BGE 94 I 1
 
1. Urteil vom 6. März 1968 i.S. Industrie-Vereinigung Schaffhausen und Mitbeteiligte gegen Kanton Schaffhausen.
 
Regeste
Kantonales Feriengesetz; Rückwirkungsklausel.
Soll die in einem solchen Erlass enthaltene Rückwirkungsklausel nicht gegen Art. 4 BV verstossen, muss sie sich auf beachtenswerte (triftige) Gründe stützen lassen.
 
Sachverhalt


BGE 94 I 1 (1):

A.- In einer Abstimmung vom 3. Dezember 1967 nahm das Schaffhauser Volk folgendes Gesetz an:
I
Art. 2 des Feriengesetzes vom 5. Dezember 1960 wird aufgehoben und durch folgende Bestimmung ersetzt:
Art. 2 neu
Der Arbeitgeber hat dem Dienstpflichtigen pro Jahr mindestens drei Wochen bezahlte Ferien zu gewähren.


BGE 94 I 1 (2):

II
Dieses Gesetz tritt nach der Annahme durch das Volk auf den 1. Januar 1967 in Kraft.
Aus der Entstehungsgeschichte ist hervorzuheben:
Der ursprüngliche Art. 2 des Feriengesetzes hatte gelautet:
Der Arbeitgeber hat dem Dienstpflichtigen pro Jahr bezahlte Ferien von mindestens folgender Dauer zu gewähren:
a) Jungendliche bis zum vollendeten 20. Altersjahr 3 Wochen
b) vom 21. bis zum vollendeten 40. Altersjahr 2 Wochen
c) vom 41. bis zum vollendeten 50. Altersjahr 21/2 Wochen
d) vom 51. Altersjahr an 3 Wochen
(Lit. b war durch Art. 73 Abs. 1 lit. b des eidg. Arbeitsgesetzes aufgehoben worden.)
Am 29. Juli 1966 reichte W. Stamm eine Initiative mit dem eingangs angeführten Wortlaut ein, die innert Frist die nötige Zahl von Unterschriften auf sich vereinigte und am 3. November 1966 vom Regierungsrat des Kantons Schaffhausen als zustande gekommen erklärt wurde. Ihre weitere Behandlung verzögerte sich durch die Aufstellung eines Gegenvorschlags, worin der Anspruch auf mindestens drei Wochen bezahlte Ferien gegenüber der Initiative beschränkt wurde ("bis zum 20. und nach dem vollendeten 30. Altersjahr oder nach acht Dienstjahren...") und das Inkrafttreten auf den 1. Januar 1968 vorgesehen wurde. Nachdem der Grosse Rat diesem Gegenvorschlag zugestimmt hatte, wurde er am 3. September 1967 der Volksabstimmung unterbreitet, aber darin verworfen. Hierauf fand am 3. Dezember 1967 die Volksabstimmung über den Initiativtext statt und führte zu dessen Annahme. Das neue Gesetz wurde im Amtsblatt vom 8. Dezember 1967 veröffentlicht.
B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragen die Industrie-Vereinigung Schaffhausen und 19 Arbeitgeberfirmen, die Ziffer II dieses Gesetzes aufzuheben und festzustellen, dass die Novelle am 8. Dezember 1967 mit ihrer Publikation in Kraft getreten sei.
Die Beschwerdeführer machen geltend, Art. 77 des kantonalen Wahlgesetzes vom 15. März 1904 sehe für die Behandlung von Initiativen Fristen vor, die im Falle eines Gegenvorschlages zusammen 21 Monate vom Ablauf der Initiativfrist bis zur Volksabstimmung ausmachten. Es sei deshalb von Anfang an ersichtlich gewesen, dass das neue Gesetz niemals auf den 1. Januar 1967 zur Abstimmung gebracht werden könne und

BGE 94 I 1 (3):

dass die Bestimmung, es müsse dann in Kraft treten, eine Rückwirkungsklausel darstelle. In den Beratungen habe man sich denn auch hieran gestossen und im Gegenvorschlag das Inkrafttreten auf den 1. Januar 1968 vorgesehen; den Text der Initiative aber habe man nicht ändern können. Die Rückwirkung beruhe nicht auf beachtenswerten Gründen, sondern auf einer unsorgfältigen, die Termine des Wahlgesetzes missachtenden Redaktion durch die Initianten.
Der Zweck der Minimalferien, die Gesundheit und Arbeitskraft der Arbeitnehmer zu erhalten und zu heben, könne nur erreicht werden, wenn die Ferien während des Arbeitsjahres gewährt würden, nicht aber bei späterer Nachholung oder bei Abgeltung in Geld. Hier seien für das Jahr 1967 nur noch diese Lösungen möglich, weil das Gesetz erst am 8. Dezember erlassen worden sei. Die Nachholung würde bedeuten, dass im Jahre 1968 vier Wochen Ferien zu gewähren seien, was betrieblich höchst unerwünscht und vom gesundheitlichen Standpunkt aus unnötig wäre. Letzteres treffe auch für die Abgeltung in Geld zu, die auf eine versteckte Lohnerhöhung hinauslaufen würde.
Die Rückwirkung hätte stossende Ungleichheiten zur Folge. Eine Umfrage bei den 64 der Industrie-Vereinigung angeschlossenen Firmen habe ergeben, dass bisher 45% der Beschäftigten (d.h. rund 7500 Personen) keinen dreiwöchigen Ferienanspruch gehabt hätten; neun Unternehmen hätten schon vorher drei Wochen bezahlte Ferien gewährt; dagegen habe in zehn Betrieben bisher mehr als die Hälfte der Belegschaft (im Extremfall sogar 84%) nur zwei Wochen Ferien erhalten. Die Rückwirkung würde deshalb die einzelnen Unternehmen sehr verschieden treffen. Nach der gleichen Erhebung seien vom 1. Januar bis zum 15. November 1967 2695 Arbeitnehmer ausgetreten. Ihnen könnte nur noch ein Ersatz in Geld gewährt werden; aber auch das wäre vielfach nicht möglich, weil ihre Adressen den Unternehmungen nicht bekannt seien. So ergäben sich Ungleichheiten auch bei den Arbeitnehmern. Manchmal seien beim Austritt Saldoquittungen erteilt worden; würde darauf abgestellt, so wären die betreffenden Arbeitnehmer gegenüber den anderen benachteiligt; wenn sie nicht massgeblich wären, so würden wohlerworbene Rechte verletzt.
Rechtlich berufen sich die Beschwerdeführer auf ein Gutachten von Professor Imboden, das sie zum integrierenden Bestandteil der Beschwerde erklären. Darin wird auf Grund ähnlicher Erwägungen

BGE 94 I 1 (4):

ausgeführt, die durch die angefochtene Bestimmung angeordnete Rückwirkung erfülle die Voraussetzungen nicht, unter denen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Rückwirkung eines Gesetzes mit Art. 4 BV vereinbar sei. Zwar sei sie klar gewollt und zeitlich mässig; doch fehle es an triftigen Gründen dafür, weil sich das Ziel der Minimalferien damit nicht erreichen lasse, und liege im Eingriff in bereits abgewickelte Vertragsverhältnisse, denen dadurch ein anderer Inhalt gegeben werde, eine Verletzung wohlerworbener Rechte und damit der Eigentumsgarantie. Zudem verstiessen die schon von den Beschwerdeführern erwähnten Ungleichheiten zwischen verschiedenen Unternehmen und zwischen verschiedenen Arbeitnehmern gegen Art. 4 BV. Endlich hätte die Rückwirkungsklausel zur Folge, dass allen Arbeitnehmern, denen bisher nur zwei Wochen Ferien zugestanden hätten, nach dem neuen Recht aber drei Wochen zustünden, im Jahr 1968 zur Nachholung vier Wochen bezahlte Ferien gewährt werden müssten; damit würde aber direkt Art. 341 bis Abs. 2 OR und indirekt Art. 2 ÜbBest. BV (d.h. der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts) verletzt.
C.- Für den Kanton Schaffhausen hat der Regierungsrat auf die Einreichung von Gegenbemerkungen zu der Beschwerde verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Beschwerdeführerin 1 ist ein Verein im Sinne von Art. 60 ff. ZGB, der nach Art. 2 seiner Statuten den Zweck hat, die gemeinsamen Interessen seiner Mitglieder zu wahren. Sie ist deshalb, weil viele ihrer Mitglieder durch die angefochtene Bestimmung betroffen werden, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ebenfalls zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert (BGE 88 I 175, BGE 81 I 120 /1).


BGE 94 I 1 (5):

2. Da sich die Beschwerde gegen ein kantonales Gesetz bzw. gegen eine Bestimmung desselben richtet, erscheint der Kanton Schaffhausen als beschwerdebeklagte Partei. Zu seiner Vertretung im bundesgerichtlichen Verfahren ist mangels einer besonderen Vorschrift der Regierungsrat als oberste Vollziehungs- und Verwaltungsbehörde befugt (Art. 61 KV; BGE 81 I 195 E. 1 a.E., nicht publizierte Urteile vom 20. September 1967 i.S. Union technique suisse lit. D und vom 20. Mai 1959 i.S. Union des associations patronales genevoises lit. B a.E.).
Das ist im vorliegenden Falle insofern nicht glücklich, als sich der Regierungsrat offensichtlich nicht berufen fühlt, die angefochtene Bestimmung zu verteidigen; denn er selbst - wie übrigens auch der Grosse Rat - hat sie ja nicht gewollt, vielmehr in seinem Gegenvorschlag das Inkrafttreten auf den 1. Januar 1968 vorgesehen, "um die Rückwirkung und weitere Komplikationen zu vermeiden". Er scheint sogar die dagegen gerichtete Beschwerde als begründet zu erachten; hat er doch auf die Einreichung von Gegenbemerkungen verzichtet. Es ist nicht ersichtlich, wer sonst zur Vertretung des Kantons legitimiert wäre - auf jeden Fall nicht das Initiativkomitee. Übrigens hat das Bundesgericht auch ohne Gegenbemerkungen und Antrag seitens des Kantons zu prüfen, ob die angefochtene Bestimmung den dagegen erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit standhält.
a) Die Beschwerdeführer machen einmal eine Verletzung von Art. 4 BV geltend. Unter diesem Gesichtspunkt lassen Rechtsprechung und Lehre eine Rückwirkung von Verwaltungsgesetzen, die den Bürger belasten, nur zu, wenn sie
- ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlasses klar gewollt ist;
- in zeitlicher Beziehung mässig ist;
- zu keinen stossenden Rechtsungleichheiten führt;
- sich durch beachtenswerte (triftige) Gründe rechtfertigen lässt;
- nicht in wohlerworbene Rechte eingreift (BGE 92 I 233 E. 5 mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur).


BGE 94 I 1 (6):

Bei dem vom Schaffhauser Volk gutgeheissenen Erlass, nach welchem den Arbeitnehmern mindestens drei Wochen bezahlte Ferien zu gewähren sind, handelt es sich indessen nicht um öffentliches, sondern um (kantonales) Privatrecht. Gemäss Art. 341 bis Abs. 2 OR in der Fassung von Art. 64 Ziffer 2 des BG über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz) vom 13. März 1964 können nämlich die Kantone die von Bundesrechts wegen festgesetzte Feriendauer von 2 auf 3 Wochen verlängern (F. W. BIGLER, Komm. zum Arbeitsgesetz, Bem. 2c zu Art. 64, Bem. 2a zu Art. 73; vgl. auch H. HUBER, Komm. zu Art. 6 ZGB N. 218). Ob sie ausserdem befugt sind, übergangsrechtliche Bestimmungen zu erlassen, brauchte hier selbst dann nicht entschieden zu werden, wenn es die Beschwerdeführer ausdrücklich bestritten hätten. Denn die angefochtene Rückwirkungsklausel ist schon aus einem anderen Grunde unzulässig.
b) Wie im Verwaltungsrecht gilt auch im Bereich des Zivilrechts die Regel der Nichtrückwirkung eines Gesetzes. Die im Schlusstitel zum ZGB enthaltenen Ausnahmen von dieser Regel betreffen das eidgenössische und nicht das kantonale Zivilrecht. Die entsprechenden Bestimmungen, insbesondere Art. 2 SchlT/ZGB, sind deshalb im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Es stellt sich aber die weitere Frage nach der Anwendbarkeit der in lit. a hievor erwähnten, für das Verwaltungsrecht entwickelten Grundsätze. Sie ist jedenfalls insoweit zu bejahen, als sich auch die Rückwirkungsklausel eines kantonal-privatrechtlichen Ferienerlasses, soll sie nicht gegen Art. 4 BV verstossen, auf beachtenswerte oder triftige Gründe stützen lassen muss. Auch solche Ferienbestimmungen bewirken eine Belastung des Bürgers (als Arbeitgeber). Sie unterscheiden sich vom früheren öffentlichen Recht gleichen Inhalts wesentlich nur dadurch, dass sie auf einem echten Vorbehalt beruhen (Art. 341 bis Abs. 2 OR), den der Bundesgesetzgeber infolge des "Vorprellens" einiger Kantone auf diesem Gebiet (vgl. H. HUBER a.a.O.) in das Arbeitsgesetz aufnehmen musste.
Ob die weiteren, für die Rückwirkung im Verwaltungsrecht geltenden Voraussetzungen im Zivilrecht ebenfalls anzuwenden sind, kann dahingestellt bleiben; die angefochtene Rückwirkungsklausel verletzt Art. 4 BV schon deshalb, weil sie sich nicht mit beachtenswerten Gründen rechtfertigen lässt.
c) Die gesetzlichen Mindestferien dienen unbestrittenermassen

BGE 94 I 1 (7):

dazu, die Gesundheit der Arbeitnehmer zu erhalten und zu fördern. Sie sind demzufolge grundsätzlich im betreffenden Arbeitsjahr zu beziehen. Die im vorliegenden Fall angeordnete Rückwirkung auf das bereits abgelaufene Jahr 1967 verunmöglicht das. Sie hat zur Folge, dass der entstandene Anspruch auf zusätzliche Ferien nur noch durch Geldersatz oder durch Nachgewährung der dritten Ferienwoche in einem späteren Zeitpunkt abgegolten werden kann. Mit einer Entschädigung in Geld ist das eingangs genannte gesetzgeberische Ziel der Mindestferien von vornherein nicht zu erreichen. Ob sich gleiches auch mit Bezug auf die nachträgliche Gewährung der Ferien sagen liesse, mag hier offen bleiben. Selbst wenn die Nachholung dem genannten Zweck nicht widerspräche, hätten diesbezügliche Interessen der Arbeitnehmer gleichwohl zurückzutreten gegenüber den Rechten derjenigen Arbeitgeber, die im Vertrauen auf die damals geltenden Ferienvorschriften für 1967 mit ihren Dienstvertragspartnern weniger als drei Wochen Ferien vereinbart haben. Die angefochtene Rückwirkungsklausel greift in diese Rechte ein, weil sie den Inhalt jener rechtsgültig abgeschlossenen und erfüllten Verträge nachträglich abändert. Das Interesse daran, dass ein solcher Eingriff unterbleibe, verdient deshalb geschützt zu werden.
Triftige Gründe, die ein Abweichen vom Grundsatz der Nichtrückwirkung rechtfertigen würden, liegen somit nicht vor, weshalb die angefochtene Ziffer II der Gesetzes-Novelle vom 3. Dezember 1967 wegen Verletzung des Art. 4 BV aufzuheben ist.
Damit erübrigt sich die Prüfung der weiteren, im Gutachten Imboden erhobenen und von den Beschwerdeführern übernommenen Rügen.
Auf dieses Begehren kann wegen der rein kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde nicht eingetreten werden. Vielmehr wird die zuständige kantonale Behörde nun das Datum des Inkrafttretens des neuen Gesetzes festsetzen müssen. Wenn sie auch den Wortlaut der formulierten Initiative nicht abändern durfte, so hat sie doch die Lücke auszufüllen, welche infolge der Aufhebung von Ziffer II durch das Bundesgericht

BGE 94 I 1 (8):

entsteht. Dabei steht es ihr frei, eine vernünftige und einfach zu handhabende Lösung zu treffen. An das Datum der Publikation ist sie nicht gebunden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass Ziffer II der Gesetzesnovelle vom 3. Dezember 1967 über die Abänderung des Feriengesetzes vom 5. Dezember 1960 aufgehoben wird.