119 Ia 332
Urteilskopf
119 Ia 332
39. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. September 1993 i.S. X. gegen Generalprokurator-Stellvertreterin und Obergericht (Anklagekammer) des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK: Unschuldsvermutung. Kostenauflage an den wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand Beschuldigten trotz Einstellung des Verfahrens.
Ergibt die Blutprobe einen massgeblichen Wert von weniger als 0,8%o Blutalkoholgehalt und bestehen keine weiteren Anzeichen für die Angetrunkenheit des Beschuldigten, so dürfen ihm die Kosten der Untersuchung nicht auferlegt werden (E. 1).
In der Nacht vom 10. auf den 11. Februar 1993 wurde X. auf der Autobahn N 1 in Bern zur Kontrolle angehalten. Weil er nach Alkohol roch, musste er sich einem Blastest unterziehen, der 0,75 Gewichtspromille ergab. Die Blutprobe führte zu einem Ergebnis von 0,73 bis 0,83 Gewichtspromille. Der geschäftsleitende Untersuchungsrichter von Bern-Mittelland und der Staatsanwalt Bern-Mittelland gingen zugunsten von X. vom unteren Wert von 0,73 Gewichtspromille aus und gaben der Anzeige der Kantonspolizei wegen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand mit Beschluss vom 17./18. März 1993 keine Folge. X. wurde keine Entschädigung zugesprochen. Ausserdem wurden ihm die Verfahrenskosten von Fr. 400.-- auferlegt. Ein von X. dagegen erhobener Rekurs an die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern blieb erfolglos. Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. Mai 1993 stellte X. den Antrag, der Beschluss der Anklagekammer sei aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
1. a) Das Gesetz vom 20. Mai 1928 über das Strafverfahren des Kantons Bern (StrV) bestimmt über die Verfahrenskosten unter anderem folgendes:
Staatskosten
Art. 200
1 Wird die Untersuchung aufgehoben, so trägt der Staat in der Regel die Kosten des Verfahrens. Wurde der Strafantrag zurückgezogen, so gilt Art. 264.
2 Dem Privatkläger und dem Anzeiger, der nicht Angestellter der gerichtlichen Polizei ist, können im Falle von Arglist oder Fahrlässigkeit die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise auferlegt werden.
3 Hat der Angeschuldigte die Verdachtgründe, durch die das Verfahren veranlasst wurde, durch sein eigenes, ihm zum Verschulden anzurechnendes Verhalten erregt, so können ihm die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise auferlegt werden.
Die Anklagekammer verweist zunächst auf das nicht veröffentlichte Urteil des Bundesgerichts vom 29. Dezember 1992 i.S. H. c. Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern. Die Anklagekammer hält fest, dass sie sich durch dieses Urteil nicht veranlasst sehe, die jahrzehntelange Praxis zur Kostenauflage in derartigen Fällen zu ändern. Für die verfahrensmässigen Kostenfolgen von
BGE 119 Ia 332 S. 334
(erheblichem) Alkoholkonsum vor Antritt einer Fahrt habe nicht der Staat, sondern der Fahrzeuglenker selber einzustehen. Nach Auffassung des Durchschnittsbürgers sei riskantes Verhalten zu vermeiden; es dürfe nicht zu Lasten des Steuerzahlers gehen.Der Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, die Argumentation der Anklagekammer verletze das Rechtsgleichheitsgebot von Art. 4 BV und die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK.
b) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts dürfen einem Angeschuldigten bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens nur dann Kosten auferlegt werden, wenn er durch ein unter rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. Bei der Kostenpflicht des freigesprochenen oder aus dem Verfahren entlassenen Angeschuldigten handelt es sich nicht um eine Haftung für ein strafrechtliches Verschulden, sondern um eine zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten, durch das die Einleitung oder Erschwerung eines Prozesses verursacht wurde. Gemäss Art. 41 Abs. 1 OR ist zum Ersatz verpflichtet, wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit. Im Zivilrecht wird demnach eine Haftung dann ausgelöst, wenn jemandem durch ein widerrechtliches und - abgesehen von den Fällen der Kausalhaftung - ausserdem schuldhaftes Verhalten ein Schaden zugefügt wird. Widerrechtlich im Sinne von Art. 41 Abs. 1 OR ist ein Verhalten dann, wenn es gegen Normen verstösst, die direkt oder indirekt Schädigungen untersagen bzw. ein Schädigungen vermeidendes Verhalten vorschreiben. Solche Verhaltensnormen ergeben sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung, unter anderem aus Privat-, Verwaltungs- und Strafrecht, gleichgültig, ob es sich um eidgenössisches oder kantonales, geschriebenes oder ungeschriebenes Recht handelt (BGE 116 Ia 168 E. c, mit zahlreichen Hinweisen). Wie das Bundesgericht festgehalten hat, ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar, einem nicht verurteilten Angeschuldigten die Kosten dann zu überbinden, wenn er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine solche Verhaltensnorm klar verstossen und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 116 Ia 171 E. d und 175 E. e).
c) Gemäss Art. 91 Abs. 1 SVG wird bestraft, wer in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt. Unter dem Marginale "Angetrunkenheit" bestimmt Art. 55 Abs. 1 SVG, dass der Bundesrat
BGE 119 Ia 332 S. 335
festlegt, bei welcher Blutalkoholkonzentration unabhängig von weiteren Beweisen und individueller Alkoholverträglichkeit Angetrunkenheit im Sinne dieses Gesetzes angenommen wird. Aus dieser gesetzlichen Ordnung geht hervor, dass nicht jeder bestraft werden soll, der eine noch so geringe Menge Alkohol zu sich nimmt und anschliessend ein Motorfahrzeug führt. Soweit nicht andere Beweise für eine Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit vorliegen, ist nur strafbar, wer vor der Fahrt soviel Alkohol zu sich nimmt, dass er im Sinne des Gesetzes angetrunken ist. Das Strassenverkehrsgesetz erlaubt es dem Fahrzeugführer somit ausdrücklich, auch dann ein Motorfahrzeug zu führen, wenn er vorher eine geringe Menge Alkohol zu sich genommen hat, sofern er fahrfähig ist (vgl. Art. 31 Abs. 2 SVG). Der Bundesrat legte in Art. 2 Abs. 2 VRV fest, dass Fahrunfähigkeit wegen Alkoholeinflusses - vorbehältlich anderer Beweise - nur dann in jedem Fall als erwiesen gilt, wenn die Blutalkoholkonzentration 0,8 Gewichtspromille beträgt.Mit dieser Regelung haben der Gesetz- und der Verordnungsgeber in Kauf genommen, dass in Grenzfällen verhältnismässig teure Untersuchungen (Blutprobe) durchgeführt werden müssen und dem Fahrzeugführer nachher doch keine Angetrunkenheit nachgewiesen werden kann. Weil es grundsätzlich erlaubt ist, nach geringem Alkoholkonsum ein Fahrzeug zu führen, darf es einem Fahrzeuglenker auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn eine Blutprobe erforderlich ist, um festzustellen, dass der Blutalkoholgehalt 0,8%o nicht erreicht. In diesem Fall ist eine Haftung des Fahrzeuglenkers für die Untersuchungskosten entsprechend den Grundsätzen von Art. 41 OR ausgeschlossen.
d) Der Beschwerdeführer hat mit einer massgeblichen Alkoholkonzentration von 0,73 Gewichtspromille ein Motorfahrzeug geführt. Das ist in der schweizerischen Rechtsordnung nicht verboten. Irgendein Hinweis, dass der Beschwerdeführer wegen der Alkoholeinwirkung nicht mehr fahrfähig gewesen wäre, liegt nicht vor. Da die Rechtsordnung das Verhalten des Beschwerdeführers nicht verbietet, war es mit Art. 4 BV unvereinbar, ihm die Kosten der eingestellten Strafuntersuchung zu überbinden. Die staatsrechtliche Beschwerde ist gutzuheissen, und der angefochtene Entscheid ist aufzuheben. Offen bleiben kann unter diesen Umständen, ob der angefochtene Beschluss auch die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK verletzt.
Referenzen
BGE: 116 IA 168, 116 IA 171
Artikel: Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 41 Abs. 1 OR, Art. 200 mehr...