BGE 104 Ia 284 |
45. Auszug aus dem Urteil vom 22. Februar 1978 i.S. B. gegen Kanton Solothurn und Kantonale Rekurskommission Solothurn |
Regeste |
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG, Art. 62 Abs. 4 KV-SO und Art. 4 BV; Staatssteuer. |
2. Möglichkeit des Verfassungswandels; Art. 62 Abs. 4 KV-SO kommt in der Gegenwart nur mehr die Bedeutung zu, dass bestimmte Abzüge (Sozialabzüge) gewährt werden müssen (E. 4). |
3. Die gesetzliche Regelung, wonach einem Alleinstehenden, der einen eigenen Haushalt führt, ein grösserer Sozialabzug gewährt wird, als einem Alleinstehenden ohne eigenen Haushalt, verstösst nicht gegen Art. 4 BV (E. 5). |
Sachverhalt |
"1 Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekte Abgaben sind Sache der Gesetzgebung.
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2 Alle Steuerpflichtigen sollen im Verhältnis ihrer Mittel an die Ausgaben des Staates beitragen. Bei der Besteuerung des Einkommens und des Vermögens ist auf das reine Einkommen und das reine Vermögen abzustellen, und es sind die Grundsätze einer angemessenen Progression anzuwenden. Diese Grundsätze gelten sinngemäss auch für die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen.
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3 Kurzfristig erzielte Grundstückgewinne können einer Zuschlagssteuer unterworfen werden, für welche das Reineinkommensprinzip nach Absatz 2 nicht gilt.
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4 Geringe Vermögen sowie von jedem Einkommen ein zum Leben unbedingt notwendiger Betrag sind steuerfrei.
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5 Ein verhältnismässiger Nachlass der Steuer kann zugunsten einzelner Steuerpflichtiger bewilligt werden, sofern sie durch Unglück, Not und Krise in Bedrängnis kommen."
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Das solothurnische Gesetz über die direkten Staats- und Gemeindesteuern vom 29. Januar 1961/15. November 1970 (StG) sieht in § 43 unter dem Randtitel "Existenzminima" sogenannte Sozialabzüge vom reinen Einkommen vor. Sie schwanken beispielsweise beim alleinstehenden Steuerpflichtigen ohne Haushalt je nach der Höhe des Einkommens zwischen 1040 und 2600 Franken, beim Haushaltführenden beträgt der Abzug 3250 Franken. Er erhöht sich, wenn der Steuerpflichtige über 65 Jahre alt ist, wenn er für weitere Personen zu sorgen hat, in der Ausbildung steht oder in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt ist. § 73bis StG sieht vor, dass der Regierungsrat bei Schwankungen der Lebenshaltungskosten um mehr als 5% seit 1. Januar 1970 die betragsmässig festgesetzten Abzüge, Steuererleichterungen und Freigrenzen, u.a. auch diejenigen von § 43 Abs. 1 StG, dem Stande des Landesindexes der Konsumentenpreise anpasst. Zur Zeit ist eine Totalrevision des StG in Aussicht genommen.
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Der alleinstehende B., Parapsychologe und Taxichauffeur, führt keinen eigenen Haushalt. Bei einem jährlichen steuerbaren Einkommen von 9124 Franken wurde ihm für 1974 ein Sozialabzug von 2440 Franken, für 1975 ein Abzug von 2640 Franken gewährt. Die gegen diese Veranlagung erhobenen Einsprachen sowie die Beschwerde an die Kantonale Rekurskommission (KRK) blieben ohne Erfolg. B. erhebt staatsrechtliche Beschwerde, die das Bundesgericht abweist. |
Aus den Erwägungen: |
b) Der Begriff des verfassungsmässigen Rechts ist bundesrechtlicher Natur. Er ist in der Lehre umstritten (BERNHEIMER, Der Begriff und die Subjekte der verfassungsmässigen Rechte nach der Praxis des Bundesgerichtes, Diss. Zürich 1930, insbesondere S. 123 mit eingehendem Definitionsversuch; BURCKHARDT, Kommentar zur Bundesverfassung, 3. Auflage Bern 1931, S. 780 f.; GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, S. 46 ff.; H. HUBER, Die Garantie der individuellen Verfassungsrechte, ZSR 55/1936 S. 62a ff.; EGGENSCHWILER, Die rechtliche Natur des staatsrechtlichen Rekurses, Diss. Bern 1936, S. 165; FLEINER/GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949, S. 882 ff.; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, Zürich 1950, S. 320 ff.; GURNY, Der Begriff der Verletzung verfassungsmässiger Rechte, Diss. Zürich 1959, S. 29 ff.; AUBERT, Traité de droit constitutionnel, Neuchâtel 1967, II, Nr. 1644 ff.; HENSEL, Die Verfassung als Schranke des Steuerrechts, Diss. St-Gallen 1972, S. 54 ff.; SALADIN, Grundrechte im Wandel, 2. Auflage, Bern 1975, S. 285, 374; MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, 3. Auflage, Basel 1977, S. 35 ff.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verbürgen diejenigen Verfassungsbestimmungen von Bund und Kantonen verfassungsmässige Rechte, die dem Bürger einen Schutzbereich gegen staatliche Eingriffe sichern wollen. Häufig sind solche Schutzrechte am Wortlaut der Verfassung erkennbar, in andern Fällen ergeben Auslegung und Konkretisierung der Bestimmung, dass sie dem Einzelnen einen Rechtsanspruch gegenüber der Staatsgewalt gewähren will. Sodann gibt es Verfassungsnormen, die zwar vorwiegend im öffentlichen Interesse erlassen sind, aber daneben auch noch individuelle Interessen schützen wollen; sie werden in diesem Umfang als verfassungsmässige Rechte anerkannt. Schliesslich gibt es Bestimmungen organisatorischer oder programmatischer Art, deren Bedeutung sich darin erschöpft, eine sachgerechte Organisation und Ausgestaltung des Gemeinwesens zu ermöglichen. Sie sind im Allgemeininteresse erlassen und wollen dem Bürger kein verfassungsmässiges Recht einräumen, selbst wenn sich dessen Individualinteresse im Einzelfall mit der Verfassungsnorm decken mag (BGE 96 I 626 E. 3). Die Abgrenzung kann Zweifeln ausgesetzt sein. Besondere Probleme ergeben sich aus Verfassungsbestimmungen, die einen Gesetzgebungsauftrag enthalten. Allgemeine Anweisungen an den Gesetzgeber, in einem bestimmten Bereich tätig zu werden, vermögen dem Einzelnen keinen Anspruch auf richterliche Durchsetzung des Gesetzgebungsauftrages zu geben (BGE 55 I 365). Anders kann es sich verhalten, wenn die Verfassung dem Gesetzgeber vorschreibt, welchen Anforderungen eine bestimmte Gesetzgebung im einzelnen entsprechen muss. Ausser der Verfolgung öffentlicher Interessen kann der Verfassungsgeber beabsichtigen, dem Bürger gewisse konkrete Garantien zu geben dafür, dass ihn die Gesetzgebung nicht über ein bestimmtes Mass hinaus belasten wird. In solchen Fällen ist anzunehmen, dass der Bürger ein verfassungsmässiges Recht darauf hat, dass die Gesetzgebung die durch die Verfassung gezogene Grenze nicht überschreitet. Das kann gerade auch dann der Fall sein, wenn die Verfassung dem Gesetzgeber Weisung gibt, die Steuergesetzgebung in einer bestimmten Art und Weise inhaltlich auszugestalten. |
b) Das Bundesgericht hatte sich wiederholt zur Frage zu äussern, ob Art. 62 Abs. 2 KV ein verfassungsmässiges Recht gewährleiste. Die Praxis war nicht einheitlich. In BGE 32 I 308 liess das Bundesgericht die Frage zwar offen; immerhin trat es auf die Beschwerde ein und überprüfte das Steuergesetz auf seine Vereinbarkeit mit Art. 62 KV. In einem nicht veröffentlichten Urteil vom 12. Juli 1934 in Sachen Miller anerkannte es den damaligen Art. 62 KV ausdrücklich als verfassungsmässiges Recht. Es führte aus, diese Bestimmung enthalte ein Reihe von allgemeinen Grundsätzen und Richtlinien, an die sich der Gesetzgeber bei der Besteuerung halten solle. Ob den Erfordernissen im einzelnen nachgelebt worden sei, könne von allen Steuerpflichtigen, die durch die Verletzung der Vorschrift in ihren Interessen berührt würden, zum Gegenstand einer staatsrechtlichen Beschwerde gemacht werden. In BGE 80 I 327 streifte das Bundesgericht Art. 62 Abs. 1 KV nur nebenbei, und in BGE 85 I 87 bezeichnete es Art. 62 Abs. 2 KV als Bestimmung, die lediglich die allgemeine Richtung für die Aufgabe des Gesetzgebers weise. In BGE 90 I 240 liess es die Frage wiederum offen, ob Art. 62 Abs. 2 KV ein Grundrecht gewährleiste, oder lediglich eine Anweisung an den Gesetzgeber enthalte. |
Art. 62 Abs. 2 ist in erster Linie eine Anweisung an den Gesetzgeber und damit eine im öffentlichen Interesse erlassene Regel. Es ist aber nicht zu verkennen, dass sich die Tragweite der Vorschrift nicht darin erschöpft, sondern dass damit dem Bürger ein verstärkter Schutz gegen eine übermässige Besteuerung gewährt werden soll, wenn beispielsweise bei der Umschreibung des Steuerobjektes nicht auf das Reinvermögen oder das Reineinkommen abgestellt würde. Das Rechtsschutzinteresse des Bürgers daran, dass nicht eine beliebige Besteuerung auf dem Wege der Gesetzgebung eingeführt wird, ist derart gewichtig, dass die Annahme naheliegt, die Verfassung habe dem Bürger auch einen Rechtsbehelf dagegen gewähren wollen. Geschichtlich war im Kanton Solothurn die Zustimmung des Volkes zur Erhebung direkter Steuern wohl nur unter dieser Voraussetzung erhältlich. Wenn Art. 62 Abs. 2 KV als verfassungsmässiges Recht anerkannt wird, kann dies indessen nicht dazu führen, dass das Bundesgericht im einzelnen prüfen könnte, welche Steuern zu erheben sind, in welchem Verhältnis die verschiedenen Steuern den Aufwand decken sollen oder wie die Progression zu gestalten ist. Diese Fragen sind der Würdigung des Gesetzgebers anheimgestellt, dem ein weiter Spielraum des Ermessens verbleibt. Art. 62 Abs. 2 KV bezeichnet lediglich die allgemeine Richtung; er kann vom Bundesgericht nur in diesem Rahmen überprüft werden (BGE 48 I 84).
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c) Unmittelbarer Gegenstand im zu beurteilenden Verfahren ist allerdings nicht die Bedeutung von Art. 62 Abs. 2 KV, sondern diejenige von Abs. 4. Diese Bestimmung ist in ihrer sprachlichen Struktur imperativer gefasst als Abs. 2. Ohne den Sinn der Vorschrift, der ihr in der Gegenwart zukommt, bereits in diesem Zusammenhang im einzelnen zu prüfen, wird man annehmen können, dass sie ebenfalls eine Anweisung an den Gesetzgeber enthält, und dass sie wenigstens im gleichen Umfang wie Abs. 2 zugleich ein verfassungsmässiges Recht verbürgt. Auf die Rüge des Beschwerdeführers, die ihm auferlegte Besteuerung verstosse gegen Art. 62 Abs. 4 KV, ist deshalb einzutreten. |
b) Die Entstehungsgeschichte der Norm gibt keine sicheren Hinweise auf die Bedeutung der Bestimmung. Diese fand im Jahre 1875 als § 5 Abs. 4 Eingang in die kantonale Verfassung. Anlässlich der Totalrevision von 1887 wurde § 5 Abs. 4 unverändert als Art. 62 Abs. 5 in die neue Verfassung aufgenommen. Das Einkommen wurde im Kanton Solothurn aber erst seit Inkrafttreten des Steuergesetzes vom 17. März 1895 besteuert, also ungefähr zwanzig Jahre nach dem Erlass der Verfassungsbestimmung über die Steuerbefreiung von kleinen Einkommen. Der Verfassungsgeber hatte anlässlich des Erlasses von Art. 62 KV offenbar noch kein bestimmtes Steuersystem vor Augen und keine präzisen Vorstellungen über die Konkretisierung der Bestimmung auf Gesetzesebene, so dass anzunehmen ist, er habe viele Möglichkeiten offenlassen wollen.
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c) Selbst wenn der historische Verfassungsgeber mit der hier streitigen Verfassungsbestimmung ein tatsächliches, dem betreibungsrechtlichen ähnliches Existenzminimum von der Steuerpflicht hätte befreien wollen, ist zu würdigen, dass eine einmal geschaffene Verfassung nicht während der ganzen Geltungsdauer in ihrem normativen Sinn unverändert weiterbestehen muss. Es ist möglich, dass durch den Wandel der geschichtlichen Bedingungen eine Norm ihre Bedeutung ändert. Insbesondere kann auf dem Weg über eine konstante neue Auslegung eines Verfassungstextes ein Wandel im Gehalt der Norm eintreten, das heisst, es kann sich der Sinn einer positiven Verfassungsbestimmung ohne deren Revision verändern (H. HUBER, Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts, ZBJV 91bis/1955, S. 112 ff.; HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1976, 9. Auflage, S. 16 f.; SALADIN, Grundrechte im Wandel, Bern 1975, 2. Auflage, S. 380 ff.). |
Das Steuergesetz von 1895, welches die Einkommenssteuer einführte, sah in § 6 steuerbefreite Abzüge vor. Diese wurden seit dem Erlass der Vollziehungsverordnung vom 30. Mai 1896 "Existenzminima" genannt. Die Abzüge betrugen für Haushaltführende Fr. 900.- zuzüglich Fr. 100.- für jedes Kind unter achtzehn Jahren und für Alleinstehende Fr. 700.-. Die damals gewährten Abzüge lagen etwas unter dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum (Archiv für Schuldbetreibung und Konkurs 1/1892, S. 108; Schweizer Blätter für Handelsrechtliche Entscheidungen 11/1892, S. 164, 12/1893, S. 34, 14/1895, S. 234, 15/1896, S. 14/15). Da die Lebenshaltungskosten in der Folge stiegen, vergrösserte sich der Unterschied zwischen dem Betrag, der zum Leben mindestens erforderlich war und den Ansätzen nach § 6 StG allmählich. Augenfällig wurde diese Tendenz während des ersten Weltkrieges. Im Jahre 1917 wurde im Kantonsrat eine Motion eingereicht, die diese Differenz verringern wollte. Bezeichnenderweise ging sie offenbar nicht davon aus, § 6 StG sei verfassungswidrig geworden und müsse deshalb revidiert werden. Der Motionär stützte sich vielmehr auf eine analoge Anwendung von § 15 des damaligen Steuergesetzes, der für schwere Unglücksfälle wie z.B. Naturereignisse oder - wie der Motionär annahm - kriegerische Auseinandersetzungen angemessene Steuerreduktionen in Aussicht stellte. Ab 1918 setzte der Regierungsrat die Steuerabzüge periodisch neu fest. Diese erreichten indessen das tatsächliche Existenzminimum nicht. Anlässlich der Revision des Steuergesetzes vom 24. September 1939 war man sich einig darüber, dass Art. 62 Abs. 4 KV (damals noch Abs. 3) nicht mehr in einem wörtlichen Sinn zu verstehen sei, sondern dem Gesetzgeber nur noch die Pflicht überbinde, einen gewissen Teil des Einkommens steuerfrei zu lassen. Die Gesetzesnovelle von 1939 brachte bezüglich der Steuerabzüge gegenüber dem Gesetz von 1895 einen erheblichen Systemwechsel, wobei vom Begriff des Existenzminimums ganz abgegangen wurde. Die verfassungsmässigen Abzüge erfolgten nach dem damaligen § 27 StG in Form eines Abzuges vom Steuerbetrag. Damit wurde von der formalen Anknüpfung an ein Existenzminimum abgesehen. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass sich der Steuerbetrag, von dem der Abzug vorzunehmen war, aus der Einkommens- und der Vermögenssteuer zusammensetzte (§ 27 Abs. 1 in Verbindung mit § 26 StG). Die völlige Loslösung vom Begriff des steuerfreien Existenzminimums zeigt sich besonders bei der Ausgestaltung des Abzugs für Alleinstehende im damaligen § 27 Abs. 1 Ziff. 3 StG. Einzelstehende Personen hatten danach überhaupt keinen Anspruch auf einen Abzug vom Reineinkommen, wenn dieses Fr. 3000.- überstieg. Diese Regelung wurde von keiner Seite als verfassungswidrig angesehen. Gegenteils kommt hinzu, dass ungefähr zur Zeit der Revision des Steuergesetzes im Jahre 1938 auch Art. 62 KV einer Neufassung unterzogen wurde. Der hier interessierende Absatz wurde unverändert übernommen. Dies ist insofern von Bedeutung, als die gleichzeitig beschlossenen Steuerabzüge keineswegs mehr die Höhe eines zum Leben genügenden Betrages erreichten. Es wird davon ausgegangen werden können, dass der Gesetzgeber, der in kurzem Abstand nach Annahme oder Bestätigung einer Verfassungsbestimmung tätig wird, deren Sinn kannte und nicht bereits in jenem Zeitpunkt etwas Verfassungswidriges anordnen wollte. Die verfassungsgebende Gewalt ist im Kanton Solothurn zudem personell insofern mit der gesetzgebenden Gewalt identisch, als sowohl zu einem Gesetz als auch zu einer Verfassungsänderung der Kantonsrat und das Volk zustimmen müssen (Art. 17 Abs. 1 Ziff. 1 KV). Obwohl einem dem obligatorischen Referendum unterstellten Gesetz nicht nur aus formalen Gründen kein Verfassungsrang zukommen kann, sondern auch wegen der fehlenden zweimaligen Beratung im Parlament (Art. 77 KV) und der fehlenden Gewährleistung durch die Bundesversammlung (Art. 6 BV), ist die Zustimmung von Kantonsrat und Volk zur Steuergesetzrevision für die Auslegung des gleichzeitig neu gefassten Art. 62 KV von erheblicher Bedeutung. Der Verfassungsauftrag in Art. 62 Abs. 4 KV wurde damals nicht mehr als Weisung aufgefasst, einen dem tatsächlichen Existenzminimum entsprechenden Betrag steuerfrei zu lassen, sondern lediglich als Auftrag, gewisse Steuerabzüge zu gewähren. Da das neu gewählte System für die Abzüge wenig transparent erschien und von den Steuerpflichtigen nur schwer verstanden wurde, kehrte man mit § 43 des StG vom 29. Januar 1961 zum System der steuerfreien Einkommensbeträge zurück (Bericht und Antrag des Regierungsrates an den Kantonsrat vom 12. September 1958, S. 12 unten). In der kantonsrätlichen Kommission zur Vorbereitung des Steuergesetzes wurde auch die Verfassungsmässigkeit der neuen Lösung diskutiert und die Meinung vertreten, man könne die Verfassung nicht wörtlich auslegen. Sie sei in diesem Punkt von jeher nicht mehr beachtet worden. Gegen diese Auffassung erhob sich kein Widerstand (Protokoll der kantonsrätlichen Kommission zur Beratung des Steuergesetzes, S. 210). In der Folge befasste sich der Kantonsrat erneut mit einer Revision des StG. In der Sitzung des Kantonsrates vom 23. Oktober 1968 (Verhandlungen des Kantonsrates von Solothurn 1968, S. 728 ff.) wurde auch § 43 Abs. 1 StG einer erneuten Prüfung unterzogen. Ein Zweifel an der Verfassungsmässigkeit der Ordnung wurde nicht laut. Das Gesetz wurde allerdings am 8. Dezember 1968 verworfen, vermutlich zur Hauptsache, weil es eine steuerliche Neubewertung des Grundeigentums gebracht hätte. Nachher nahm der Kantonsrat die Revisionsarbeiten wieder auf. An der Sitzung vom 1. Juli 1970 wurde § 43 StG erneut behandelt (Kantonsratsverhandlungen 1970, S. 815 ff.); auch damals wurden keine Zweifel an der Verfassungsmässigkeit geäussert. Das Gesetz wurde in der Volksabstimmung vom 15. November 1970 angenommen. Seitherige kleinere Abänderungen des StG haben keinen direkten Bezug mehr auf § 43 StG. Diese Bestimmung wurde bis in die jüngste Vergangenheit auch auf dem Rechtsweg nie wegen Verletzung von Art. 62 Abs. 4 KV angefochten. |
Aus der geschichtlichen Entwicklung ist zu schliessen, dass in bezug auf Art. 62 Abs. 4 KV im letzten halben Jahrhundert ein Verfassungswandel eingetreten ist, sofern man annimmt, die umstrittene Bestimmung habe dem Kantonsrat ursprünglich die Weisung erteilt, bei der Steuergesetzgebung ein tatsächliches Existenzminimum steuerfrei zu lassen. In der Folge hat sich der Grundsatz abgeschwächt. Nach geltendem Verfassungsrecht kommt Art. 62 Abs. 4 KV nur mehr die Bedeutung einer Weisung an den Gesetzgeber zu, im Steuergesetz Sozialabzüge vorzusehen. Der ursprüngliche sozialpolitische Gehalt von Art. 62 Abs. 4 KV wurde teilweise durch den im Jahre 1938 in die Verfassung aufgenommenen Art. 62 Abs. 5 KV übernommen, der den individuellen Steuererlass im Falle von Unglück, Not oder Krise vorsieht. Es muss angenommen werden, dass Abs. 5 das ursprünglich Abs. 4 zugrundeliegende Motiv wenigstens teilweise wiederum verwirklicht hat. |
d) § 43 StG sieht Sozialabzüge vor. Auch wenn die Abzüge nicht einem eigentlichen Existenzminimum, etwa im betreibungsrechtlichen Sinne gleichzusetzen sind, erreichen sie mindestens für die kleinen Einkommen zur Zeit eine beachtliche Höhe; sie werden ausserdem weiter periodisch den gestiegenen Lebenshaltungskosten angepasst. Es kann nicht Aufgabe des Bundesgerichts sein, bei der Überprüfung kantonaler Normen über die Besteuerung seine eigene politische Wertung an diejenige des kantonalen Gesetzgebers zu setzen und etwa den Aufbau der Steuertarife im einzelnen zu überprüfen; das geht schon darum nicht an, weil die einzelnen Tarifpositionen nicht isoliert beurteilt werden können. Die Ausgestaltung der Sozialabzüge in den verschiedenen kantonalen Steuerrechten bietet denn auch ein buntes Bild (HÖHN/HENSEL/KÄPPELI, Das Einkommenssteuerrecht der Kantone, Bern und Stuttgart 1972, S. 156 ff.). Werden allgemein sehr hohe Sozialabzüge zugelassen, muss dem auf der andern Seite eine Anhebung der Steuersätze entsprechen, damit die Steuer gleichwohl den Finanzbedarf des Gemeinwesens deckt. Die Grösse der Abzüge hängt so mit der Ausgestaltung des gesamten Steuertarifs zusammen und kann in der Regel nicht für sich allein abgeändert werden. Da die Verfassung einen Mindestabzug nicht vorschreibt, verbleibt § 43 StG im Rahmen der Verfassung und die Beschwerde muss abgewiesen werden, soweit sie sich auf Art. 62 Abs. 4 KV stützt.
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5. Der Beschwerdeführer wirft der in § 43 StG vorgesehenen Regelung weiter vor, sie sei willkürlich und verletze deshalb Art. 4 BV. Er macht geltend, die Differenzierung in § 43 StG zwischen Alleinstehenden mit eigenem Haushalt und solchen ohne eigenen Haushalt verstosse gegen die Verfassung. Der Alleinstehende, der einen eigenen Haushalt führe, werde heute in aller Regel weniger für die Verpflegung aufwenden müssen als der Alleinstehende ohne Haushalt. Insofern § 43 StG für den Alleinstehenden mit Haushalt einen grösseren Sozialabzug vorsehe als für den Alleinstehenden ohne Haushalt, halte § 43 StG vor Art. 4 BV nicht stand. |
a) Eine gesetzliche Regelung verstösst dann gegen Art. 4 BV, wenn sie sinn- oder zwecklos ist oder Unterscheidungen trifft, die keinen vernünftigen Grund in den zu ordnenden Verhältnissen finden oder Unterscheidungen unterlässt, die sich auf Grund dieser Verhältnisse aufdrängen (BGE 100 Ia 328 E. 4b; BGE 99 Ia 119; BGE 97 I 782, 801).
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b) Im zu beurteilenden Zusammenhang ist wiederum eine Steuertariffrage zu entscheiden. Dabei steht dem Gesetzgeber nach dem bereits Gesagten ein weites Mass eigener Gestaltungsfreiheit zu, so dass das Bundesgericht die angefochtenen Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt der Willkür nur mit grosser Zurückhaltung prüfen kann. Insbesondere lässt sich aus Art. 4 BV keine bestimmte Methode der Besteuerung ableiten, da die Ausgestaltung der Steuertarife in hohem Masse von politischen Wertungen abhängt (BGE 99 Ia 653).
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c) Die angefochtene Regelung ist nicht sinn- und zwecklos. Sie trifft auch keine Unterscheidungen, die vor Art. 4 BV unhaltbar sind, auch wenn der Einwand des Beschwerdeführers einer gewissen Berechtigung nicht entbehrt (BGE 99 Ia 579). In den jeweiligen Gesetzesrevisionen wurde die Frage der Sozialabzüge und ihrer Staffelung eingehend diskutiert. Häufig wurde die Befürchtung geäussert, der Alleinstehende, vor allem der ledige Steuerpflichtige, werde steuerlich vor den Steuerpflichtigen, die für eine Familie zu sorgen hatten, bevorzugt. Eine Differenzierung bei der Steuertarifierung lässt sich unter dem Gebot der Besteuerung der Steuerpflichtigen nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit rechtfertigen. Vor der Verfassung hielte unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV auch eine Regelung stand, die für Alleinstehende ohne Haushalt überhaupt keinen Sozialabzug zulässt, vor allem dann, wenn die Abzüge für Haushaltführende mit Familie verhältnismässig niedrig sind (Urteil des Bundesgerichts vom 19. September 1975 in Sachen Trutmann). Es wäre vor Art. 4 BV auch haltbar, wenn alleinstehende Steuerpflichtige mit Sondersteuern belegt würden, um das Gefälle in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszugleichen (BGE 77 I 102).
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d) Die Auffassung, dass ein alleinstehender Steuerpflichtiger mit geringeren Lebenshaltungskosten rechnen muss als der Alleinstehende, der noch einen Haushalt führt, z.B. ein Witwer ohne Kinder, der seine bisherige Wohnung beibehält, wird in vielen Fällen zutreffen und darf deshalb vom Gesetzgeber zur Grundlage seiner Gesetzgebung gewählt werden, auch wenn sich im Einzelfall die Verhältnisse bisweilen anders gestalten werden. Die Steuertarifierung muss bis zu einem gewissen Mass schematisch erfolgen; die Entwicklung des solothurnischen Steuerrechts zeigt übrigens, dass das System der Abzüge fortlaufend verfeinert wird, um Einzelfällen besser gerecht werden zu können. Der Beschwerdeführer übersieht, dass zu den Lebensunterhaltskosten nicht allein die Auslagen für die Verpflegung gehören, sondern auch die Miete oder Bankzinse, Abgaben für Wasser und Elektrizität usw., die der Alleinstehende ohne Haushalt nicht auf sich zu nehmen hat, weil sie im Mietzins für sein Zimmer inbegriffen sind. Zu denken ist ferner auch an unverheiratete Steuerpflichtige, die noch im Haushalt der Eltern wohnen, und deshalb in der Regel auch weniger für Lebensunterhaltskosten aufwenden müssen als Alleinstehende mit Haushalt. |
Der Beschwerdeführer beruft sich allerdings zur Stützung seiner Auffassung auf die Meinung, die der Regierungsrat des Kantons Solothurn in Beantwortung einer Kleinen Anfrage Doppler vom 8. Februar 1977 zum Ausdruck brachte. Der Fragesteller wandte sich dagegen, dass zwei unverheirateten Steuerpflichtigen, die zusammenleben und einen Haushalt führen, der Haushaltabzug für Alleinstehende doppelt gewährt wird. Der Regierungsrat vertrat die Auffassung, der Begriff "Haushaltführende" sei kein vernünftiges Kriterium mehr für die Bemessung eines Sozialabzuges, da die Führung eines eigenen Haushaltes in der Regel billiger sei als die auswärtige Verpflegung. Selbst wenn die Meinung des Regierungsrates zuträfe, was offen bleiben kann, wäre eine andere Auffassung, der der Gesetzgeber gefolgt ist, nicht unhaltbar, und hält damit vor Art. 4 BV stand (BGE 99 Ia 579 /580). Im übrigen geht die Tendenz des Regierungsrates anscheinend eher dahin, den alleinstehenden haushaltführenden Steuerpflichtigen dem Alleinstehenden ohne Haushalt gleichzustellen, so dass eine Neuregelung im regierungsrätlichen Sinn dem Beschwerdeführer vermutlich nicht von Nutzen wäre.
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