2. Auszug aus dem Urteil vom 30. März 1960 i.S. Schneider gegen Erben Keusen und Obergericht des Kantons Basel- Landschaft.
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Regeste
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Art. 4 BV.
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Ist die von emem Vertreter abgegebene Appellationserklärung ungültig, weil er nicht spätestens gleichzeitig eine schriftliche Vollmacht eingereicht hat?
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Sachverhalt
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BGE 86 I 4 (4):
Emil Schneider hob beim Bezirksgericht Sissach gegen die Erben des Samuel Keusen Klage an. Advokat Dr. L. teilte am 4. März 1958 dem Gericht mit, er habe die Vertretung des Klägers übernommen; die schriftliche Vollmacht folge nach. Die vom 6. März 1958 datierte Vollmacht reichte er indes dem Bezirksgericht nie ein, was dieses nicht beanstandete. Zur Hauptverhandlung vom 13. Mai 1958 erschien Advokat Dr. L. in Begleitung des Klägers. Das Bezirksgericht wies mit Urteil vom gleichen Tage die Klage ab, soweit es darauf eintrat.
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Advokat Dr. L. erklärte namens des Klägers am 6. Juni 1958 die Appellation an das Obergericht. Am 31. März 1959 reichte er dem Obergerichtspräsidenten die schriftliche Appellationsbegründung ein. Am 27. November 1959 erschien er in Begleitung des Klägers an einem Augenschein BGE 86 I 4 (5):
und zur anschliessenden Verhandlung vor dem Obergericht. In dieser Verhandlung kam erstmals zur Sprache, dass keine Vollmacht für Advokat Dr. L. bei den Akten liege, worauf er unverzüglich die am 6. März 1958 ausgestellte Vollmacht ins Recht legte.
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Am Schluss der Verhandlung eröffnete das Obergericht den Parteien, auf die Appellation werde nicht eingetreten. Am 23. Dezember 1959 teilte die Obergerichtskanzlei den Parteien mit, das begründete Urteil stehe ihnen zur Einsicht offen. In den Erwägungen des Urteils wird ausgeführt, nach § 52 ZPO habe sich der Bevollmächtigte durch eine gehörige schriftliche Vollmacht auszuweisen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obergerichts seien die von einem Vertreter vorgenommenen Prozesshandlungen grundsätzlich nur gültig, wenn sie durch eine spätestens gleichzeitig eingereichte Vollmacht gedeckt seien. Mit Bezug auf die übrigen Prozesshandlungen werde zwar mit Einwilligung der Gegenpartei die nachträgliche Einreichung der Vollmacht geduldet; hinsichtlich der Appellationserklärung werde dagegen am Erfordernis der rechtzeitigen Einreichung der Vollmacht festgehalten. Nach dem Urteil des Bundesgerichts vom 28. April 1939 i.S. Keller sei diese Praxis nicht willkürlich. Dass weder das Bezirksgericht noch das Obergericht das Fehlen der Vollmacht beanstandet hätten, sei ohne Belang, da der betreffende Mangel durch das Unterlassen der Rüge nicht geheilt worden sei; abgesehen davon habe keine der beiden Instanzen Ursache zum Eingreifen gehabt. Vor dem Bezirksgericht sei Advokat Dr. L. in der Hauptverhandlung an der Seite des Klägers erschienen; er habe keine Prozesshandlung vorgenommen, wofür er einer Vollmacht bedurft hätte. Die Gültigkeit der Appellation sei vom Plenum des Obergerichts und nicht von dessen Vorsitzenden zu prüfen; das Plenum aber sei in dieser Sache erstmals am Tage der Urteilsfällung zusammengetreten. Mangels rechtzeitiger Einreichung der Vollmacht sei die Appellation des Klägers ungültig.
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BGE 86 I 4 (6):
Schneider hat am 20. Januar 1960 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV eingereicht mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben.
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Das Obergericht schliesst, die Beschwerde sei, weil verspätet, nicht an Hand zu nehmen, eventuell sei sie abzuweisen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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"Diese Auffassung (des Obergerichts) mag rigurös erscheinen; eine positive Norm des kantonalen Zivilprozesses, die dadurch verletzt würde, konnte aber nicht namhaft gemacht werden. Es besteht auch kein allgemeiner Prozessrechtsgrundsatz, der dem Richter verbieten würde, die Gültigkeit der Prozesshandlung eines Bevollmächtigten davon abhängig zu machen, dass er die Bevollmächtigung binnen bestimmter Frist auch ohne eine bezügliche Aufforderung des Richters nachzuweisen habe. Jedenfalls könnte BGE 86 I 4 (7):
ein solcher Grundsatz nicht aus Art. 4 BV abgeleitet werden. Die Auffassung des angefochtenen Entscheides lässt sich durch Gründe der Prozessdisziplin rechtfertigen. Sie ist auch in andern Kantonen rechtens (Bern § 84 und Leuch dazu Note 1) und kann daher nicht als willkürlich bezeichnet werden (vgl. in diesem Sinne den nicht publizierten Entscheid des Bundesgerichts i.S. Tröhler ca. Obergericht Bern vom 27. September 1917)."
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Zu prüfen ist, ob im Lichte der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles an dieser Stellungnahme festzuhalten sei.
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Die basellandschaftliche Zivilprozessordnung bestimmt (wie die der meisten andern Kantone) nicht ausdrücklich, wann die Vollmacht dem Gericht einzureichen ist. Wenn sie in § 52 Abs. 3 den Parteien vorschreibt, Beanstandungen von Vollmachten "zu Beginn des Prozesses" anzubringen, so geht sie indes davon aus, dass die Vollmachtsurkunden in jenem Zeitpunkt dem Gericht vorliegen. Um das zu gewährleisten, verlangt die Rechtsprechung des Obergerichts, die schriftliche Vollmacht sei grundsätzlich spätestens bei der ersten gerichtlichen Handlung des Bevollmächtigten vorzulegen. Diese Regel steht mit der Voraussetzung, von der das Gesetz in § 52 Abs. 3 ausgeht, im Einklang; sie entspricht einer allgemeinen Gepflogenheit, lässt sich durch die Gebote der Rechtssicherheit rechtfertigen und stimmt mit den Vorschriften einzelner anderer Kantone (Bern, Art. 84 Abs. 1 ZPO, Freiburg, Art. 102 Abs. 1 ZPO) überein. Von Willkür kann in diesem Punkte nicht die Rede sein.
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Eine andere Frage ist es, welche Sanktionen die Verletzung dieser Regel nach sich ziehe. Das Obergericht hält eine Appellationserklärung, die von einem Vertreter abgegeben wird, nur dann für gültig, wenn er spätestens BGE 86 I 4 (8):
gleichzeitig eine schriftliche Vollmacht vorlegt; hinsichtlich der übrigen Prozesshandlungen des Vertreters lässt es dagegen die Nachbringung der Vollmacht mit Zustimmung der Gegenpartei zu. Diese Unterscheidung findet im Gesetz keine Stütze. § 216 Abs. 1 nennt als "Formalien", die innerhalb der Appellationsfrist zu erfüllen sind, die Abgabe der Appellationserklärung und die Zahlung bestimmter Kosten; dass die Vollmachtsurkunde, welche die Appellationserklärung deckt, innert der nämlichen Frist (oder gar spätestens gleichzeitig mit der Erklärung) einzureichen sei, wird darin nicht gesagt. Die Appellationserklärung des Vertreters wäre demgemäss nur dann mangels rechtzeitiger Einlegung der schriftlichen Vollmacht ungültig, wenn die rechtzeitige Einlegung der Vollmacht allgemein Voraussetzung für die Gültigkeit der Prozesshandlungen des Vertreters wäre. Das hat das Obergericht indes mit Fug verneint, duldet es doch hinsichtlich der übrigen Prozesshandlungen die Nachbringung der Vollmacht. Da sich die Appellationserklärung nach basellandschaftlichem Recht durch nichts von den übrigen Prozesshandlungen abhebt, ist das Gebot der rechtzeitigen Vorlegung der Vollmachtsurkunde schon um der in Art. 4 BV gewährleisteten Rechtsgleichheit willen mit Bezug auf die Abgabe der Appellationserklärung so gut wie mit Bezug auf die weiteren Prozesshandlungen des Vertreters als blosse Ordnungsvorschrift zu handhaben.
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Wenn das Obergericht demgegenüber die spätestens gleichzeitige Vorlegung der Vollmachtsurkunde als Voraussetzung für die Gültigkeit der von einem Vertreter abgegebenen Appellationserklärung betrachtet, so verletzt es Art. 4 BV überdies auch in anderer Hinsicht. § 97 Abs. 2 ZPO macht es dem Gerichtspräsidenten und dem Gerichtsschreiber zur Pflicht, darauf hinzuwirken, dass die materielle Wahrheit ermittelt werde, und zu verhindern, dass eine Partei aus Vergesslichkeit, Gesetzesunkenntnis oder Befangenheit ihres Rechts verlustig gehe. Dieser Grundsatz steht über der ganzen richterlichen Prozessleitung; BGE 86 I 4 (9):
er ist auch für die Handhabung der Prozessdisziplin massgebend. Disziplinarische Massnahmen haben vor ihm nur Bestand, wenn sie nicht weiter gehen, als es der Zweck erfordert, der damit verfolgt werden darf. Nach der kantonalen Rechtsprechung ist die Vollmachtsurkunde beim ersten prozessualen Handeln des Vertreters einzureichen, damit die Gegenpartei und das Gericht sich sogleich vom Vorliegen einer genügenden Vollmacht vergewissern können; es soll so verhindert werden, dass ihnen aus dem Auftreten eines vollmachtlosen Vertreters unnütze Kosten und Umtriebe erwachsen. Wie die Vorschriften vieler anderer Kantone und des Bundes (Art. 29 Abs. 1 OG, Art. 18 Abs. 3 BZP) sowie die Praxis des Obergerichts mit Bezug auf die übrigen Prozesshandlungen zeigen, kann dieses Ziel auch mit der Ansetzung einer kurzen Nachfrist zur Beibringung der Vollmacht erreicht werden, ohne dass dadurch das Verfahren über Gebühr verlängert wird. Der Androhung des sofortigen Rechtsverlusts bei nicht rechtzeitiger Einreichung der Vollmacht bedarf es dazu nicht. Wie wenig damit vom Standpunkt der Prozessoekonomie aus gewonnen wird, zeigt sich gerade in einem Fall wie dem vorliegenden. Trotz der Bedeutung, welche die kantonale Rechtsprechung der rechtzeitigen Vorlegung der Vollmachtsurkunde beimisst, bekümmerte sich das Obergericht erst nach Durchführung des Schriftenwechsels und Vornahme eines Augenscheins darum, ob die Appellationserklärung durch eine schriftliche Vollmacht gedeckt sei. Richtig ist, dass sich nach § 129 das Gericht und nicht dessen Vorsitzender über die Zulässigkeit der Appellation auszusprechen hat. Erhebt sich diese Vorfrage, so ist sie indes im Interesse der Behörde und der Parteien sogleich dem Plenum zu unterbreiten; es darf damit nicht zugewartet werden, bis dieses zur materiellen Behandlung der Sache zusammentritt. Ein anderes Vorgehen muss vom Rechtsuchenden als stossend empfunden werden.
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Die Praxis, wonach die nicht rechtzeitige Einreichung BGE 86 I 4 (10):
der Vollmachtsurkunde ohne weiteres die Ungültigkeit der von einem Vertreter abgegebenen Appellationserklärung nach sich zieht, widerspricht nach dem Gesagten dem Sinn und Geist des kantonalen Prozessrechts; sie beruht auf einem überspitzten, mit keinen schutzwürdigen Interessen zu rechtfertigenden Formalismus, der die Durchsetzung des materiellen Rechts auf unhaltbare Weise erschwert. Sie läuft dergestalt auf eine formelle Rechtsverweigerung hinaus, die vor Art. 4 BV keinen Bestand hat (vgl. BGE 81 I 118, BGE 85 I 209). Die Erwägungen des angeführten Urteils i.S. Keller tragen diesen Gesichtspunkten zu wenig Rechnung; es kann deshalb nicht daran festgehalten werden. Der angefochtene Entscheid ist demzufolge als verfassungswidrig aufzuheben.
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