerdefrist, wenn das Referendum nicht ergriffen wird, mit der amtlichen Bekanntmachung, dass der (bereits publizierte) Erlass infolge unbenützten Ablaufs der Referendumsfrist zustandegekommen sei bzw. auf einen bestimmten Termin in Kraft trete (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 382; BGE 66 I 70 ff.; bezüglich Fristbeginn bei Ergreifung des fakultativen Referendums oder bei Anfechtung eines dem obligatorischen Referendum unterstehenden Erlasses vgl. BGE 101 Ia 270, BGE 99 Ia 643, BGE 91 I 83 f. E. 1, sowie GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichtes, S. 194). Der Zeitpunkt, an dem der angefochtene Erlass in Kraft tritt oder vollziehbar wird, ist für die Fristberechnung ohne Bedeutung (BGE 67 I 23; BGE 66 I 70; BIRCHMEIER, a.a.O.; S. 381). |
Die vorliegende, noch während der Dauer der Referendumsfrist eingereichte staatsrechtliche Beschwerde war somit verfrüht. Die dreissigtägige Beschwerdefrist begann nach dem Gesagten mit der Publikation des Regierungsratsbeschlusses vom 12. Januar 1977, mit dem die Inkraftsetzung des Erlasses angeordnet wurde. Die verfrühte Einreichung der Beschwerde schadet jedoch in derartigen Fällen nichts; sie hat lediglich zur Folge, dass das Verfahren bis zum Vorliegen des massgebenden Publikationsaktes sistiert wird (BGE 98 Ia 204; BIRCHMEIER, a.a.O. S. 381/82). Auf die vorliegende Beschwerde ist insoweit einzutreten.
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3. Ob und wieweit eine Gemeinde in einem bestimmten Bereich autonom ist, bestimmt sich nach dem kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht. Die bernische Staatsverfassung vom 4. Juni 1893 (vgl. Art. 63-71) legt die Bereiche, in denen die Gemeinden zur Rechtsetzung befugt sind, nicht selber fest. Es gibt insbesondere keine Verfassungsvorschrift, welche den Gemeinden auf dem Gebiete des Ladenschlusses irgendwelche autonomen Rechtsetzungsbefugnisse garantieren würde. Massgebend sind einzig die einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Gewerbegesetzes. Dieses ermächtigte in seiner bisherigen Fassung die Gemeinden generell zum Erlass von Ladenschlussreglementen (sowie zur Verbindlicherklärung von Ladenschlussordnungen) und eröffnete damit einen Bereich autonomer Rechtsetzung. Der geschützte Autonomiebereich besteht jedoch, da die Verfassung selber hierüber nichts bestimmt, nur innerhalb der vom kantonalen Gesetzgeber gezogenen Schranken. Engt dieser die von ihm einmal gesetzten Schranken nachträglich durch Gesetzesänderung ein, so liegt hierin grundsätzlich keine Verletzung der Gemeindeautonomie, solange nicht irgendwelche unmittelbar durch die Verfassung gewährleistete Rechtsetzungs- oder Selbstverwaltungsbefugnisse berührt werden (BGE 94 I 457 E. 4). Die Frage, ob der Gesetzgeber eine in der Kantonsverfassung an sich vorausgesetzte, dort aber nicht näher umschriebene Gemeindeautonomie beliebig einschränken darf oder ob er sie in einem bestimmten Mindestmass erhalten muss, stellt sich hier nicht, da im zu beurteilenden Fall von einem Eingriff in den Wesenskern der Gemeindeautonomie zum vornherein nicht die Rede sein kann (vgl. dazu ULRICH ZIMMERLI, ZBl 73/1972 S. 263/64). |
a) Dieser Betrachtungsweise ist nicht zu folgen. Wohl ist richtig, dass jeweils dann, wenn streitig ist, ob eine kantonale Instanz von ihren Aufsichts- oder Kontrollbefugnissen einen zulässigen Gebrauch gemacht hat, die Gemeinde im Rahmen einer Autonomiebeschwerde die Stichhaltigkeit der von der Aufsichts- oder Rechtsmittelinstanz ins Feld geführten Argumente bestreiten und dabei gegebenenfalls auch geltend machen kann, die kantonale Behörde verkenne die Tragweite verfassungsmässiger Freiheitsrechte oder sonstiger verfassungsmässiger Grundsätze (BGE 102 Ia 70; BGE 101 Ia 394 ff.; BGE 100 Ia 289 ff.; BGE 99 Ia 66 E. 4 und 5; BGE 97 I 515 f. E. 4a; 96 I 382 ff.). Verweigert beispielsweise eine Kantonsregierung einem kommunalen Friedhofreglement die Genehmigung, weil sie einen Verstoss gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit erblickt, so kann die Gemeinde diesen Eingriff in ihre Rechtsetzungsbefugnisse anfechten mit der Begründung, dass die behauptete Verletzung von Art. 49 BV nicht bestehe (BGE 101 Ia 394 ff.). Hier liegt jedoch kein derartiger Fall vor. Es geht nicht darum, ob eine kantonale Rechtsmittel- oder Aufsichtsbehörde die ihr zustehenden Kontrollbefugnisse in zulässiger Weise ausgeübt hat, sondern die Beschwerde richtet sich gegen ein kantonales Gesetz, das in einem bestimmten Bereich den Umfang der kommunalen Rechtsetzungskompetenzen neu festlegt. In einem solchen Falle kann eine Gemeinde grundsätzlich bloss geltend machen, dass sich die neue gesetzliche Regelung über verfassungsrechtlich garantierte Rechtsetzungs- oder Selbstverwaltungsbefugnisse hinwegsetze. Zur Rüge, dass ein unter diesem organisationsrechtlichen Gesichtspunkt zulässiges Gesetz durch seinen Inhalt verfassungsmässige Individualrechte verletze, ist die Gemeinde nicht legitimiert. Wohl kann der einzelne Bürger nach bundesgerichtlicher Praxis unter bestimmten Voraussetzungen zur Unterstützung seiner individualrechtlichen Verfassungsrügen "vorfrageweise" auch eine Verletzung der Gemeindeautonomie rügen (BGE 100 Ia 428 ff. mit Hinweisen). Hieraus lässt sich aber nicht folgern, dass umgekehrt auch die Gemeinde befugt sein müsse, sich zur Unterstützung der Autonomierüge auf Verfassungsrechte individualrechtlicher Art zu berufen. Ob ein kantonaler Hoheitsakt gegen individualrechtliche Verfassungsgarantien verstösst, prüft das Bundesgericht nur auf Beschwerde eines legitimierten Privaten hin (BGE 97 I 518 f. E. 6). |
Soweit die Gemeinde Moosseedorf ihre Autonomierüge damit begründet, dass die vom kantonalen Gesetzgeber beschlossene Beschränkung des Abendverkaufes gegen die Handels- und Gewerbefreiheit verstosse, ist daher auf die Beschwerde nicht einzutreten.
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b) Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, dass das Vorgehen des Gesetzgebers das Gebot von Treu und Glauben und den Grundsatz der Rechtsgleichheit verletze. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann sich eine Gemeinde im Rahmen einer Autonomiebeschwerde - im Sinne eines Angriffsmittels - zwar nicht auf verfassungsmässige Individualrechte (s. oben), so doch auf gewisse ungeschriebene oder aus Art. 4 BV abgeleitete allgemeine Verfassungsgrundsätze berufen, sofern deren behauptete Verletzung mit dem streitigen Eingriff in die Autonomie in engem Zusammenhang steht (Prinzip der Verhältnismässigkeit: BGE 96 I 242 E. 5; rechtliches Gehör: BGE 98 Ia 431 E. 2, BGE 96 I 239; Rechtsgleichheit: BGE 97 I 511 E. 1 und 519 E. 6; betr. Treu und Glauben vgl. BGE 98 Ia 432 f.; Erfordernis des Zusammenhanges mit der Autonomierüge: BGE 102 Ia 166 E. 5, BGE 97 I 511 E. 1, BGE 94 I 455 f. E. 1b). |
aa) Ob eine Gemeinde gegenüber den Organen des Kantons im gleichen Masse und unter den gleichen Bedingungen Anspruch auf Vertrauensschutz besitzt wie ein Privater, wurde in BGE 98 Ia 432 /33 ausdrücklich offen gelassen. (Dem Urteil BGE 99 Ia 66 ff. lässt sich zu dieser Frage nichts entnehmen; es ging in jenem Fall einzig darum, ob das kantonale Verwaltungsgericht annehmen durfte, dass die Gemeinde nach dem Prinzip von Treu und Glauben gegenüber einem Privaten gebunden sei.) Die erwähnte Frage braucht auch hier nicht weiter erörtert zu werden, da es an einer geeigneten Vertrauensgrundlage, auf die sich die Beschwerdeführerin berufen könnte, zum vornherein fehlt. Es ist klar, dass die vorbehaltlose Genehmigung des fraglichen kommunalen Reglementes durch die kantonale Volkswirtschaftsdirektion den Gesetzgeber nicht zu binden vermag (vgl. BGE 102 Ia 336 ff.). Auch die zwischen der Gemeinde und der Migros getroffenen Abmachungen stehen der angefochtenen Gesetzesänderung unter dem Gesichtswinkel des Vertrauensschutzes nicht entgegen. Die Beteiligten mussten mit der Möglichkeit einer Änderung der kantonalen Gesetzgebung rechnen, umso mehr als die mit dem Gemeinderat vereinbarten Ladenöffnungszeiten eine im Kanton Bern unübliche Sondervergünstigung darstellten. Eine Zusicherung des Gesetzgebers, mit der die neue kantonalrechtliche Regelung in Widerspruch stünde, liegt nicht vor (vgl. BGE 102 Ia 336 f.). Der Einwand der Beschwerdeführerin, dass die angefochtene Gesetzesnovelle Verfügungscharakter besitze, trifft nicht zu. Wohl wurde die Gesetzesänderung durch die besondere Ladenschlussordnung der Gemeinde Moosseedorf veranlasst und ist die Beschwerdeführerin zur Zeit die einzige Gemeinde, die wegen der angefochtenen Vorschriften ihre Ladenschlussordnung ändern muss. Doch handelt es sich bei diesen Vorschriften nichtsdestoweniger um einen allgemeinverbindlichen Erlass, der sich an alle bernischen Gemeinden richtet. Die streitigen Vorschriften wurden - anders als die in BGE 94 I 339 ff. zu beurteilende "Spezialbauordnung" - nicht nur für einen Einzelfall erlassen. Die vom Bundesgericht für den Widerruf von Verfügungen entwickelten Grundsätze kommen deshalb nicht zur Anwendung, und die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeführerin gehen an der Sache vorbei. |
bb) Welche Übergangsfrist der kantonale Gesetzgeber für die Anpassung an die neue Ordnung gewähren muss, ist nicht eine Frage des Vertrauensschutzes, sondern eine solche der Verhältnismässigkeit. Die Gemeinde kann im Rahmen einer Autonomiebeschwerde nicht mehr verlangen, als dass ihr die für den Erlass einer neuen Ladenschlussordnung erforderliche Zeit eingeräumt wird. Die gewährte Übergangsfrist von einem Jahr trägt diesem Erfordernis Rechnung. Zur Rüge, dass diese Frist aus der Sicht der betroffenen Gewerbetreibenden zu kurz sei und verfassungsmässige Individualrechte verletze, ist die Gemeinde nach dem Gesagten nicht legitimiert.
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cc) Die Beschwerdeführerin macht schliesslich geltend, dass Art. 20b der Gesetzesnovelle, wonach in Fremdenverkehrsgemeinden während der Saison mehr als zwei Abendverkäufe pro Woche gestattet werden dürfen, zwischen den Gemeinden eine unzulässige Rechtsungleichheit schaffe. Zu diesem Einwand, der mit der gerügten Autonomieverletzung in engem Zusammenhang steht, ist die Gemeinde legitimiert (BGE 97 I 511). Die Rüge dringt jedoch nicht durch. Es ist in manchen Kantonen üblich, für Fremdenverkehrsgemeinden eine freiere Ordnung der Ladenöffnungszeiten vorzusehen. Die Ladenbesitzer in solchen Gemeinden leben weitgehend von saisonalen Verkäufen, die daher möglichst erleichtert und den besonderen Konsumgewohnheiten der Gäste angepasst werden sollen. Diese Erleichterungen an Fremdenkurorten wirken sich in der Regel auch nicht wettbewerbsverzerrend aus. Die beanstandete Differenzierung zwischen Fremdenverkehrsgemeinden und übrigen Gemeinden beruht somit auf vertretbaren sachlichen Überlegungen und hält daher, wie bereits in BGE 97 I 517 E. 4c festgestellt wurde, vor dem Grundsatz der Rechtsgleichheit stand. |