BGE 105 Ib 197
 
31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. Juli 1979 i.S. Rohr gegen NOK/SBB und Stellvertreter des Präsidenten der Eidg. Schätzungskommission, Kreis 8 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Vorzeitige Besitzeinweisung nach Art. 53 ElG.
Die vorzeitige Besitzeinweisung nach Art. 53 ElG kann erst nach der Erteilung des Enteignungsrechtes an das Elektrizitätswerk gewährt werden (E. 1d, e).
Verhältnis von Art. 53 ElG zu Art. 76 EntG (E. 2).
 
Sachverhalt


BGE 105 Ib 197 (198):

Die Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK) erstellt gemeinsam mit den SBB eine neue Hochspannungsleitung zwischen den Unterwerken Oftringen und Rupperswil. Die Leitung soll unter anderem über die in der Gemeinde Hunzenschwil gelegene Parzelle Nr. 687 von Ernst Rohr-Richner führen. Da Rohr das verlangte Überleitungsrecht nicht freiwillig abtrat, wurde gegen ihn ein Enteignungsverfahren eingeleitet. Rohr reichte gestützt auf Art. 35 ff. EntG eine als "Einsprache" bezeichnete Eingabe ein, in welcher er Realersatz oder Übernahme des ganzen Grundstückes durch die Leitungseigentümerinnen verlangte. Die Einigungsverhandlung verlief erfolglos, worauf die NOK den Stellvertreter des Präsidenten der Schätzungskommission um Bewilligung der vorzeitigen Besitzeinweisung ersuchte. Am 9. Juni 1979 gab der Präsident-Stellvertreter dem Gesuch der NOK statt. Gegen diesen Entscheid hat Rohr Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
 
Erwägungen:
1. a) Das in Art. 1 umschriebene Enteignungsrecht kann entweder vom Bunde selbst ausgeübt oder an Dritte übertragen werden, und zwar - je nach Bedeutung des Werkes - durch Bundesbeschluss oder Bundesgesetz (Art. 2 und Art. 3 Abs. 2 EntG). Ermächtigt der Bundesbeschluss oder das Bundesgesetz den Dritten nicht generell zur Enteignung, sondern muss das Enteignungsrecht in jedem Einzelfall noch ausdrücklich erteilt werden, so entscheidet darüber nach Art. 3 Abs. 3 EntG, sofern es sich nicht um Konzessionen handelt, das in der Sache zuständige Departement. Diese Bestimmung ist zur Klarstellung der Kompetenzverhältnisse am 18. März 1971 ins revidierte Enteignungsgesetz aufgenommen worden (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. Mai 1970, BBl 1970 I, S. 1018 N. 3.5). Sie steht in Übereinstimmung mit dem zur gleichen Zeit abgeänderten Art. 55 EntG, welcher den Entscheid über Einsprachen gegen die Enteignung neu dem Departement statt dem Bundesrat überträgt und welcher seinerseits auf der vorangegangenen Neufassung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege beruht, wonach Einsprachenentscheide in Enteignungssachen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht unterliegen (vgl. Art. 99 lit. c OG; Art. 23 Abs. 2 VwOG

BGE 105 Ib 197 (199):

in der durch das am 20. Dezember 1968 revidierte OG abgeänderten Fassung; HEINZ HESS, Probleme des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens aus der Sicht des Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartementes, ZBl 74/1973, S. 368).
b) Den Eigentümern von elektrischen Starkstromanlagen und den Bezügern elektrischer Energie steht in der Regel das Enteignungsrecht für die Einrichtungen zur Fortleitung und Verteilung der elektrischen Energie nicht schon von Gesetzes wegen zu; es muss ihnen in jedem Einzelfall ausdrücklich übertragen werden. Nach dem Text von Art. 43 Abs. 1 ElG, welcher leider bei der Revision des Enteignungsgesetzes im Jahre 1971 nicht an die neue Kompetenzordnung angepasst wurde, wäre die Gewährung des Enteignungsrechtes in diesen Fällen Sache des Bundesrates. Wie bereits ausgeführt, liegt jedoch die Zuständigkeit nach der geltenden Regelung beim Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement beziehungsweise, wenn keine Einsprachen vorliegen, bei dessen Generalsekretariat (Art. 23 Abs. 2 VwOG; Art. 57 Ziff. 3 des Bundesratsbeschlusses betreffend die Zuständigkeit der Departemente und der ihnen unterstellten Amtsstellen zur selbständigen Erledigung von Geschäften vom 17. November 1914 und Art. 1 Ziff. 7 der Verfügung des Eidg. Post- und Eisenbahndepartementes betreffend die Übertragung von Geschäften an die Abteilung Rechtswesen und Sekretariat und an die Eisenbahnabteilung zur selbständigen Erledigung vom 1. Februar 1932).
c) Für die Verleihung des Enteignungsrechtes für Einrichtungen zur Fortleitung und Verteilung der elektrischen Energie ist ein spezielles, in der schweizerischen Rechtsordnung einzig dastehendes Verfahren vorgesehen. Das Unternehmen hat den Präsidenten der Schätzungskommission, noch bevor es mit dem Enteignungsrecht ausgestattet worden ist, um Einleitung des Enteignungsverfahrens zu ersuchen. Können sich in der Folge das Unternehmen und die betroffenen Grundeigentümer an der Einigungsverhandlung sowohl über die abzutretenden Rechte als auch über die Entschädigungen ins Einvernehmen setzen, so wird das Verfahren abgeschlossen. Wird dagegen an Einsprachen festgehalten oder können sich die Parteien über Entschädigungsfragen nicht einigen, so überweist der Präsident der Schätzungskommission die Akten dem Departement zur Erteilung des Enteignungsrechtes bzw. zum Entscheid darüber,

BGE 105 Ib 197 (200):

welche Rechte das Unternehmen für sich in Anspruch nehmen kann und diesem demnach auf dem Enteignungswege zu übertragen sind (Art. 43, 50 ElG; vgl. unter Berücksichtigung der inzwischen erfolgten Gesetzesänderungen BGE 96 I 191 E. 2; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 15, 16 zu Art. 2 EntG, N. 1, 11, 12 zu Art. 43 ElG und N. 4, 9, 10 ff. zu Art. 50 ElG).
d) Das Elektrizitätsgesetz enthält im weiteren besondere Vorschriften über das Enteignungsverfahren selbst, die den allgemeinen Bestimmungen des Enteignungsgesetzes, welche im übrigen anwendbar sind, vorgehen (Art. 43 Abs. 1 und Art. 49 ElG; HESS, a.a.O., N. 11 zu Art. 43 ElG). So werden in Art. 53 ElG die Voraussetzungen für die vorzeitige Besitzeinweisung speziell umschrieben. Die heutige Fassung dieser Bestimmung, die durch eine Gesetzesänderung bei der Schaffung des Enteignungsgesetzes im Jahre 1930 entstand, führte damals für die Werkeigentümer im Vergleich zu den Vorschriften des Elektrizitätsgesetzes von 1902 einerseits zu Erschwerungen für den Bau von elektrischen Leitungen, andererseits zu Erleichterungen für die Erstellung anderer elektrischer Anlagen (HESS, a.a.O., N. 1, 2 zu Art. 53 ElG). Im Vergleich zu Art. 76 EntG in der Fassung von 1930 brachte hingegen die Bestimmung von Art. 53 ElG für die Elektrizitätswerke nur Vorteile. Sie ermöglichte die vorzeitige Besitzeinweisung vor Durchführung der Einigungsverhandlung, und zwar durch Entscheid des Präsidenten allein, ohne dass zuvor die ganze Kommission einen Augenschein vorgenommen hätte; zudem befreite sie den Enteigner vom Nachweis, dass ihm ohne die vorzeitige Inbesitznahme bedeutende Nachteile entstünden (vgl. Art. 76 aEntG; HESS, a.a.O., N. 7, 9 zu Art. 53 ElG, N. 6, 7, 8 zu Art. 76 aEntG).
Zum Verhältnis von Art. 53 ElG zum heute geltenden, seit 1972 in Kraft stehenden Text von Art. 76 EntG wird weiter unten (E. 2) die Rede sein.
e) Die vorzeitige Besitzeinweisung kann vom Präsidenten der Schätzungskommission in Anwendung von Art. 53 ElG, wie ausdrücklich im Gesetz festgehalten ist, erst "nach der Plangenehmigung" ("après approbation des plans", "approvati che siano i piani") bewilligt werden. Unter Plangenehmigung im Sinne von Art. 53 ElG ist die Genehmigung des Enteignungsplanes und die damit verbundene Erteilung des Enteignungsrechtes

BGE 105 Ib 197 (201):

an das Elektrizitätswerk (die sog. Feststellung des Enteignungsfalles) zu verstehen, beziehungsweise der Entscheid über allfällige Einsprachen; im Einsprachenentscheid hat das Departement die im konkreten Falle dem Werkeigentümer zu übertragenden Rechte im einzelnen und - unter Vorbehalt einer Ausdehnung der Enteignung im Sinne von Art. 12 und 13 EntG oder eines verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens vor Bundesgericht - endgültig zu bezeichnen (HESS, a.a.O., N. 1, 5 zu Art. 53 ElG; vgl. BGE 96 I 191 f.).
Zu Unrecht geht der Präsident-Stellvertreter der Schätzungskommission im angefochtenen Entscheid davon aus, dass mit der Plangenehmigung im Sinne von Art. 53 ElG die - den Leitungseigentümerinnen am 13. Juli 1978 erteilte - Genehmigung des Eidg. Starkstrominspektorates gemeint sei. Die Genehmigung des Werkplanes durch das Starkstrominspektorat gemäss Art. 15 Abs. 2 ElG steht mit dem Enteignungsverfahren in keinem Zusammenhang; ihr kommt lediglich der Charakter einer Polizeierlaubnis zu (HESS, a.a.O., Vorbemerkungen zu Abschnitt V vor Art. 55 EntG, N. 1-3, 9, 20; vgl. über die beiden analogen Institute im Eisenbahngesetz BGE 101 Ib 283 f. E. 2d). Dass Art. 53 ElG auf die Genehmigung des Enteignungsplanes durch das Starkstrominspektorat Bezug nimmt, ergibt sich übrigens auch klar aus der Verordnung über die Vorlagen für elektrische Stromanlagen vom 26. Mai 1939. Nach Art. 84 dieser Verordnung darf mit dem Bau einer elektrischen Anlage erst begonnen werden, wenn keine enteignungsrechtlichen Hindernisse mehr vorliegen, was vor dem Erwerb der expropriierten Rechte durch den Enteigner nur dann der Fall ist, "wenn nach Erteilung des Enteignungsrechtes durch den Bundesrat (heute durch das Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement) der Präsident der Schätzungskommission dem Enteigner die vorzeitige Besitzeinweisung (Art. 53 des Elektrizitätsgesetzes) bewilligt hat" (lit. b), wenn im bundesgerichtlichen Verfahren der Instruktionsrichter die vorläufige Vollstreckung der Enteignung verfügt (lit. c) oder der Enteignete den Enteigner ausdrücklich zur vorzeitigen Inbesitznahme ermächtigt hat (lit. d).
Da der NOK das Enteignungsrecht noch nicht erteilt worden ist, durfte ihr die vorzeitige Inbesitznahme, die als schwerwiegender und zwingender Eingriff in die Eigentumsrechte nur einem Inhaber hoheitlicher Machtbefugnisse zustehen kann,

BGE 105 Ib 197 (202):

nicht bewilligt werden (vgl. zur Notwendigkeit der Übertragung des Enteignungsrechtes BGE 104 Ib 343 E. 3b mit Hinweisen, BGE 99 Ib 488 ff.). Daran ändert nichts, dass die am fraglichen Teilstück der Hochspannungsleitung mitbeteiligten SBB das Enteignungsrecht schon von Gesetzes wegen besitzen, und zwar nicht nur für eigentliche Eisenbahnanlagen, sondern auch für die dem Bahnbetrieb dienenden elektrischen Leitungen (Art. 3 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957). Wie das Bundesgericht bereits im nicht publizierten Entscheid i.S. Siber und Wehrli AG vom 21. Dezember 1977 entschieden hat, müssen alle Eigentümer einer Gemeinschaftsleitung mit dem Enteignungsrecht ausgestattet sein. Die angefochtene Verfügung des Stellvertreters des Präsidenten der Schätzungskommission ist daher aufzuheben.
Art. 76 EntG hat bei der Revision vom 18. März 1971 in verschiedener Hinsicht bedeutende Änderungen erfahren, die auf das Bestreben zurückzuführen sind, einerseits das Verfahren zu vereinfachen und andererseits die Parteirechte zu stärken. Während nach dem früheren Recht der Entscheid über die Besitzeinweisung endgültig war (Art. 76 Abs. 3 aEntG), kann er heute - hinsichtlich der Besitzeinweisung selbst und der Pflicht zur Sicherstellung, dagegen nicht in bezug auf allfällige Abschlagszahlungen - mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden (Art. 29 Abs. 4 der Verordnung für die eidgenössischen Schätzungskommissionen), wenn auch nur innert einer verkürzten Frist von 20 Tagen (Art. 76 Abs. 6 EntG). Im weiteren wird in der neuen Gesetzesbestimmung der Entscheid über die vorzeitige Besitzeinweisung, gemäss dem Vorbild des Elektrizitätsgesetzes (zit. Botschaft des Bundesrates, S. 1014), im Regelfall dem Präsidenten der Schätzungskommission allein übertragen. Und schliesslich ist als wichtigste Neuerung die vorzeitige Besitzeinweisung nunmehr auch vor der rechtskräftigen Erledigung der Einsprachen zu gewähren, doch darf dem Gesuch nur insoweit entsprochen werden, als keine bei nachträglicher Gutheissung nicht wieder gutzumachenden Schäden entstehen (Art. 76 Abs. 4 EntG, vgl. zit. Botschaft des Bundesrates, S. 1014; s. auch den abgeänderten Text von Art. 52 EntG,

BGE 105 Ib 197 (203):

wonach das Festhalten an einer Einsprache in der Einigungsverhandlung nicht notwendigerweise zur Sistierung des Schätzungsverfahrens führt).
Aus dem Vergleich von Art. 53 ElG und Art. 76 EntG in der geltenden Fassung ergibt sich klar, dass die allgemeinen Bestimmungen des Enteignungsgesetzes über die vorzeitige Besitzeinweisung für die Unternehmen günstiger sind als die Spezialvorschriften des Elektrizitätsgesetzes, die im Zeitpunkt ihrer Aufnahme in das Gesetz im Jahre 1930 die Elektrizitätswerke gegenüber den anderen Unternehmungen privilegierten. Nun besteht kein Zweifel, dass der Gesetzgeber von 1970 nicht die Absicht hatte, gerade die vom früheren Recht begünstigten Elektrizitätswerke, die mit der Versorgung des Landes mit elektrischer Energie eine äusserst wichtige, im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe erfüllen, von den Vorteilen des revidierten Art. 76 EntG auszuschliessen. Es würde daher zwar dem Wortlaut von Art. 53 ElG, nicht aber dem Willen des Gesetzgebers und dem Zweck dieser Bestimmung widersprechen, wenn bei Enteignungen für elektrische Anlagen Art. 76 EntG als allgemeiner, jedoch jüngerer Vorschrift gegenüber der Spezialvorschrift von Art. 53 ElG insoweit der Vorrang eingeräumt würde, als die vorzeitige Besitzeinweisung durch die Norm des Enteignungsgesetzes Erleichterungen erfährt.
Eine solche Gesetzesauslegung würde die Situation für die Elektrizitätswerke allerdings nur verbessern, wenn das Verfahren zur Erteilung des Enteignungsrechtes vom Einspracheverfahren abgetrennt und diesem vorangestellt würde. Erst die Aufteilung des Genehmigungsverfahrens ermöglichte es, den Elektrizitätswerken nach der Übertragung des Enteignungsrechtes - unabdingbare Voraussetzung zur Anwendung sowohl von Art. 76 EntG als auch von Art. 53 ElG - die vorzeitige Besitzeinweisung auch dann zu gewähren, wenn über Einsprachen noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Eine solche Lösung, die durch blosse Praxisänderung der Verwaltungsbehörden zu verwirklichen wäre, wurde offenbar schon von Hess, noch während das alte Enteignungsgesetz in Kraft stand, für zweckmässiger als die heutige Regelung gehalten (HESS, a.a.O., N. 16 zu Art. 3 EntG, N. 9 ff. zu Art. 50 Abs. 2 ElG).
Es steht jedoch dem Bundesgericht nicht zu, darüber zu befinden, in welchem Zeitpunkt und welchem Verfahren die Übertragung des Enteignungsrechtes an Elektrizitätswerke zu

BGE 105 Ib 197 (204):

erfolgen habe. Verwaltungsverfügungen, durch welche Dritten das Enteignungsrecht für ein bestimmtes Werk unter Vorbehalt des Einspracheverfahrens erteilt wird, sind nämlich nach Art. 102 lit. d OG der Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht wäre im Falle einer Aufteilung des Genehmigungsverfahrens durch das Departement erst gegen den Einsprachenentscheid zulässig (Art. 99 lit. c OG). Immerhin kann das Bundesgericht in seiner Eigenschaft als Aufsichtsbehörde in Enteignungssachen das Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement auf die sich hier stellenden Fragen aufmerksam machen und ihm deren Prüfung nahelegen.