BGE 107 Ib 74
 
16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. März 1981 i.S. W. gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (Einsprache gemäss Auslieferungsgesetz)
 
Regeste
Art. 10 und Art. 28 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens; Art. IV Abs. 1 des Vertrages zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung (SR 0.353.913.61).
 


BGE 107 Ib 74 (75):

Aus den Erwägungen:
Nach Art. 10 EAUe wird die Auslieferung nicht bewilligt, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist.
a) Die ungetreue Geschäftsführung nach Art. 159 StGB und die Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 StGB verjähren relativ in 5, absolut in 7 1/2 Jahren (Art. 70 Abs. 3, 72 Ziff. 2 Abs. 2 StGB); die qualifizierte Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 2 StGB verjährt relativ in 10, absolut in 15 Jahren. Die Untreue gemäss § 266 dStGB verjährt - auch in besonders schweren Fällen (dazu § 78 Abs. 4 dStGB) - relativ in 5, absolut in 10 Jahren (§ 78 Abs. 3 Ziff. 4, 78c Abs. 3 dStGB). Die Verjährung beginnt an dem Tag, an dem der Täter die strafbare Tätigkeit ausführt (Art. 71 Abs. 1 StGB; § 78a dStGB), wobei nach schweizerischer Praxis (BGE 97 IV 238), anders als im deutschen Recht (DREHER/TRÖNDLE, N. 12 zu § 78a dStGB), der Tag der Tatausführung nicht mitgezählt wird. Beim fortgesetzten Delikt, das dann vorliegt, wenn die mehreren gleichartigen oder ähnlichen strafbaren Handlungen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet sind, auf ein und denselben Willensentschluss des Täters zurückgehen (BGE 102 IV 77 E. 2a mit Verweisungen; entsprechend die deutsche Lehre und Rechtsprechung, s. SCHÖNKE/SCHRÖDER, N. 34 ff. der Vorbem. zu §§ 52 ff., DREHER/TRÖNDLE, N. 25 ff. vor § 52 dStGB), beginnt die Verjährung an dem Tag, an dem die letzte Tätigkeit ausgeführt wurde (Art. 71 Abs. 2 StGB; ebenso für das deutsche Recht DREHER/TRÖNDLE, N. 6 zu § 78a mit Hinweisen auf die höchstrichterliche

BGE 107 Ib 74 (76):

Rechtsprechung, a.A. SCHÖNKE/SCHRÖDER, N. 9 zu § 78a, N. 33 vor § 52 ff.).
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, zwischen den mehreren ihm zur Last gelegten Untreuehandlungen bestehe kein Fortsetzungs-, sondern ein Wiederholungszusammenhang, weshalb hinsichtlich einer Vielzahl dieser Handlungen die Verjährung eingetreten sei.
Im Haftbefehl des Landgerichts Frankfurt/Main, der dem Auslieferungsgesuch des Hessischen Ministers der Justiz beigelegt ist, wird W. vorgeworfen, er habe die strafbaren Handlungen "in Tatmehrheit" verübt. Auf Verlangen des Bundesgerichts ersuchte das Bundesamt für Polizeiwesen (gestützt auf Art. 13 EAUe) die deutschen Behörden unter anderem um eine Klärung dieses Begriffs. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt/Main und dieses selber hielten übereinstimmend fest, dass die Worte "in Tatmehrheit" irrtümlich in den Auslieferungshaftbefehl übernommen worden seien; denn die Delikte, mit welchen die fortgesetzte Untreue hätte "in Tatmehrheit" stehen können (Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Vergehen nach dem Wirtschaftsstrafgesetz 1952 in Verbindung mit Militärregierungsgesetz Nr. 53 sowie Steuerhinterziehung) seien mangels Auslieferungsfähigkeit weggefallen. Aus diesen einleuchtenden Erklärungen geht deutlich hervor, dass nach Ansicht der deutschen Behörden zwischen den verschiedenen W. zur Last gelegten Untreuehandlungen ein Fortsetzungs- und nicht ein Wiederholungszusammenhang bestehe. Der im Haftbefehl geschilderte Sachverhalt, von dem der schweizerische Auslieferungsrichter grundsätzlich nur im Falle offensichtlicher Fehler, Lücken und Widersprüche abweichen kann (BGE 105 Ib 425 E. 4b, BGE 103 Ia 629, BGE 101 Ia 424 E. 5, 611), die hier nicht ersichtlich sind, lässt den Schluss auf einen einheitlichen Willensentschluss des Täters und demzufolge auf eine Fortsetzungstat an sich durchaus zu.
Die letzte Tathandlung wurde laut Haftbefehl am 23. November 1973 verübt. Die Verfolgungsverjährung begann somit nach deutschem Recht an diesem, nach schweizerischer Rechtsprechung am darauffolgenden Tag.
c) Im folgenden ist zu prüfen, ob die bei Annahme ungetreuer Geschäftsführung (Art. 159 StGB) bzw. Untreue (§ 266 dStGB) 5 Jahre betragende Verjährungsfrist unterbrochen worden sei, wie die deutschen Behörden annehmen und was der Einsprecher bestreitet.


BGE 107 Ib 74 (77):

Gemäss Art. IV Abs. 1 des Vertrages zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung (SR 0.353.913.61) sind für die Unterbrechung der Verjährung allein die Vorschriften des ersuchenden Staates massgebend. Nach Auffassung der schweizerischen (und wahrscheinlich auch der deutschen) Behörden ist die Unterbrechung der Verjährung im EAUe nicht geregelt (BBl 1970 II 245). Diese Lücke sollte im Vertrag zwischen der BRD und der Schweiz geschlossen werden. Dabei sollte namentlich auch den Interessen der Schweiz, nach deren Recht (Art. 72 Ziff. 2, 75 Ziff. 2 StGB) die Strafverfolgungsverjährung nicht nur durch richterliche Handlungen, sondern auch durch bestimmte Handlungen der Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsorgane unterbrochen werden kann (s. die von beiden Vertragsparteien unterzeichneten "Bemerkungen" zu Art. IV des Vertrages), Rechnung getragen werden (BBl 1970 II 242, 243; s. auch MÖRSBERGER, Das Prinzip der identischen Strafrechtsnorm im Auslieferungsrecht, Berlin 1969, S. 112 ff.; BENZ, Das Prinzip der identischen Norm im internationalen Auslieferungsrecht, Diss. Zürich 1941, S. 123 ff.). Die Eidgenössischen Räte haben sich dieser Betrachtungsweise ohne Diskussion angeschlossen (Sten.Bull. NR 1971 S. 297). Unter diesen Umständen ist das Bundesgericht an Wortlaut und Inhalt von Art. IV Abs. 1 der deutsch-schweizerischen Zusatzvereinbarung gebunden (Art. 113 Abs. 3 BV; s. BGE 99 Ib 44 E. 4) und hat es nicht zu prüfen, ob dieser mit den Bestimmungen des EAUe in Einklang stehe. Die Unterbrechung der Verjährung wird demnach im vorliegenden Fall durch das deutsche Recht bestimmt.
...
Nach dem massgebenden § 78c Abs. 1 Ziff. 4 dStGB wird die Verjährung durch jede richterliche Beschlagnahme- oder Durchsuchungsanordnung unterbrochen; die Unterbrechung erfolgt in dem Zeitpunkt, in welchem die Anordnung unterzeichnet wird, vorausgesetzt dass das Schriftstück "alsbald nach der Unterzeichnung in den Geschäftsgang gelangt" (§ 78c Abs. 2 dStGB), was hier der Fall war. Die Verjährung ist demnach am 17. November 1978 unterbrochen worden. Da die Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 StGB in 7 1/2 Jahren und die Untreue im Sinne von § 266 dStGB in 10 Jahren absolut verjähren und im vorliegenden Fall die Verjährung nach schweizerischer Praxis mit dem 24. November 1973, nach deutschem Recht mit dem 23. November 1973

BGE 107 Ib 74 (78):

resp. mit dem Tag, an dem der durch die letzte Handlung bewirkte tatbestandsmässige Erfolg eintrat (dazu § 78a 2. Satz dStGB), begann, ist die Verjährung im Zeitpunkt des Entscheides über das Auslieferungsgesuch weder nach schweizerischem noch nach deutschem Recht eingetreten.