BGE 105 Ia 91
 
18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. Juni 1979 i.S. Plüss und Konsorten gegen Stadtrat Schaffhausen sowie Regierungsrat und Obergericht (als Verwaltungsgericht) des Kantons Schaffhausen (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV, Meinungsäusserungsfreiheit; Standaktion auf öffentlichem Grund.
2. Ermessen der Behörde; zu berücksichtigende Interessen (E. 3).
3. Interessenabwägung in einem Fall, in welchem die Gesuchsteller die Bewilligung von fünf Standaktionen innerhalb eines Zeitraumes von rund eineinhalb Monaten auf demselben öffentlichen Platz anbegehrt haben (E. 4).
 
Sachverhalt


BGE 105 Ia 91 (92):

Am 30. Juni 1978 stellten die "Atomkraftwerkegegner Schaffhausen" (nachfolgend: "AKW-Gegner"), eine einfache Gesellschaft, bei der Stadtpolizei Schaffhausen das Gesuch, es sei ihnen an fünf Samstagen zwischen dem 30. Dezember 1978 und dem 10. Februar 1979 das Aufstellen eines Standes auf dem Fronwagplatz in der Schaffhauser Altstadt zu bewilligen. Der Inspektor der Stadtpolizei Schaffhausen bewilligte mit Verfügung vom 4. Juli 1978 jedoch lediglich zwei der nachgesuchten Veranstaltungen. Der Stadtrat Schaffhausen wies einen gegen diesen Entscheid erhobenen Rekurs ab. Die AKW-Gegner wandten sich an den Regierungsrat des Kantons Schaffhausen, welcher den Rekurs am 24. Oktober 1978 verwarf. Die AKW-Gegner, vertreten durch Markus Plüss, erhoben Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Obergericht des Kantons Schaffhausen. Dieses trat mit Entscheid vom 19. Dezember 1978 auf die Beschwerde nicht ein mit der Begründung, die einfache Gesellschaft "AKW-Gegner" sei nicht rechts- und daher nicht parteifähig. In einer ausführlichen Eventualerwägung nahm es aber auch zur materiellen Frage im ablehnenden Sinne Stellung. Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.
Der am 8. Januar 1979 gegründete Verein "AKW-Gegner" sowie Markus Plüss im eigenen Namen führen fristgerecht staatsrechtliche Beschwerde. Sie machen sinngemäss formelle Rechtsverweigerung, Willkür und eine Verletzung von Treu und Glauben sowie der Meinungsäusserungsfreiheit geltend.
Ein Gesuch um Erlass einer vorsorglichen Verfügung im Sinne von Art. 94 OG wurde vom Präsidenten der staatsrechtlichen Kammer am 10. Januar 1979 abgewiesen.
Regierungsrat und Obergericht des Kantons Schaffhausen beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Die Beschwerdeführer halten in ihrer Replik vom 12. März 1979 an ihren Antrügen fest.
 
Aus den Erwägungen:
2. Die Beschwerdeführer werfen erstmals im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren die Frage auf, ob das Aufstellen eines Standes auf einem zur Fussgängerzone gehörenden, ihrer Auffassung nach in erster Linie als "Stätte der kulturellen und politischen Begegnung" dienenden Platz überhaupt als bewilligungspflichtig

BGE 105 Ia 91 (93):

erklärt werden dürfe. Da einerseits die Beschwerdeführer nicht bloss eine Verletzung von Art. 4 BV rügen und andererseits das Obergericht freie Kognition besass und das Recht von Amtes wegen anzuwenden hatte, sind neue rechtliche Argumente im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren zulässig (BGE 102 Ia 246 E. 2 mit Verweisungen).
Ist eine bestimmte Art der Benützung einer öffentlichen Sache nicht mehr gemeinverträglich, d.h. hält sie sich ihrer Natur oder Intensität nach nicht mehr im Rahmen des Üblichen und könnte sie deshalb den rechtmässigen Gebrauch der Sache durch andere Benützer beeinträchtigen, so darf sie der Bewilligungspflicht unterstellt werden (BGE 100 Ia 136 E. 5b mit Verweisungen; BGE 88 I 24 f.; vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Auflage, Basel 1976, Nr. 118 B I). Ob dabei in Anlehnung an die deutsche Doktrin Gemeingebrauch, gesteigerter Gemeingebrauch und Sondernutzung auseinandergehalten werden oder ob entsprechend der französischen Lehre lediglich zwischen "usage collectif" und "usage privatif" unterschieden wird, ist im vorliegenden Fall belanglos (vgl. dazu GRISEL, Droit administratif Suisse, Neuenburg 1970, S. 293). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf eine den Gemeingebrauch überschreitende Benutzung öffentlicher Sachen selbst dann bewilligungspflichtig erklärt werden, wenn dafür keine gesetzliche Grundlage besteht (BGE 100 Ia 398 E. 3 a.E.). Im vorliegenden Fall findet sich indessen die gesetzliche Grundlage der Bewilligungspflicht in Art. 25 der Polizeiverordnung der Stadt Schaffhausen.
Ein Stand nimmt einen gewissen Raum in ausschliesslicher Weise in Anspruch, der zur Verfügung stehende öffentliche Grund ist beschränkt, und es können nicht in beliebiger Anzahl Stände aufgestellt werden. Ungeregeltes Aufstellen von Ständen auf einem öffentlichen Platz könnte zudem andere legitime Benutzungsarten beeinträchtigen. Das Gemeinwesen muss daher über den widmungsgemässen Gebrauch des öffentlichen Grundes wachen und ist berufen, den Gemeingebrauch übersteigende Arten der Benutzung des öffentlichen Grundes zu regeln. Dies gilt auch dann, wenn der angestrebte Gebrauch einer weit verstandenen Zweckbestimmung des öffentlichen Grundes nicht zum vornherein zuwiderläuft und grundsätzlich von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt ist. Das Aufstellen von Ständen auf dem öffentlichen Grund darf daher ohne

BGE 105 Ia 91 (94):

Verletzung von Art. 4 BV und der Meinungsäusserungsfreiheit der Bewilligungspflicht unterstellt werden.
3. Bei der Bewilligung von Veranstaltungen, welche den öffentlichen Grund in einer den Gemeingebrauch übersteigenden Weise in Anspruch nehmen, kommt den zuständigen Behörden ein gewisses Ermessen zu. Die Behörde, welcher die Aufsicht und die Verfügung über den öffentlichen Boden zusteht, darf beim Entscheid über die Erteilung der Bewilligung für einen Stand neben dem Gesichtspunkt der polizeilichen Gefahrenabwehr auch andere öffentliche Interessen berücksichtigen, namentlich dasjenige an einer zweckmässigen Nutzung der vorhandenen öffentlichen Anlagen im Interesse der Allgemeinheit und der Anwohner. Doch ist die Behörde dabei nicht nur an das Willkürverbot und den Grundsatz der Rechtsgleichheit gebunden. Sie hat darüber hinaus den besonderen ideellen Gehalt der Freiheitsrechte, um deren Ausübung es geht, in die Interessenabwägung einzubeziehen. Insoweit entfaltet die Meinungsäusserungsfreiheit ihre Wirkungen auch bei Betätigungsformen, die mit gesteigertem Gemeingebrauch verbunden sind. Die Behörde hat demnach die entgegenstehenden Interessen nach objektiven Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen und dabei dem legitimen Bedürfnis, Veranstaltungen mit Appellwirkung an die Öffentlichkeit durchführen zu können, angemessen Rechnung zu tragen. Ob die Auffassungen, die durch die nachgesuchten Veranstaltungen propagiert werden sollen, der zuständigen Behörde mehr oder weniger wertvoll oder wichtig erscheinen, kann für den Entscheid über das Gesuch nicht massgebend sein (BGE 100 Ia 402 f. E. 5).
Das Bundesgericht prüft grundsätzlich frei, ob der angefochtene Entscheid mit diesen verfassungsrechtlichen Prinzipien vereinbar ist. Es setzt indessen nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen der in der Sache zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden, und es übt Zurückhaltung, soweit es um die Würdigung der besonderen örtlichen Verhältnisse geht (BGE 101 Ia 256 f. E. 3c, 481 E. 5c; BGE 100 Ia 403 E. 5 a.E. mit Verweisungen).
4. Den Beschwerdeführern wurde bewilligt, zweimal einen Stand auf dem Fronwagplatz aufzustellen; bezüglich der drei weiteren anbegehrten Bewilligungen wurde das Gesuch abgewiesen. Wie das Obergericht festhält, erklärte sich die Stadt Schaffhausen aber bereit, die weiteren geplanten Veranstaltungen

BGE 105 Ia 91 (95):

an anderen Örtlichkeiten in der Altstadt zu bewilligen. Als mögliche Standorte wurden die Vordergasse, die Schwertstrasse, die Oberstadt oder die Vorstadt genannt. Streitig ist somit einzig, ob die Bundesverfassung verletzt wurde, weil nicht alle fünf, sondern nur zwei Aktionen auf dem Fronwagplatz bewilligt wurden.
a) Nach Auffassung der Beschwerdeführer hat die zuständige Behörde die nachgesuchten Bewilligungen zu erteilen, solange sich die zu bewilligende Veranstaltung im Rahmen des Hauptzweckes des Platzes hält. Sie weisen darauf hin, dass die von ihnen beantragten Aktionen den öffentlichen Grund in wenig intensiver Art und Weise beanspruchen. Es seien damit weder Lärm noch lästige Auswirkungen für das Publikum verbunden. Politische Betätigung dieser Art bewege sich durchaus im Rahmen des Hauptzweckes des Fronwagplatzes. Es fehle an polizeilichen oder anderen gleichwertigen öffentlichen Interessen, welche im vorliegenden Fall die teilweise Ablehnung ihres Gesuches gerechtfertigt hätten. Die abschlägige Antwort der Schaffhauser Behörden sei um so stossender, als - wie die Beschwerdeführer geltend machen - weder am 30. Dezember 1978 noch am 13. und 27. Januar 1979 eine andere Veranstaltung auf dem Fronwagplatz stattgefunden habe. Die Behauptung, es gelte, "unvernünftige Zustände" auf dem Fronwagplatz zu vermeiden, erweise sich damit als blosser Vorwand.
Aus der bundesrechtlichen Rechtsprechung zur Erteilung von Bewilligungen für Veranstaltungen, die den öffentlichen Grund in einer den Gemeingebrauch übersteigenden Weise beanspruchen, lässt sich in gewissen Sinne ein bedingter Anspruch auf Gewährung der Bewilligung ableiten (H.P. MOSER, Bemerkungen zu BGE 100 Ia 392 ff. in: ZBl 1975, S. 270). Dies heisst indessen nicht ohne weiteres, dass die Bundesverfassung verletzt ist, wenn sich die zuständige Behörde weigert, eine Veranstaltung in beliebigen Wiederholungen am jeweils nachgesuchten Ort zu bewilligen. Wie bereits angetönt, steht den zuständigen Behörden bei der Konkretisierung der Zweckbestimmung der öffentlichen Sachen und beim Entscheid über deren Benützung ein gewisser Ermessensspielraum zu. Sie können insbesondere über die spezifische zusätzliche Verwendung einzelner Plätze (Markt, Konzerte, Erholungsraum usw.) bestimmen. Auch Aktivitäten der von den Beschwerdeführern vorgesehenen Art dürfen im Sinne einer vernünftigen Planung

BGE 105 Ia 91 (96):

solcher Benutzung des öffentlichen Grundes beispielsweise auf einzelne Sektoren beschränkt werden. Der Einfluss der Meinungsäusserungsfreiheit führt nicht zu einem absoluten Vorrang politischer Veranstaltungen vor irgendwelchen anderen Interessen.
Die zuständigen Behörden betrachten den Fronwagplatz in erster Linie als Begegnungs- und Erholungsraum für Fussgänger. Sie wollen deshalb mit ihrer Bewilligungspraxis vermeiden, dass sich Veranstaltungen der nachgesuchten Art auf diesem Platz häufen oder beliebig wiederholen. Wenn die zuständigen Behörden aus dieser Überlegung heraus einer Gruppe, die innert rund eineinhalb Monaten an fünf Samstagen einen Stand auf dem Fronwagplatz aufstellen wollte, nur zwei Bewilligungen erteilten, ihr aber das Angebot machten, die übrigen Veranstaltungen auf anderen geeigneten Plätzen zu bewilligen, haben sie ihr Ermessen nicht überschritten. Den Beschwerdeführern wird das Aufstellen eines Standes nicht schlechthin verweigert, und die Örtlichkeiten, die das Obergericht in seinem Urteil als mögliche Standorte erwähnt, taugen entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer durchaus für die geplanten Aktionen.
b) Die Beschwerdeführer rügen im weiteren, dass die Bewilligungspraxis der Stadt Schaffhausen für solche Anlässe grundsatzlos und daher willkürlich sei. Daran änderten auch die Bemühungen des Obergerichts, dem Handeln der städtischen Behörden nachträglich Leitlinien abzugewinnen, nichts.
Es liegt indessen in der Natur der Sache, dass allzu starre, im voraus festgelegte Regeln über die Benützung des räumlich beschränkten öffentlichen Grundes nicht ohne weiteres vernünftige Lösungen garantieren. Dies gilt namentlich für die von den Beschwerdeführern selbst vorgeschlagenen Richtlinien. So erscheint das Kriterium der Priorität für sich allein als wenig geeignet. Es könnte einerseits dazu führen, dass Bewilligungen unverhältnismässig früh beantragt werden müssten. Andererseits würde dadurch unter Umständen verunmöglicht, für Aktionen, die sich auf kurzfristig aufgetretene Sachfragen beziehen, angemessenen Platz zur Verfügung zu stellen. Dasselbe gilt für den Vorschlag, die Anzahl der Stände, die an einem bestimmten Ort aufgestellt werden dürfen, von vornherein zu limitieren. Das Abstellen auf die Anzahl der erteilten Bewilligungen pro Jahr, welche die Beschwerdeführer in der staatsrechtlichen

BGE 105 Ia 91 (97):

Beschwerde postulieren, haben sie vor Obergericht selber als irreführendes Kriterium bezeichnet. Eine flexible Bewilligungspraxis muss den Interessen allfälliger Gesuchsteller nicht notwendigerweise zuwiderlaufen. Vielmehr kann eine gewisse Zurückhaltung seitens der Bewilligungsbehörden sogar im Interesse der Benützer liegen, wenn damit Raumreserven für kürzerfristig angesetzte Veranstaltungen geschaffen werden können. Wesentlich ist vor allem, dass alle Bewerber im Rahmen des Möglichen gleich behandelt werden und dass insbesondere auch kleineren Gruppen das Auftreten auf dem öffentlichen Grund nicht in unbilliger Weise und aus unsachlichen Motiven erschwert wird. Die Rüge der rechtsungleichen Behandlung haben die Beschwerdeführer im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren nicht mehr erhoben. Soweit sie in der Replik vom 12. März 1979 erhoben worden sein sollte, wäre sie verspätet (BGE 102 Ia 213 E. 1). Im übrigen wäre sie, wie das Obergericht einlässlich dargelegt hat, unbegründet. Es lässt sich aber auch nicht sagen, den Beschwerdeführern sei das Auftreten auf dem öffentlichen Grund in unbilliger Weise oder aus unsachlichen Motiven erschwert worden; dies wurde bereits in der vorstehenden Erwägung a) gezeigt. Dass sie auf das Angebot der kantonalen Behörden, ihre Veranstaltungen an einem anderen geeigneten Ort durchzuführen, nicht eingegangen sind, haben sie selber zu vertreten. Zwar ist unbestritten geblieben, dass zumindest am 30. Dezember 1978 - also an einem der Tage, an welchen den Beschwerdeführern die Benützung des Fronwagplatzes verweigert wurde - dort keine anderen Veranstaltungen stattfanden. Dies vermag jedoch nach dem Gesagten wenigstens unter den hier vorliegenden Umständen keine Verfassungsverletzung zu begründen, sondern betrifft lediglich die Angemessenheit des angefochtenen Entscheides, deren Überprüfung dem Staatsgerichtshof entzogen bleibt.
c) Zusammenfassend ergibt sich, dass die kantonalen Behörden ihr Ermessen nicht missbraucht und daher auch nicht gegen die Meinungsfreiheit verstossen haben. Die Beschwerde ist daher abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.