BGE 110 Ib 306
 
52. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. Mai 1984 in Sachen Eidg. Finanzdepartement gegen BLG, Basler Lagerhaus- und Speditionsgesellschaft AG (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 12 VStrR - Rückleistungspflicht von Zollabgaben.
2. Der nach Art. 13 ZG Zollzahlungspflichtige ist nach Art. 12 Abs. 2 VStrR ohne weiteres leistungspflichtig (E. 2).
3. Verjährung (E. 3).
 
Sachverhalt


BGE 110 Ib 306 (306):

A.- Zwischen dem 16. und dem 29. September 1975 beantragte die Firma BLG im Auftrag verschiedener Importeure beim Zollamt Zürich-Flughafen die Zollabfertigung von vier Sendungen Kleidern aus Belgien zum EG-Präferenzansatz, wobei sie entsprechende, von der belgischen Lieferantenfirma Starcoat SA ausgestellte Warenverkehrsbescheinigungen vorlegte. Das Zollamt fertigte die Sendungen aufgrund dieser Bescheinigungen definitiv zum EG-Präferenzansatz ab.


BGE 110 Ib 306 (307):

Auf ein Gesuch der schweizerischen Zollverwaltung um Überprüfung der Echtheit und Richtigkeit dieser Warenverkehrsbescheinigungen teilte die zuständige Behörde des Ausfuhrstaates am 13. Dezember 1976 mit, dass die vier Warenverkehrsbescheinigungen zu Unrecht ausgestellt worden seien. Der Zolluntersuchungsdienst Zürich führte darauf in den Räumlichkeiten der BLG am 21. März 1977 eine Untersuchung durch. Dabei wurden weitere 590 von der Firma Starcoat ausgestellte Warenverkehrsbescheinigungen aus den Jahren 1975 bis 1977 sichergestellt. Die belgischen Behörden teilten am 27. Juni 1979 mit, die Richtigkeit dieser Bescheinigungen habe nicht mehr erwiesen werden können, nachdem über die Firma Starcoat am 8. Februar 1979 der Konkurs eröffnet worden sei. In einer zweiten, am 29. August 1979 eingeleiteten Untersuchung erhoben die Untersuchungsorgane der schweizerischen Zollverwaltung nochmals 305 von der Firma Starcoat SA in Brüssel ausgestellte Warenverkehrsbescheinigungen aus der Zeit zwischen dem 21. März 1977 und dem 8. Februar 1979 bei der Firma BLG. Am 29. Januar 1980 teilte die belgische Behörde mit, auch die Richtigkeit dieser Bescheinigungen könne nicht mehr festgestellt werden.
B.- Nachdem die Zollkreisdirektion Schaffhausen der Firma BLG am 9. Juni 1980 das Ergebnis der Untersuchung bekanntgegeben hatte, verfügte sie am 29. August 1980 auf Weisung der Oberzolldirektion, die Firma BLG habe Zollabgaben von Fr. ... nachzuleisten. Die Zollverwaltung berief sich dabei auf Art. 12 VStrR in Verbindung mit Art. 13 Zollgesetz. Sie hielt die Nachleistungspflicht der Firma BLG für erstellt, nachdem diese durch ihr Büro in Zürich-Flughafen für sämtliche Sendungen die Einfuhrverzollung beantragt hatte.
C.- Mit Urteil vom 22. Oktober 1982 hiess die Eidgenössische Zollrekurskommission eine Beschwerde der BLG gegen diese Nachforderung gut, hob die Verfügung vom 29. August 1980 auf und stellte fest, dass die Beschwerdeführerin den Zollbetrag nicht schulde. Die Rekurskommission erkannte, dass die Zollvergünstigung für Ursprungswaren der EG in allen 899 Fällen zu Unrecht gewährt worden sei, nachdem laut dem für die schweizerische Zollverwaltung verbindlichen Untersuchungsbericht der belgischen Zollbehörde vier Warenverkehrsbescheinigungen zu Unrecht ausgestellt worden seien und die Ursprungseigenschaft der mit 895 weiteren Warenverkehrsbescheinigungen in die Schweiz eingeführten Waren nicht habe nachgewiesen werden können. Die

BGE 110 Ib 306 (308):

Rekurskommission hielt fest, dass die BLG als Warenführer und Deklarant der fraglichen Kleidersendungen zum Kreis der Zollzahlungspflichtigen gehöre und dass die in Art. 13 ZG verankerte Solidarhaft, welche auch Speditionsfirmen miteinbeziehe, ihren guten Grund habe. Sie kam indessen zum Schluss, es könne der Speditionsfirma nicht zugemutet werden, das entsprechende Risiko auf unbestimmt lange Zeit zu tragen, weshalb die Haftung des Spediteurs mit Eintritt der Verjährung gemäss Art. 64 Zollgesetz erlösche. Im vorliegenden Fall sei die Verjährung nach Art. 64 ZG eingetreten. Die Haftung der BLG für die Nachforderung gemäss Art. 12 VStrR verneinte die Zollrekurskommission mit der Begründung, die BLG sei nicht in den Genuss des unrechtmässigen Vorteils im Sinne dieser Bestimmung gekommen, da derjenige, der aus der Widerhandlung keinen Vorteil gezogen habe, auch dann nicht hafte, wenn er abgabepflichtig sei.
Gegen dieses Urteil der Eidgenössischen Zollrekurskommission vom 22. Oktober 1982 erhebt das Eidgenössische Finanzdepartement am 12. Januar 1983 fristgerecht Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, dieses Urteil sei aufzuheben.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 12 Abs. 1 VStrR sind unter anderem Abgaben ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person nachzuentrichten, wenn sie infolge einer Widerhandlung gegen die Verwaltungsgesetzgebung des Bundes zu Unrecht nicht erhoben worden sind. Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass für vier zwischen dem 16. und dem 29. September 1975 eingeführte Sendungen zu Unrecht Warenverkehrsbescheinigungen über den Ursprung der Waren in einem Staate der EG ausgestellt wurden und dass daher für diese Sendungen Zollermässigung gewährt wurde, obwohl die Voraussetzungen dafür fehlten. Der Tatbestand von Art. 74 Ziff. 9 ZG ist insoweit unbestritten erfüllt. Die Beschwerdegegnerin bestreitet indessen für die weiteren 895 Sendungen, dass die Voraussetzungen für den Widerruf der entsprechenden Warenverkehrsbescheinigungen gegeben seien. Sie hält dafür, der Tatbestand von Art. 74 Ziff. 9 ZG sei hier nicht erfüllt, da die Unrichtigkeit der Bescheinigungen nicht erwiesen sei. Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid eingehend dargelegt, dass der Aussteller einer Warenverkehrsbescheinigung auf Verlangen der zuständigen Behörde des Ausfuhrstaates den Beweis für die Richtigkeit dieser

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Bescheinigung erbringen muss und dass dieser Beweis im vorliegenden Fall nach der Mitteilung der zuständigen belgischen Behörde nicht erbracht werden konnte. Die Mitteilung der zuständigen Behörde des Ausfuhrstaates, dass sich die Richtigkeit der Warenverkehrsbescheinigung nicht überprüfen lasse, ist aus diesem Grunde dem Widerruf einer Warenverkehrsbescheinigung ohne weiteres gleichzustellen. An den Widerruf einer Warenverkehrsbescheinigung EUR. 1 ist die Behörde des Einfuhrstaates aber genauso gebunden, wie sie grundsätzlich die Richtigkeit solcher Bescheinigungen hinzunehmen hat. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin hat die Vorinstanz zu Recht erkannt, dass die Voraussetzungen der Zollermässigung für die umstrittenen 895 Sendungen fehlten.
a) Das Bundesgericht hat entschieden, dass der Abgabepflichtige im Sinne von Art. 13 ZG bei einer Widerhandlung gegen die Zollgesetzgebung des Bundes gemäss Art. 12 Abs. 2 VStrR in den Genuss des unrechtmässigen Vorteils gelangt und die hinterzogenen Einfuhrabgaben nachzuleisten hat (BGE 106 Ib 221 E. c). Im erwähnten publizierten Urteil - wie auch in den vom beschwerdeführenden Departement angeführten unpublizierten Entscheiden - handelte es sich beim Abgabepflichtigen um den Importeur, d. h. um denjenigen, für dessen Rechnung die Waren eingeführt worden waren. Ob der wirtschaftlich am Import nicht unmittelbar interessierte Zollzahlungspflichtige, der als Spediteur im Auftrag des Importeurs oder des Exporteurs die Ware über die Grenze bringt, gemäss Art. 12 Abs. 2 VStrR für allfällige bei der Einfuhr infolge einer Widerhandlung nicht bezahlte Einfuhrabgaben nachleistungspflichtig ist, hatte das Bundesgericht bis anhin nicht zu beurteilen.
b) Art. 64 Abs. 2 ZG in der durch das VStrR aufgehobenen, alten Fassung bestimmte:
"Liegt ein Zollvergehen vor, so richtet sich Beginn und Dauer der
Verjährung der Zölle oder andern Abgaben nach Art. 83 Abs. 1 und 2."


BGE 110 Ib 306 (310):

Danach betrug die Verjährung zwei Jahre. Es handelte sich bei dieser alten Regelung somit - wenn auch mit etwas kürzerer Verjährungsfrist - um eine Ordnung, welche dem geltenden Art. 12 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 11 VStrR entspricht (die gemäss Art. 80 ZG für Zollabgaben gilt). Nach der Praxis des Bundesgerichtes zum alten Zollgesetz galt diese Regelung für alle Zollzahlungspflichtigen ohne Unterschied. Diese hafteten auch für die nachträgliche Erhebung der geschuldeten Abgabe, da nicht einzusehen ist, warum für die nachträgliche Zollzahlungspflicht andere Haftungsgrundsätze als die gemäss Art. 9 Abs. 1 und 13 Abs. 1 ZG gelten sollten (BGE 107 Ib 201 E. 6b). Für die Regelung der Zollzahlungspflicht nach diesen Bestimmungen hat das Bundesgericht aber stets daran festgehalten, dass das Zollgesetz den Kreis der Zollzahlungspflichtigen bewusst weit gezogen hat, um die Einbringlichkeit der Zollabgaben zu garantieren (BGE 107 Ib 199 E. 6a). An dieser Ordnung wollte der Gesetzgeber mit dem Erlass von Art. 12 Abs. 2 VStrR nichts ändern. Es sollte vielmehr trotz Verwirklichung eines Straftatbestandes die gesetzlich gewollte Lastenverteilung durchgesetzt werden; darüber hinaus sollten weitere Personen leistungspflichtig erklärt werden, wenn sie durch die Widerhandlung in den Genuss des unrechtmässigen Vorteils gelangen (vgl. Botschaft des Bundesrates in BBl 1971 I S. 1030; PFUND, Das Steuerstrafrecht, Basel 1954, S. 121 ff., 126 ff.; PFUND, Verwaltungsrecht-Strafrecht, ZSR 1971 Bd. II S. 198; vgl. auch GAUTHIER, La loi fédérale sur le droit pénal administratif, Mémoires publiées par la faculté de Genève 1975, S. 44).
c) Der zollzahlungspflichtige Warenführer ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz im Sinne von Art. 12 Abs. 2 VStrR unrechtmässig bevorteilt. Der unrechtmässige Vorteil, in dessen Genuss der Leistungspflichtige nach Art. 12 Abs. 2 VStrR gelangen muss, liegt im Vermögensvorteil, der durch die Nichtleistung der Abgabe entstanden ist. Ein Vermögensvorteil braucht nicht in einer Vermehrung der Aktiven, er kann auch in einer Verminderung der Passiven bestehen. Dies trifft regelmässig zu, wenn eine Abgabe, obwohl sie geschuldet ist, infolge einer Widerhandlung nicht erhoben wird. Derjenige, der zur Zahlung der Abgabe verpflichtet wäre, ist insofern unrechtmässig bevorteilt, als er diese Leistung infolge der Widerhandlung nicht erbringen muss. Der Genuss dieses Vorteils soll dem Leistungspflichtigen mit dem Institut der Nachleistungspflicht entzogen werden. Der nach dem massgebenden Abgabeerlass Zahlungspflichtige ist durch eine widerrechtliche

BGE 110 Ib 306 (311):

Nichterhebung der Abgabe auch dann wirtschaftlich bevorteilt, wenn er andere Abgabepflichtige im Wege des zivilrechtlichen Rückgriffs belangen oder wenn er die Steuer überwälzen kann. Durch die infolge einer Widerhandlung unterlassene Erhebung der Abgabe kommt der Pflichtige auch in diesen Fällen in den Genuss eines unrechtmässigen Vorteils, indem er vom Risiko der Zahlungsunfähigkeit des letztlich belasteten Abgabepflichtigen sowie sonstiger Unsicherheiten der Rückforderung entlastet wird.
Da die Beschwerdegegnerin unbestritten zum Kreis der nach Art. 9 und 13 ZG Zollzahlungspflichtigen gehört, ist sie gemäss Art. 12 Abs. 2 VStrR für die ihrer Höhe nach nicht streitigen Zollabgaben nachleistungspflichtig.
a) Gemäss Art. 2 VStrR finden die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches Anwendung, soweit das VStrR oder das einzelne Verwaltungsgesetz nichts anderes bestimmt. Art. 64 ZG in der seit Inkrafttreten des VStrR geltenden Fassung (vgl. dazu BGE 107 Ib 202 E. 7 vgl. für das alte Recht auch BGE 100 Ib 277) gilt für die Verjährung von Straftatbeständen des Zollgesetzes nicht mehr, sondern regelt ausschliesslich die Verjährung von Zollforderungen, welche infolge eines Irrtums der Zollverwaltung nicht erhoben worden sind und daher nach Art. 126 ZG nachgefordert werden können (vgl. BGE 106 Ib 220 E. 2b). Die Verjährung richtet sich daher mangels ausdrücklicher Regelung des VStrR nach den allgemeinen Vorschriften des Strafgesetzbuches. Über die Unterbrechung der Verjährung von Nachforderungen gemäss Art. 12 VStrR enthält das VStrR keine Bestimmung. Es finden daher die allgemeinen Bestimmungen des StGB über die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung Anwendung. Nach Art. 72 Abs. 2 StGB wird die Verfolgungsverjährung durch jede Untersuchungshandlung einer Strafverfolgungsbehörde unterbrochen,

BGE 110 Ib 306 (312):

sofern diese Handlung externe Wirkung zeitigt (BGE 90 IV 63).
b) Im vorliegenden Fall wurden am 21. März 1977 und am 19. August 1979 in den Räumlichkeiten der Beschwerdegegnerin Untersuchungshandlungen durch die zuständigen Untersuchungsorgane der eidgenössischen Zollverwaltung durchgeführt. In diesem Zeitpunkt war die fünfjährige Frist im Sinne von Art. 11 Abs. 2 VStrR für die in der Zeit von 1975 bis zum 8. Februar 1979 begangenen Zollwiderhandlungen noch nicht abgelaufen; sie wurde mit diesen Untersuchungshandlungen unterbrochen. Seit dem Beginn des Rechtsmittelverfahrens am 25. September 1980 ruht die Verjährung. Die relative Verjährung von fünf Jahren ist daher nicht eingetreten. Die absolute Verjährungsfrist von 7 1/2 Jahren (vgl. BGE 104 IV 266) greift nicht ein, solange die Frist während eines hängigen Rechtsmittelverfahrens ruht (BGE 107 Ib 205 E. dd). Die umstrittene Nachforderung ist daher nicht verjährt. Die Beschwerde des Eidgenössischen Finanz- und Zolldepartementes ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid ist aufzuheben.