101 Ib 217
Urteilskopf
101 Ib 217
41. Entscheid vom 4. Juni 1975 i.S. Erben Viotti und Mitbeteiligte gegen Schweiz. Bundesbahnen, Kreis I
Regeste
Anschlussbeschwerde an das Bundesgericht in eidgenössischen Enteignungssachen.
Die Partei, die selbst Beschwerde eingereicht hat, kann nicht zusätzlich noch den Anschluss an die Beschwerde der Gegenpartei erklären (E. 1 und 2). Ausnahmefall (E. 3).
In den in Frage stehenden Enteignungsfällen fochten sowohl die Enteigneten als auch der Enteigner den Entscheid der Eidg. Schätzungskommission (ESchK), Kreis 4, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach Art. 77 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG) an. Nachdem der Vertreter der Enteigneten, Rechtsanwalt W. Bittel, Visp, die Beschwerde der SBB zur Vernehmlassung erhalten hatte, reichte er innerhalb der in Art. 78 Abs. 1 EntG vorgesehenen zehntägigen Frist weitere Rechtsschriften ein, die er als Anschluss-, bzw. Ergänzungsbeschwerden bezeichnete. Diese Anschlussbeschwerden
BGE 101 Ib 217 S. 218
richten sich gegen Punkte des ESchK-Entscheides, die in der zunächst eingereichten Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Enteigneten unangefochten geblieben sind.Aus prozessökonomischen Gründen ist über die Zulässigkeit dieser Anschlussbeschwerden durch einen Zwischenentscheid zu befinden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. a) Aus dem ursprünglichen Wortlaut des Enteignungsgesetzes vom 20. Juni 1930 ging klar hervor, dass es der Partei, die selbst den Weiterzug erklärt hatte, verwehrt war, zusätzlich noch den Anschluss an die Weiterziehung des Gegners zu erklären. Dies ergab sich aus Art. 78 Abs. 2 aEntG, wonach die Gegenpartei "nach Empfang der Mitteilung von der Weiterziehungserklärung den Anschluss erklären und dabei Anträge stellen kann, wie wenn sie selbständig die Weiterziehung erklärt hätte" ("... se joindre à celui-ci et prendre des conclusions comme si elle avait formé un recours indépendant"; "... aderire a quest'ultimo e presentare dal canto suo delle conclusioni come se avesse presentato un ricorso a sé").
b) Die mit dem Gesetz vom 20. Juni 1930 neu eingeführte Möglichkeit der Anschluss-Weiterziehung war in Anlehnung an die Zivilrechtspflege, nämlich an die Anschlussberufung gemäss Art. 70 aOG geschaffen worden (BBl 1926 II 80; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 4 zu Art. 78). Nach der Rechtsprechung zu Art. 70 aOG stand der Partei, die ihrerseits vom Recht der Berufung Gebrauch gemacht hatte, nicht auch noch die Anschlussberufung an die gegnerische Hauptberufung offen. Ebensowenig war der Anschluss an eine Anschlussberufung zugelassen (BGE 41 II 331, BGE 62 II 47).
Auch nachdem im Jahre 1943 Art. 70 aOG durch den neu formulierten Art. 59 OG ersetzt worden war, wurde diese Rechtsprechung beibehalten (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, N. 2 zu Art. 59, S. 223 f.; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes i.S. Bäriswyl & Kons. vom 15.2.1961). Dies offensichtlich aus dem Grunde, weil die neu hinzugefügte Bestimmung, der Berufungsbeklagte könne die Anschlussberufung erklären, "selbst wenn er auf die Berufung verzichtet hatte", in dem Sinne zu verstehen ist, dass auch demjenigen die Möglichkeit des Anschlusses offen bleibt, der - etwa im
BGE 101 Ib 217 S. 219
kantonalen Verfahren - ausdrücklich auf die Berufung verzichtet hat. Dieser Zusatz ist dagegen nicht so auszulegen, dass die Anschlussberufung "a fortiori" demjenigen offenstehen muss, der schon selbst Berufung eingelegt hat.
2. Bei der Revision des Enteignungsgesetzes ist die in Art. 78 aEntG enthaltene Wendung "wie wenn sie selbständig die Weiterziehung erklärt hätte" (vgl. Erw. 1a) nicht mehr übernommen worden. Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit des Anschlusses habe erweitern und diejenige Partei, welche bereits selbst eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht hat, zum Anschluss an die Beschwerde des Gegners habe zulassen wollen. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich vielmehr, dass die Meinung bestand, die alte Regelung solle beibehalten werden; die Neuformulierung von Art. 78 EntG bezweckte nur die Anpassung an die Bestimmungen des neuen OG (BBl 1970 I/2 S. 1015). Mit Recht ist demzufolge nach der Gesetzesrevision das Formular des Bundesgerichtes nicht abgeändert worden, mit welchem die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Gegenpartei zugestellt wird und das den Adressaten auf die Möglichkeit hinweist, innert zehn Tagen den Anschluss zu erklären, "falls er nicht bereits selbst eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht hat".
3. Eine Ausnahme muss jedoch gemacht werden für den Fall, dass der Entscheid der Schätzungskommission mehrere Grundstücke des gleichen Enteigneten betrifft, die keine wirtschaftliche Einheit bilden. Bezieht sich hier die Hauptbeschwerde nur auf die für ein bestimmtes Grundstück zugesprochene Entschädigung, so kann der Beschwerdegegner mit der Anschlussbeschwerde nicht auch noch die Überprüfung der für die anderen Grundstücke zugesprochenen Entschädigung verlangen (BGE 97 I 766). Demnach muss folgerichtig auch derjenige zur Anschlussbeschwerde zugelassen werden, der zwar bereits Hauptbeschwerde eingereicht, mit dieser aber nicht die Entschädigung für diejenigen Grundstücke angefochten hat, auf welche sich die Hauptbeschwerde des Gegners bezieht.
Die Voraussetzungen für diesen Ausnahmefall sind vorliegend nicht gegeben, da die Entschädigungen für alle in Frage stehenden Grundstücke mit der Hauptbeschwerde der Enteigneten angefochten worden sind.
BGE 101 Ib 217 S. 220
4. Auf die Anschlussbeschwerden ist daher nicht einzutreten. Dass sie ebensowenig als "Ergänzungen" der schon eingereichten Beschwerden behandelt werden können, steht ausser Zweifel; dies würde eine unzulässige Erstreckung der gesetzlichen Beschwerdefrist bedeuten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Anschlussbeschwerden der Enteigneten wird nicht eingetreten.
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