105 Ia 115
Urteilskopf
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24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. Juli 1979 i.S. X. gegen Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege.
Die Auffassung, eine gerichtliche Abschreibungsverfügung, welche gestützt auf die Erklärung des Gesuchstellers betreffend den Rückzug seines Begehrens um unentgeltliche Prozessführung getroffen wurde, könne wegen behaupteter Willensmängel nicht mit einem Rechtsmittel, sondern nur durch Klage in einem neuen, selbständigen Prozess angefochten werden, ist unhaltbar (E. 1).
Eine Fehleinschätzung der Prozesschancen kann keinen wesentlichen, d.h. rechtlich beachtlichen Irrtum darstellen (E. 2).
Am 8. Februar 1979 liess der Beistand der am 21. Juni 1978 geborenen Z. beim Bezirksgericht Rheinfelden gegen X. Klage auf Feststellung des Kindesverhältnisses und auf Leistung von Unterhaltsbeiträgen erheben. X. ersuchte um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung. Der Gerichtspräsident lud ihn zur Abklärung der finanziellen Verhältnisse vor und erstellte über diese Verhandlung ein Protokoll, das mit der Bemerkung schliesst, X. erkläre, er ziehe sein Gesuch zurück und verzichte auf das Armenrecht. Gleichen Tages erliess der Gerichtspräsident folgende Verfügung:
"In der Rechtsstreitsache betreffend Erteilung des Armenrechtes im Vaterschaftsprozess Z. gegen X. habe ich gestützt auf die heutige Aussprache mit dem Gesuchsteller verfügt:
1. Das Armenrechtsgesuch wird zufolge Verzichts des Gesuchstellers als erledigt von der Kontrolle abgeschrieben.
2. Zustellung.
Begründung:
Der im vorliegenden Vaterschaftsprozess ins Recht gefasste Beklagte hat mit seiner Antwort vom 20.2.1979 das Gesuch um Gewährung des Armenrechtes gestellt. In der heutigen Verhandlung mit dem Gesuchsteller wurden die massgeblichen Einkommensverhältnisse abgeklärt. Diese sind derart, dass die Gewährung des Armenrechtes nicht in Frage kommen kann. Nach erfolgter Aussprache hat der Gesuchsteller den Rückzug seines Armenrechtsgesuches erklärt."
Gegen diese Verfügung liess X. durch einen Anwalt Beschwerde erheben mit dem Antrag, sie sei aufzuheben und es sei ihm die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen, einschliesslich der Vertretung durch einen Rechtsbeistand. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Verzicht des X. sei auf Grund der Belehrung durch den Bezirksgerichtspräsidenten "in offensichtlichem Irrtum über die Voraussetzungen der Bewilligung des Armenrechts" und "in laienhafter, unverschuldeter Rechtsunkenntnis" erfolgt und daher nicht verbindlich. Im weiteren folgten ausschliesslich Angaben über die finanziellen Verhältnisse des X. Das Obergericht trat auf die Beschwerde nicht ein, im wesentlichen mit der Begründung, X. sei durch die angefochtene Abschreibungsverfügung nicht beschwert, da sie entsprechend seiner eigenen Erklärung ergangen sei. In einer
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Eventualbegründung wurde beigefügt, X. habe im Zeitpunkt der fraglichen Erklärung sowohl seine eigenen finanziellen Verhältnisse als auch die mutmasslich zu erwartenden Gerichtskosten gekannt, weshalb das Vorliegen eines Irrtums bei materieller Prüfung verneint werden müsste.X. erhob gegen diesen Entscheid staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer erblickt Willkür darin, dass das Obergericht mit der Begründung, es fehle an einer Beschwer, nicht auf seine Beschwerde eingetreten sei, obschon er geltend gemacht habe, der Rückzug des Gesuches um unentgeltliche Prozessführung sei auf Grund einer falschen Rechtsbelehrung seitens des Bezirksgerichtspräsidenten erfolgt. In der Tat erweckt der Entscheid des Obergerichtes in diesem Punkt Bedenken. Zwar ist es formell richtig, dass der Bezirksgerichtspräsident seine Abschreibungsverfügung gestützt auf die Rückzugserklärung des Beschwerdeführers getroffen und somit nicht gegen dessen Antrag entschieden hat; doch dürfte die Folgerung, wonach in solchen Fällen ein Rechtsmittel mangels Beschwer grundsätzlich ausgeschlossen sei, wohl zu sehr auf die äusseren Vorgänge abstellen und die Interessenlage zu wenig berücksichtigen. Der angefochtene Entscheid scheint allerdings auf einer langjährigen aargauischen Praxis zu beruhen, die dahin geht, dass gerichtliche Abschreibungsbeschlüsse oder -verfügungen, die auf einer Willenserklärung der Parteien beruhen, wegen behaupteter Willensmängel nicht mit einem Rechtsmittel, sondern nur durch Klage in einem neuen, selbständigen Prozess angefochten werden können (KURT EICHENBERGER, Beiträge zum aargauischen Zivilprozessrecht, S. 204 unten). In der neueren Literatur wird jedoch mit überzeugenden, in erster Linie auf dem Grundsatz der Prozessökonomie beruhenden Erwägungen die Auffassung vertreten, Willensmängel solcher Art könnten mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden, soweit ein solches im kantonalen Recht überhaupt vorgesehen sei (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Auflage 1979, S. 403/404; die vom Obergericht mehrfach zitierte zweite Auflage dieses Werkes wurde vom Autor gerade im hier wesentlichen Punkt ergänzt; H. U. WALDER,
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Prozesserledigung ohne Anspruchsprüfung, S. 165; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, N. 25 zu § 188 und N. 11 zu § 271). Mag die Auffassung des Obergerichtes des Kantons Aargau, wonach zur Anfechtung eines Vergleiches oder eines Klagerückzugs wegen Willensmangels nur der Weg der selbständigen Klage offen stehe, trotz der entgegenstehenden Lehrmeinung im gewöhnlichen Zweiparteienverfahren noch haltbar sein, so erscheint sie doch im Verfahren betreffend unentgeltliche Prozessführung als nicht mehr vertretbar. Hier stehen sich nicht die beiden Parteien des Hauptprozesses, sondern nur der Gesuchsteller und das (den Staat "vertretende") Gericht gegenüber, so dass ein selbständiger Anfechtungsprozess ausser Betracht fällt. Dies hätte zur Folge, dass eine Erklärung betreffend Rückzug des Begehrens um unentgeltliche Prozessführung überhaupt nicht wegen eines Willensmangels angefochten werden könnte, was als unhaltbar erscheint.
2. Die Tatsache, dass das Obergericht das Eintreten auf die Beschwerde in sachlich nicht vertretbarer Weise abgelehnt hat, führt indessen nicht ohne weiteres dazu, dass sein Entscheid wegen Verletzung von Art. 4 BV aufgehoben werden müsste. Von der Aufhebung wird nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtes dann abgesehen, wenn die obere kantonale Instanz das bei ihr eingelegte Rechtsmittel im Eventualstandpunkt auch materiell geprüft und mit haltbaren Erwägungen als unbegründet bezeichnet hat; dies deshalb, weil bei einer solchen Sachlage eine Gutheissung der Beschwerde wegen formeller Rechtsverweigerung nur zu einer unnützen Verlängerung des Verfahrens führen würde (BGE 103 Ia 17; BGE 101 Ia 37).
Gegenstand der Beschwerde konnte nur das Dispositiv der Verfügung des Gerichtspräsidenten bilden (GULDENER, a.a.O., S. 494, Ziff. 4; STRÄULI/MESSMER, a.a.O., N. 11 zu § 51 und N. 4 zu § 271 ZPO; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, S. 190). Dieses Dispositiv lautet dahin, das Armenrechtsgesuch sei "zufolge Verzichts des Gesuchstellers als erledigt" von der Geschäftskontrolle abgeschrieben worden. Der Gerichtspräsident hat demnach über das Begehren nicht materiell entschieden. Die Tatsache, dass er dem Dispositiv unnötigerweise noch eine Begründung beigefügt hat, die aus zwei sich auf die materielle Seite des Gesuches beziehenden Sätzen besteht, ändert
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daran nichts. Das Obergericht hätte daher bei Eintreten auf die Beschwerde zunächst nur über die Frage zu entscheiden gehabt, ob die Abschreibungsverfügung zu Recht oder zu Unrecht ergangen sei, d.h. ob auf Seite des Beschwerdeführers ein wesentlicher Irrtum vorgelegen habe. Nur bei Bejahung dieser Frage hätte es diejenige nach den materiellen Voraussetzungen der unentgeltlichen Prozessführung prüfen müssen.Das Obergericht hat in knapper, aber ausreichender Form dargelegt, dass und weshalb die Berufung des Beschwerdeführers auf Irrtum nicht geschützt werden könnte. Diese Erwägung hält der Willkürrüge stand. Es trifft zu, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Rückzugs seines Armenrechtsgesuches über seine finanziellen Verhältnisse nicht im Unklaren gewesen sein kann und dass er auf Grund eines früheren Verfahrens sowie der Besprechung mit dem Bezirksgerichtspräsidenten auch über die zu erwartenden Prozesskosten, insbesondere diejenigen eines Blutgruppengutachtens, mindestens der Grössenordnung nach orientiert war. In der Beschwerdeschrift wird denn auch nichts Abweichendes behauptet, und es wird auch nicht geltend gemacht, der Irrtum habe die allfälligen Anwaltskosten betroffen. Unter diesen Umständen kann die ganz allgemein gehaltene Behauptung des Beschwerdeführers über einen Irrtum nur noch bedeuten, er habe die Aussichten seines Gesuches für den Fall eines bezirksgerichtlichen, eventuell obergerichtlichen Entscheides falsch eingeschätzt. Eine solche denkbare Fehleinschätzung der Prozesschancen kann jedoch nach den im Zivilprozessrecht analog anwendbaren Regeln von Art. 23 ff. OR (vgl. STRÄULI/MESSMER, a.a.O., N. 23 zu § 188 ZPO) unmöglich einen wesentlichen, d.h. rechtlich beachtlichen Irrtum darstellen; denn er bezieht sich auf eine unbestimmte, in der Zukunft liegende Tatsache (vgl. BGE 91 II 280 E. 3). Anders argumentieren hiesse zudem, jede einen Prozess beendigende Parteierklärung von vornherein der Anfechtung wegen Irrtums auszusetzen, gestützt auf die blosse Behauptung des Erklärenden, im Urteilsfalle hätte er Aussichten auf ein besseres Ergebnis gehabt. Dass dies schon im Hinblick auf die Rechtssicherheit nicht angeht, liegt auf der Hand.
Die Eventualbegründung des Obergerichts erweist sich nach dem Gesagten als sachlich vertretbar, und die staatsrechtliche Beschwerde ist daher abzuweisen.