BGE 108 Ia 90
 
18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 15. Januar 1982 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Ausnahmen vom Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung im Strafverfahren.
 
Sachverhalt


BGE 108 Ia 90 (90):

Im Zusammenhang mit verschiedenen Jugendunruhen in Zürich im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 1980 wird H. von der Bezirksanwaltschaft Zürich des wiederholten Landfriedensbruchs (Art. 260 StGB), der fortgesetzten Gewalt und Drohung gegen Beamte (Art. 285 Ziff. 2 Abs. 1 StGB), des Hausfriedensbruchs (Art. 186 StGB) und der Teilnahme an einer nicht bewilligten Demonstration (Art. 12 des Stadtratsbeschlusses Zürich über die Benützung des öffentlichen Grundes zu politischen Zwecken) angeklagt. Da er die ihm zur Last gelegten Handlungen wenige Tage nach Vollendung des 18. Altersjahrs begangen hatte, wurde die Anklage beim Bezirksgericht und nicht wie bei Volljährigen vor Geschworenengericht erhoben (§ 33 des Zürcher Gerichtsverfassungsgesetzes; GVG). In Anwendung von § 372 der Zürcher Strafprozessordnung (StPO) wurde ferner die Hauptverhandlung unter Ausschluss der

BGE 108 Ia 90 (91):

Öffentlichkeit angesetzt. Sie war für den 18. März 1981 vorgesehen. Vor Beginn der Verhandlung stellte der amtliche Verteidiger das Gesuch, die Hauptverhandlung sei öffentlich durchzuführen. Das Bezirksgericht wies das Begehren gestützt auf § 372 StPO ab. Unter Berufung auf § 135 Abs. 4 GVG gestattete es dem Angeklagten, zwei Freunde zur Verhandlung beizuziehen.- Gegen diesen Beschluss rekurrierte H. an das Obergericht des Kantons Zürich, das den Rekurs am 15. Mai 1981 abwies.
H. erhebt gegen diesen Beschluss des Obergerichts staatsrechtliche Beschwerde. Er rügt unter anderem eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und beantragt, der Beschluss sei aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich schliesst auf Abweisung der Beschwerde; das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. - Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
"Die Gerichtsverhandlungen gegen Minderjährige sind nicht öffentlich, wenn nicht gleichzeitig gegen Erwachsene verhandelt werden muss. Eltern, Vormünder und Fürsorger dürfen den Verhandlungen beiwohnen, ebenso die Geschädigten, diese aber in der Regel nur inbezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche."
Gemäss Abs. 2 kann das Gericht die Allgemeinheit ausnahmsweise durch Berichte über Verhandlungen, seinen Entscheid und deren Motive orientieren, wenn überwiegende öffentliche Interessen dies verlangen.
b) Der Beschwerdeführer hält dafür, der angefochtene Entscheid verstosse gegen den in Art. 6 Ziff. 1 EMRK niedergelegten Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung. Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährt jedermann einen Anspruch darauf, dass "seine Sache... öffentlich... gehört wird", und bestimmt im weiteren folgendes:
"Das Urteil muss öffentlich verkündet werden, jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während des gesamten Verfahrens oder eines Teils desselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der

BGE 108 Ia 90 (92):

Rechtspflege beeinträchtigen würden, in diesem Fall jedoch nur in dem nach der Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang."
c) Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane auf ein erstinstanzliches Strafverfahren, wie das vorliegende, grundsätzlich anwendbar. Der in der Bestimmung enthaltene Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung bezieht sich ferner auf die Publikums- und nicht bloss auf die Parteiöffentlichkeit (vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Engel u. Kons., En Droit § 89, in: Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, Vol. 22, S. 37). Die Schweiz hat inbezug auf den in Art. 6 Ziff. 1 EMRK niedergelegten Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung einen Vorbehalt angebracht. Dieser bezieht sich auf das Verfahren vor Verwaltungsbehörden sowie auf die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung (Art. 1 Abs. 1 lit. a des Bundesbeschlusses vom 3. Oktober 1974 über die Genehmigung der EMRK, AS 1974, 2148). Er kommt hier nicht zum Zug.
3. a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Er soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und allen übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung gewährleisten. Der Öffentlichkeit soll darüber hinaus ermöglicht werden, Kenntnis davon zu erhalten, wie das Recht verwaltet und wie die Rechtspflege ausgeführt wird (BGE 102 Ia 218; SCHULTZ, Der Grundsatz der Öffentlichkeit im Strafprozess, SJZ 69/1973 S. 129 ff.). Durch die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung wird es der Allgemeinheit ermöglicht, den Strafprozess unmittelbar zu verfolgen. Dieses Informationsinteresse wird nicht allein durch die Zugänglichkeit der Gerichtsverhandlung, sondern auch dadurch befriedigt, dass das Geschehen im Gerichtssaal durch die Berichterstattung in den Massenmedien einer breiten Öffentlichkeit vermittelt wird (BORNKAMM, Pressefreiheit und Fairness des Strafverfahrens, Baden-Baden 1980, S. 259). Die Rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit im Strafprozess verbietet einen Ausschluss der Öffentlichkeit dort, wo dies nicht durch überwiegende Gründe der staatlichen Sicherheit, öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit oder durch schützenswerte Interessen Privater vordringlich gefordert wird (BGE 102 Ia 218). In diesem Sinn sieht auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK Ausnahmen vom Grundsatz vor. Unter anderem kann danach die Öffentlichkeit und die Presse ausgeschlossen werden,

BGE 108 Ia 90 (93):

"wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen".
b) Der Beschwerdeführer hält dafür, Jugendlichkeit des Angeklagten sei für sich allein noch kein hinreichender Grund für den Ausschluss der Öffentlichkeit. Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlange eine differenzierte Interessenabwägung anhand der konkreten Umstände jedes einzelnen Falls. In seinem Fall hätten die konkreten Verhältnisse gefordert, dass die Öffentlichkeit zugelassen werde. Er habe nämlich das 18. Altersjahr vollendet und gelte nach den Kriterien des Strafgesetzbuches als Erwachsener (Art. 100 StGB); auch sei er urteilsfähig, weshalb seinem klaren Willen Rechnung getragen werden müsse, wonach er ausdrücklich die Öffentlichkeit der Verhandlung wünsche.
c) Das Obergericht führt aus, § 372 StPO schütze vornehmlich die Persönlichkeitsrechte des Jugendlichen. Diese könnten durch die Zulassung der Öffentlichkeit, vor allem der Presse, unter Umständen schwer beeinträchtigt werden. Dabei sei nicht nur an die unmittelbare Wirkung durch die Berichterstattung in den Medien, sondern auch an eine mögliche langfristige Nachwirkung zu denken. Der Beschwerdeführer stehe als Achtzehnjähriger in mancher Beziehung erst am Anfang seines Lebens. Erfahrungsgemäss könnten die Folgen zugelassener Öffentlichkeit im Strafverfahren für die weitere Entwicklung eines Angeklagten sehr bedeutend sein, namentlich wenn Dinge, die sein Vorleben beträfen, bekannt würden. Das Gesetz gehe mit Grund davon aus, dass der noch Minderjährige trotz mitunter bereits recht selbständiger Lebensführung, wie dies beim Beschwerdeführer der Fall sein möge, noch nicht in der Lage sei, derartige Folgen abzuschätzen. Ausserdem habe der Gesetzgeber in § 372 StPO nicht zuletzt auch deshalb eine feste Altersgrenze festgelegt, weil er dem Richter die Untersuchung und Entscheidung darüber habe abnehmen wollen, ob im Einzelfall der Angeklagte fähig sei, die Konsequenzen zugelassener Öffentlichkeit für ihn und seine Angehörigen abzuschätzen.
d) Die Öffentlichkeit im Jugendstrafverfahren auszuschliessen, entspricht gemeinschweizerischer Regel (vgl. SCHULTZ, a.a.O. S. 131; HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, S. 129 u. 228). Sie ist in der Rücksicht auf den Angeschuldigten begründet. Der junge Delinquent muss vor Blossstellung in der Öffentlichkeit, die sein Fortkommen erschweren könnte, geschützt werden. Gleichzeitig verhindert der Ausschluss der Öffentlichkeit, dass sich der Jugendliche in falscher Selbstüberschätzung

BGE 108 Ia 90 (94):

als Mittelpunkt des Geschehens betrachtet (BEGLINGER, Das Jugendstrafverfahren im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1972 S. 124). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt der grundsätzliche Ausschluss der Öffentlichkeit in Abwägung der sich gegenüberstehenden Prinzipien der Öffentlichkeit der Verhandlung und des Schutzes der Persönlichkeitsrechte des Angeklagten nach heutigen Rechtsempfinden einen vernünftigen Ausgleich dar. Dies lässt sich jedenfalls für die angefochtene zürcherische Regelung ohne Bedenken annehmen, wo als Korrektiv für den im Jugendgerichtsverfahren durchbrochenen Grundsatz die Publikumsöffentlichkeit wenigstens in beschränktem Mass durch Zulassung bestimmter Personen gewährleistet wird; gemäss § 372 StPO dürfen Eltern, Vormünder und Fürsorger der Verhandlung beiwohnen. Ausserdem darf, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, gemäss § 135 des Zürcher Gerichtsverfassungsgesetzes jede Partei, ausser ihrem Rechtsvertreter zwei Freunde oder Verwandte beiziehen, welche Möglichkeit dem Beschwerdeführer vom Bezirksgericht auch eröffnet worden ist. Es kommt hinzu, dass das Gericht gemäss § 372 Abs. 2 StPO die Allgemeinheit ausnahmsweise durch Bericht über die Verhandlungen, seinen Entscheid und dessen Motive orientieren kann, wenn überwiegende öffentliche Interessen dies verlangen. Selbst wenn die Öffentlichkeit gemäss § 372 Abs. 1 StPO ausgeschlossen werden muss, ist demnach eine im Interesse der Öffentlichkeit gebotene Orientierung über den wesentlichen Gang des Verfahrens grundsätzlich möglich, wobei dahingestellt bleiben kann, inwiefern aus § 372 Abs. 2 StPO allenfalls ein Informationsanspruch abgeleitet werden könnte (vgl. auch WETTSTEIN, Der Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafprozess, Diss. Zürich 1966 S. 130). Ein Verstoss gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK lässt sich bei dieser abgewogenen Ordnung nicht annehmen.
e) Der Beschwerdeführer erblickt eine Verletzung des Art. 6 Ziff. 1 EMRK auch darin, dass der Schutz gemäss § 372 StPO über das 18. Altersjahr hinausreiche. Er meint, der Begriff der "Jugendlichen" gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK gehe nicht soweit. Eine solche Beschränkung ist indessen aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht ersichtlich. Es erweckt verfassungsrechtlich keine Bedenken, alle Jugendlichen bis zur Volljährigkeit, d.h. bis zum 20. Altersjahr zu erfassen. Die Ausnahme vom Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung ist durch die Grenze der Volljährigkeit klar festgelegt, zeitlich genau beschränkt und bietet für eine missbräuchliche Handhabung keinen Ansatzpunkt (vgl. dazu PEUKERT, die Garantie

BGE 108 Ia 90 (95):

des "fair trial" in der Strassburger Rechtsprechung. Die Auslegung des Art. 6 EMRK durch die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: EuGRZ 1980, S. 247 ff.). Angesichts der statistisch festgestellten besonders hohen Deliktsanfälligkeit in den unmittelbar auf das 18. Altersjahr folgenden Jahren sowie mit Rücksicht darauf, dass auch über 20 Jahre alte Straftäter in ihrer Persönlichkeit oft noch ungefestigt und stark beeinflussbar sind, ist im Hinblick auf das im Vordergrund stehende Interesse des Jugendlichen sogar die Frage aufgeworfen worden, ob der Schutz durch Ausschluss der Öffentlichkeit nicht über den Beginn der Volljährigkeit hinaus ausgedehnt werden sollte (vgl. RIKLIN, Stigmatisierungsproblematik und Tätigkeit der Medien im Rahmen der Strafverfolgung und der Prozessberichterstattung, in: Stigmatisierung durch Strafverfahren und Strafverfolgung, Diessenhofen 1981, S. 141). Auch rechtsvergleichend betrachtet bildet der Schutz der Jugendlichen bis zum 20. Altersjahr nicht etwas Aussergewöhnliches. Es ist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die Regelung des deutschen Jugendgerichtsgesetzes hinzuweisen, wonach bei Heranwachsenden (18-21 Jahre) die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden kann, wenn dies im Interesse der Betroffenen geboten ist (§ 109 Abs. 1).