32. Urteil des Kassationshofes vom 4. Juli 1986 i.S. R. gegen Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
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Regeste
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Art. 17 Abs. 3 SVG.
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Sachverhalt
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BGE 112 Ib 179 (180):
Am 18. September 1985 entzog das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons Bern R. den Führerausweis wegen Trunksucht (Art. 14 Abs. 2 lit. c in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 SVG). Die Ziffern 2 und 6 der Verfügung lauteten:
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"2. Dauer des Entzugs: unbestimmte Zeit, mindestens jedoch 30 Monate."
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"6. Die Wiedererteilung des Führerausweises, frühestens nach Ablauf
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von 30 Monaten, wird auf Gesuch hin geprüft und davon abhängig gemacht,
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..." (Es folgen verschiedene Auflagen.)
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Am 18. Dezember 1985 bestätigte die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern die erstinstanzliche Verfügung. Diesen Entscheid ficht R. mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht an. Er beantragt u.a., die in Ziff. 6 der Verfügung angesetzte Frist von 30 Monaten bis zur frühestmöglichen Wiedererteilung des Führerausweises sei aufzuheben, evtl. zu verkürzen.
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Aus den Erwägungen:
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Die Rekurskommission hält dieser Argumentation entgegen, Art. 17 Abs. 3 SVG setze eine absolute Minimaldauer fest, die im Einzelfall von der Entzugsbehörde verlängert werden könne; vor BGE 112 Ib 179 (181):
Ablauf dieser Sperrfrist dürfe der Führerausweis nicht wieder ausgehändigt werden; bei Sicherungsentzügen erscheine eine derart im Einzelfall festgesetzte Minimaldauer von einem Jahr, wie sie Art. 33 Abs. 1 VZV vorsehe, gerechtfertigt.
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Das Bundesamt für Polizeiwesen erachtet die vorinstanzliche Auslegung von Art. 17 Abs. 3 SVG und Art. 33 Abs. 1 VZV als gesetzwidrig. Es hält dafür, dass dem betroffenen Fahrzeugführer auch bei einem Sicherungsentzug grundsätzlich die Möglichkeit offenstehe, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach sechs Monaten Führerausweisentzug die bedingte Wiederaushändigung des Ausweises zu verlangen.
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b) Zu Recht blieb vorliegend unbestritten, dass Art. 17 Abs. 3 SVG nicht bloss auf Warnungs-, sondern auch auf Sicherungsentzüge Anwendung findet. Sicherungsentzüge sind keine Strafen, sondern Administrativmassnahmen, welche die Sicherheit im Strassenverkehr bezwecken. Sie sollen deshalb grundsätzlich nur so lange aufrechterhalten bleiben, als der Fahrzeugführer eine Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellt. Die Einhaltung dieses Grundsatzes bietet dann keine Schwierigkeiten, wenn der Entzug aufgrund eines Ausschlussgrundes erfolgte, dessen Behebung jederzeit einwandfrei festgestellt werden kann (z.B. medizinische Eignungsmängel; Art. 14 Abs. 1 lit. b SVG). Anders verhält es sich bei der Trunksucht und anderen Süchten, wo der Nachweis einer "Heilung" u.a. nur durch ein längeres Wohlverhalten erbracht werden kann und deshalb eine Bewährungsfrist angeordnet wird (Art. 33 Abs. 1 VZV). Hier muss entsprechend dem Sinn und Zweck des Sicherungsentzuges dem Betroffenen die Möglichkeit offenstehen, nach einer gewissen Mindestentzugsdauer nachzuweisen, dass besondere Umstände vorliegen, welche die begründete Annahme rechtfertigen, die Massnahme habe ihren Zweck - früher als bei Anordnung der Bewährungsfrist ursprünglich angenommen - erfüllt. In solchen Fällen erscheint eine vorzeitige bedingte Wiederaushändigung des Ausweises gemäss Art. 17 Abs. 3 SVG gerechtfertigt. (Für eine Anwendung der Bestimmung auf Sicherungsentzüge: MICHEL PERRIN, Délivrance et retrait du permis de conduire, S. 187/201/202; PETER STAUFFER, Der Entzug des Führerausweises, Diss. 1966, S. 84; HANS SCHULTZ, Rechtsprechung und Praxis zum Strassenverkehrsrecht in den Jahren 1973-1977, S. 116; vgl. auch BGE 107 Ib 32.)
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c) In diesem Lichte hält die von der Vorinstanz vertretene Auffassung, die in Art. 17 Abs. 3 SVG angegebene Minimaldauer von sechs Monaten könne von den Administrativbehörden im BGE 112 Ib 179 (182):
Einzelfall heraufgesetzt werden, einer Überprüfung nicht stand. Wie oben dargelegt, eröffnet diese Bestimmung die Möglichkeit, einen Sicherungsentzug vor der von der Entzugsbehörde ursprünglich als zutreffend erachteten minimalen Entzugsdauer aufzuheben. Der Betroffene soll die bedingte Wiedererteilung des Führerausweises vorzeitig (nach mindestens sechs Monaten) z.B. dann verlangen können, wenn aus Gründen, welche im Zeitpunkt der Anordnung der Administrativmassnahme nicht oder nicht genügend bekannt waren, angenommen werden darf, der Ausschlussgrund sei weggefallen; dies kann etwa der Fall sein, wenn sich im Verlaufe der Zeit bzw. der medizinischen Behandlung herausstellt, dass die Sucht als weit weniger schwerwiegend einzustufen ist, oder dass der Betroffene - anders als nach dem bisherigen Verhalten zu erwarten gewesen wäre - aussergewöhnliche und weitgehende Schritte zur Eliminierung seiner Sucht unternimmt, welche eine endgültige "Heilung" wesentlich früher als vorgesehen erwarten lassen. Die Anordnung einer sechs Monate übersteigenden "Sperrfrist" steht somit im Widerspruch zum Grundgedanken von Art. 17 Abs. 3 SVG, wonach eine nicht vorhersehbare Entwicklung auch nach Anordnung des Führerausweisentzugs - durch eine bedingte Wiedererteilung des Ausweises - noch Berücksichtigung finden soll (PERRIN, a.a.O., S. 186).
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Für diese Auslegung von Art. 17 Abs. 3 SVG spricht auch die Entstehungsgeschichte. Während der Ständerat die bedingte Wiedererteilung nach Ablauf eines Jahres bzw. eines Drittels der Entzugsdauer gewähren wollte (Sten.Bull. SR 1958, S. 93), verlangte der Nationalrat, dass der Führerausweis während mindestens sechs Monaten entzogen gewesen sei. Der Berichterstatter begründete die Herabsetzung auf sechs Monate wie folgt: "An der ständerätlichen Fassung ist mit Recht kritisiert worden, dass die beiden vorgesehenen Minima stark differieren können und dass daraus nicht klar hervorgeht, ob die beiden Minima alternativ oder kumulativ zu verstehen sind (Sten.Bull. NR 1958, S. 465/466)." Der Schluss liegt deshalb nahe, dass der Gesetzgeber die Frist für die bedingte Wiedererteilung des Ausweises für Fälle aller Art auf sechs Monate festgesetzt und den Administrativbehörden keinen Raum für die Anordnung längerer "Sperrfristen" im Einzelfall gelassen hat (vgl. auch BGE 107 Ib 32).
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d) Da nach dem Gesagten Art. 17 Abs. 3 SVG eine Prüfung der bedingten Wiederaushändigung des Ausweises schon nach sechs Monaten ermöglicht, erscheint die vorinstanzliche Auslegung dieser BGE 112 Ib 179 (183):
Bestimmung als unzutreffend. Mit der Anordnung einer Bewährungsfrist von mindestens einem Jahr (Art. 33 Abs. 1 letzter Satz VZV) wird dem Betroffenen zur Kenntnis gebracht, dass zwar die Administrativbehörden aufgrund der ihnen bekannten Tatsachen die Wiederaushändigung des Führerausweises bei nachgewiesenem Wohlverhalten erst nach Ablauf dieser Frist in Betracht zu ziehen bereit sind, dass aber ein Gesuch um eine frühere bedingte Wiedererteilung Erfolg haben könne, wenn wesentliche Umstände eine andere Beurteilung nahelegen. Die angeordnete Bewährungsfrist ist somit für die später über die bedingte Wiederaushändigung des Ausweises entscheidende Behörde nicht in dem Sinne verbindlich, dass sie unter keinen Umständen davon abweichen dürfte; sie wird allerdings ein Abweichen von der ursprünglich festgesetzten Frist von strengen Voraussetzungen abhängig machen.
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e) Soweit die Vorinstanz mit der Ziff. 6 der Verfügung vom 18. September 1985 zum Ausdruck bringen wollte, das vor Ablauf der Bewährungsfrist von 30 Monaten eine Wiederaushändigung des Führerausweises unter keinen Umständen geprüft werden könne, verletzt der angefochtene Entscheid somit Bundesrecht.
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