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Urteilskopf

92 I 253


44. Urteil vom 5. Oktober 1966 i.S. S. gegen Kanton Graubünden und Kantonale Steuerrekurskommission von Graubünden

Regeste

Art. 4 BV; Beweislast im Steuerverfahren.
Die Frage der Beweislastverteilung stellt sich auch in einem von der Untersuchungsmaxime beherrschten Verfahren. Beweislastverteilung im Steuerverfahren (Erw. 2). Wer trägt die Beweislast für die Wahrung von Fristen, insbesondere bei uneingeschriebener Zustellung behördlicher Akte? (Erw. 3)

Sachverhalt ab Seite 254

BGE 92 I 253 S. 254
Dr. S., der in einem andern Kanton wohnt und als Rechtsanwalt tätig ist, ist in Davos für eine Liegenschaft steuerpflichtig. Die Kreissteuerkommission Davos veranlagte ihn in einer Verfügung, die das Datum des 13. Dezember 1965 trägt, zu den Kantonssteuern 1965/66. Die Verfügung wurde Dr. S. mit uneingeschriebenem Brief zugestellt. Am 13. Januar 1966 erhob er gegen die Veranlagung Einsprache. Die Kreissteuerkommission trat darauf nicht ein mit der Begründung, die Verfügung sei dem Steuerpflichtigen am 13. Dezember 1965 zugestellt worden; die dreissigtägige Einsprachefrist sei demnach am 12. Januar 1966 um 24 Uhr abgelaufen, so dass die am folgenden Tag eingereichte Einsprache verspätet sei. Dr. S. zog diesen Entscheid an die kantonale Steuerrekurskommission Graubünden weiter, wobei er einwandte, die Sendung sei ihm erst am 15., möglicherweise sogar erst am 16. Dezember 1965 zugegangen. Seine Kanzlei pflege die Umschläge uneingeschriebener Briefe wegzuwerfen; sie habe es auch im vorliegenden Fall so gehalten. Den Beweis dafür, dass die Sendung am 13. Dezember 1965 der Post übergeben worden sei, habe die Steuerbehörde zu erbringen; sie sei dazu nicht imstande. Die Einsprache habe deshalb als rechtzeitig zu gelten.
Die kantonale Steuerrekurskommission hat die Beschwerde abgewiesen. Sie hat dazu ausgeführt, da die Sendung uneingeschrieben zugestellt worden sei, sei die Kreissteuerkommission nicht in der Lage, den "strikten Beweis" für ihre Behauptung, die Verfügung sei am 13. Dezember 1965 versandt worden, zu erbringen. Im Zweifel sei indessen zu vermuten, dass das in der Verfügung angegebene Mitteilungsdatum mit dem Datum der Postaufgabe übereinstimme. Es sei daher Sache des Steuerpflichtigen, nachzuweisen, dass die Sendung tatsächlich erst später aufgegeben worden sei, welchen Beweis er vermittels des Zustellungsumschlages ohne weiteres erbringen könne. Der Beschwerdeführer sei diesen Beweis schuldig geblieben; es sei darum davon auszugehen, dass die Veranlagungsverfügung tatsächlich
BGE 92 I 253 S. 255
am 13. Dezember 1965 der Post übergeben worden sei. Die am 13. Januar 1966 eingereichte Einsprache sei somit verspätet.
Dr. S. führt hiergegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Art. 134 Abs. 2 des Steuergesetzes des Kantons Graubünden (StG) vom 21. Juni 1964 setzt die Einsprachefrist auf dreissig Tage "seit Mitteilung der Veranlagungsverfügung" fest und verweist für die Berechnung der Frist auf die Verordnung über das Verfahren in Verwaltungsstreitsachen vor dem Kleinen Rat (VVV) vom 1. Dezember 1962. Diese bestimmt in Art. 8 Abs. 2, dass bei Zustellung durch die Post "das Datum des Poststempels der Aufgabestelle" als Zeitpunkt der Mitteilung gilt. Wie das Bundesgericht im nicht veröffentlichten Urteil vom 19. März 1958 i.S. Erben Meisser erkannt hat, verstösst diese Regelung als solche nicht gegen Art. 4 BV. Ihre Verfassungsmässigkeit wird denn auch hier nicht bestritten.
Im vorliegenden Fall vernichtete eine Angestellte des Beschwerdeführers den Umschlag der uneingeschriebenen Sendung, der den Poststempel trug; es liess sich infolgedessen nicht mehr feststellen, wann die Veranlagungsverfügung der Post übergeben worden war. Es fragt sich, ob die Steuerverwaltung oder der Beschwerdeführer die Folgen dieser Beweislosigkeit zu tragen habe.

2. Das Steuerveranlagungsverfahren ist von der Untersuchungsmaxime beherrscht: es ist darauf gerichtet, den wirklichen Sachverhalt zu ermitteln und daraus die gesetzlichen Rechtsfolgen zu ziehen (BOSSHARDT, Die neue zürcherische Einkommens- und Vermögenssteuer, S. 232). Das gilt nicht nur für die Einschätzung (Art. 123 Abs. 1 StG), sondern auch für das Einspracheverfahren: Gemäss Art. 135 Abs. 1 StG trifft die Veranlagungsbehörde auf Einsprache hin "von Amtes wegen alle erforderlichen Untersuchungsmassnahmen"; sie nimmt hierauf, "ohne an die Anträge des Einsprechers gebunden zu sein, eine neue Veranlagung vor, die den im Einspracheverfahren festgestellten Tatsachen entspricht". Ungeachtet der Bezeichnung der Einsprache als "Rechtsmittel" erscheint das Einspracheverfahren damit der Sache nach als Fortsetzung des Einschätzungsverfahrens. Dass in diesen Verfahren die Untersuchungsmaxime
BGE 92 I 253 S. 256
gilt, hat indessen nicht zu Folge, dass sich die Frage der Beweislastverteilung nicht stellen würde (GULDENER, Beweiswürdigung und Beweislast nach schweizerischem Zivilprozessrecht, S. 19 Ziff. 2; IMBODEN, Schw. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl., Nr. 99): Auch wenn die Veranlagungsbehörde im Einschätzungs- und Einspracheverfahren in Befolgung ihrer Untersuchungspflicht alle zumutbaren Erhebungen durchführt, kann es sich ergeben, dass der für die Steuerveranlagung massgebende Tatbestand sich nicht oder nur teilweise ermitteln lässt und nach Abschluss der Untersuchung eine nicht zu beseitigende Ungewissheit des Tatbestandes bleibt. Zu wessen Ungunsten sich diese Ungewissheit auswirkt, ergibt sich aus den Beweislastregeln, die die Folgen der Beweislosigkeit ordnen (BOSSHARDT, a.a.O., S. 257; KUMMER, N. 31 ff. zu Art. 8 ZGB).
Das bündnerische Steuergesetz bestimmt in Art. 139 Abs. 1, dass "der Rekurrent ... die Beweislast für die Richtigkeit der im Rekursverfahren behaupteten Tatsachen" trägt. Die kantonale Steuerverwaltung hält dafür, dass diese Beweislastregel auch auf das Einspracheverfahren anwendbar sei. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, so hätte er die in Art. 139 Abs. 1 enthaltene Regel aus den Bestimmungen über den Rekurs (Art. 136141) in diejenigen über die Einsprache (Art. 134, 135) versetzt. Die Übertragung des Art. 139 Abs. 1 StG auf das Einspracheverfahren lässt sich zudem auch der Sache nach nicht vertreten. Nach dem Gesagten bildet das Einspracheverfahren die Fortsetzung des Einschätzungsverfahrens. In diesem aber lässt sich die Beweislast nicht nach der Regel des Art. 139 Abs. 1 StG verteilen. Wenn diese Bestimmung dem Rekurrenten die Beweislast für die im Rekurs behaupteten Tatsachen auferlegt, so beruht das auf der Überlegung, dass es im Rekursverfahren um den Bestand eines Verwaltungsaktes gehe, dem eine umfassende Ermittlung vorausgegangen sei und der daher eine gewisse Vermutung der Rechtmässigkeit für sich habe (vgl. SCHNEIDER, In dubio pro libertate, in Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Bd. II, S. 275). Diese Erwägung trifft auf das Einschätzungsverfahren, worin die Veranlagungsbehörde den Sachverhalt erstmals - und ohne sich auf die Vorarbeiten anderer Behörden stützen zu können - abzuklären hat, nicht zu. Für das Einschätzungsverfahren und dessen Fortsetzung im Einspracheverfahren gilt vielmehr nach Lehre und Rechtsprechung der Grundsatz, dass die Steuerverwaltung die Beweislast für
BGE 92 I 253 S. 257
die steuerbegründenden Tatsachen trägt, während den Steuerpflichtigen die Beweislast für die Tatsachen trifft, welche die Steuerschuld aufheben oder mindern (BOSSHARDT, a.a.O., S. 257/58).

3. Diese Regel nimmt allerdings nur auf das materielle Steuerrecht Bezug; wer die Beweislast trägt, wenn es um verfahrensrechtliche Fragen wie die Fristwahrung geht, ergibt sich daraus nicht. Hierfür ist vielmehr auf den allgemeinen, auch in Art. 8 ZGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgrundsatz zurückzugreifen, wonach die Beweislosigkeit einer Tatsache zu Ungunsten dessen ausschlägt, der aus ihrem Vorhandensein ein Recht ableitet (KUMMER, N. 34 zu Art. 8 ZGB). Wer ein Recht ausübt, für das eine Verwirkungsfrist läuft, trägt demgemäss die Beweislast für die fristgerechte Ausübung, das heisst für den Zeitpunkt des Fristbeginns und für den der Rechtsausübung, (KUMMER, N. 151 und 312 ff. zu Art. 8 ZGB; GULDENER, a.a.O., S. 71; WYSS, La péremption dans le Code Civil Suisse, S. 31 und das in A. 143 angeführte Schrifttum). Die Beweislast für die Rechtzeitigkeit einer Parteihandlung im Verfahren trifft mithin grundsätzlich die Partei, welche diese Handlung vorzunehmen hat. Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn die Partei den Beweis der Rechtzeitigkeit aus Gründen nicht erbringen kann, die nicht von ihr, sondern von der Behörde zu verantworten sind. In diesem Falle tritt eine Umkehrung der Beweislast ein: Diese ist dann von der Behörde zu tragen (vgl. KUMMER, N. 191 zu Art. 8 ZGB;BGE 70 I 66).
Hinsichtlich der Fristen, die durch die Mitteilung einer Verfügung ausgelöst werden, können sich in zwei Beziehungen Beweisschwierigkeiten einstellen: es kann streitig werden, ob die Verfügung der Partei zugestellt wurde und wann das geschah. Der Beweis dafür, dass es überhaupt zur Zustellung der Verfügung kam, obliegt der Behörde, die allein in der Lage ist, sich den Beweis dafür zu sichern (ASA 27 S. 358; IMBODEN, a.a.O., Nr. 92 Ziff. IV mit Verweisungen). Wann die Zustellung erfolgte, kann insbesondere bei der uneingeschriebenen Versendung behördlicher Akte streitig werden. Wer in einem solchen Falle die Beweislast für den Beginn der Frist zur Anfechtung der Verfügung oder zur Vornahme der darin vorgeschriebenen Parteihandlung trägt, hangt nach den oben dargelegten Grundsätzen davon ab, ob der Versand des Aktes durch die Behörde oder der Empfang desselben durch die Partei die Frist auslöse:
BGE 92 I 253 S. 258
a) Unter Vorbehalt der besonderen Regeln, die für die Zustellung an Postfachinhaber (vgl. BGE 92 I 19 mit Verweisungen) und für den Fall der Unbestellbarkeit sowie des unbenützten Ablaufs einer Abholungsfrist gelten (BGE 70 I 66, BGE 80 IV 204, BGE 82 II 167, BGE 85 IV 116, BGE 91 II 151), setzt das eidgenössische Recht und im allgemeinen auch das kantonale Recht den Beginn der Rechtsmittelfrist auf den Tag fest, an dem der Adressat die Verfügung erhalten hat (wobei nach einzelnen Bestimmungen dieser Tag bei der Berechnung der Frist nicht mitgezählt wird). Da eine Partei, der eine Verfügung uneingeschrieben zugestellt worden ist, regelmässig nicht in der Lage ist, das Empfangsdatum nachzuweisen, fällt die Beweislast für das Datum der Behörde zu, die die Beweislosigkeit durch den uneingeschriebenen Versand des Aktes verursacht hat (BGE 61 I 8; ASA 27 S. 358; Urteil vom 30. September 1964 i.S. Sandoz und Farny).
b) Anders verhält es sich, wenn der Versand der Verfügung durch die Behörde die Rechtsmittelfrist auslöst. Das bündnerische Verwaltungsrecht sieht das namentlich für den Rekurs an den Kleinen Rat (Art. 8 Abs. 2 VVV) und für die Einsprache gegen die Steuerveranlagungsverfügung (Art. 134 Abs. 2 StG) vor. Laut Art. 134 Abs. 2 StG beginnt die Einsprachefrist mit der "Mitteilung der Veranlagungsverfügung" zu laufen; bei Zustellung durch die Post gilt dabei "das Datum des Poststempels der Aufgabestelle" als Zeitpunkt der Mitteilung (Art. 8 Abs. 2 VVV). Da alle Postsachen mit dem Stempel der Aufgabestelle versehen sein müssen, ist der Einsprecher bei dieser Regelung auch dann in der Lage, zum Beweis der Rechtzeitigkeit der Einsprache den Beginn des Fristenlaufs zu belegen, wenn die Veranlagungsverfügung ihm uneingeschrieben zugestellt worden ist. Es besteht somit kein Anlass zu einer Umkehrung der Beweislast, sondern bleibt beim Grundsatz, wonach der Einsprecher als die Partei, die ein der Verwirkung unterliegendes Recht ausübt, die Beweislast für den Zeitpunkt des Fristbeginns trägt.

4. Im vorliegenden Fall erhielt der Beschwerdeführer die Veranlagungsverfügung in einem Briefumschlag, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Poststempel der Aufgabestelle trug und damit den Beweis für den Beginn der Einsprachefrist bildete. Die Bedeutung dieses Beweismittels war aus der Rechtsmittelbelehrung der Veranlagungsverfügung ersichtlich, die ausdrücklich
BGE 92 I 253 S. 259
darauf hinweist, dass die Einsprache "innert dreissig Tagen seit der Mitteilung (Datum des Poststempels der Aufgabestelle)" einzureichen ist. Auf Grund dieser Belehrung wäre zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer, der Rechtsanwalt ist, dafür sorgen werde, dass der Briefumschlag als Beweismittel erhalten bleibe. Da er seine Kanzlei nicht in diesem Sinne unterrichtete, wurde der Briefumschlag weggeworfen. Der Verlust dieses Beweismittels ist vom Beschwerdeführer zu verantworten. Das schliesst eine Umkehrung der Beweislast, die nur in Erwägung zu ziehen wäre, wenn die Verwaltung die Beweislosigkeit zu vertreten hätte, von vornherein aus. Trug aber der Beschwerdeführer die Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Einsprache, dann schlägt der Umstand, dass dieser Beweis nicht erbracht werden konnte, zu seinen Ungunsten aus. Die Kreissteuerkommission und die kantonale Steuerrekurskommission konnten deshalb ohne Willkür davon ausgehen, dass die Einsprache verspätet sei.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Dispositiv

Referenzen

BGE: 92 I 19, 80 IV 204, 82 II 167, 85 IV 116 mehr...

Artikel: Art. 8 ZGB, Art. 4 BV, Art. 139 Abs. 1 StG, Art. 8 Abs. 2 VVV mehr...