BGE 96 I 138
 
25. Auszug aus dem Urteil vom 25. Februar 1970 i.S. Hall gegen Regierungsrat des Kantons Bern.
 
Regeste
Chiropraktorenberuf; zulässiger Inhalt einer kantonalen Verordnung. Art. 4 und 31 BV, Grundsatz der Gewaltentrennung.
 
Sachverhalt


BGE 96 I 138 (138):

A.- Der Regierungsrat des Kantons Bern erliess am 1. Juli 1969 "in Ausführung von § 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 14. März 1865 über die Ausübung der medizinischen Berufsarten"

BGE 96 I 138 (139):

eine Verordnung "über die Chiropraktoren". Diese wurde am 6. August 1969 im Amtsblatt veröffentlicht und enthält unter anderem folgende Bestimmungen:
"Art. 1. Die Direktion des Gesundheitswesens erteilt im Kanton Bern wohnhaften, gut beleumdeten Schweizer Bürgern, die einen Fähigkeitsausweis im Sinne von Art. 2 dieser Verordnung besitzen, die Bewilligung zur Ausübung der Chiropraktik.
Art. 2. 1 Als Fähigkeitsausweis gilt das Zeugnis über das Bestehen der kantonalen Chiropraktorenprüfung (Art. 10 bis 17 und Art. 20).
2...
Art. 20. Chiropraktoren, die beim Inkrafttreten dieser Verordnung bereits im Kanton Bern tätig sind, werden von der Direktion des Gesundheitswesens zu einer vorwiegend praktischen Chiropraktorenprüfung zugelassen, sofern sie
a) im Kanton Bern niedergelassen und gut beleumdet sind;
b) ihre Fachausbildung an einem vom Eidgenössischen Departement des Innern anerkannten Ausbildungsinstitut für Chiropraktoren vor dem 1. Januar 1965 aufgenommen und
c) den zur Zeit ihrer Ausbildung vorgeschriebenen Lehrgang dieses Institutes erfolgreich absolviert haben. Ist diese Fachausbildung nach dem 31. Dezember 1964 abgeschlossen worden, so ist überdies eine mindestens einjährige Assistentenzeit bei einem in der Schweiz tätigen Chiropraktor nachzuweisen.
Gesuche um Zulassung zu dieser Prüfung sind mit den nötigen Zeugnissen innerhalb dreier Monate seit dem Inkrafttreten dieser Verordnung bei der Direktion des Gesundheitswesens einzureichen.
Wird die Prüfung innerhalb zweier Jahre bestanden, so erteilt die Direktion des Gesundheitswesens dem Bewerber die Praxisbewilligung.
Die Prüfung kann nur einmal wiederholt werden."
B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 12. September 1969 verlangen Frau Eliane R. Hall, geb. Kuchen, Schweizerbürgerin, und ihr Ehemann Harry R. Hall, amerikanischer Staatsangehöriger, die Aufhebung der Art. 2 (richtig: 2 Abs. 1) und 20 der Chiropraktorenverordnung.
In der Beschwerde wird festgestellt, Eliane R. Hall habe in Bern die Maturitätsprüfung bestanden, nachher in USA Chiropraktik studiert und am 30. September 1953 an der Palmer School of Chiropractic in Davenport den Grad eines Doktors der Chiropraktik erworben. Am 8. Oktober 1953 habe sie überdies im Staate Georgia das Staatsexamen als Chiro praktorin bestanden.
Harry R. Hall habe am 5. März 1951 an der Palmer School

BGE 96 I 138 (140):

of Chiropractic den Grad eines Doktors der Chiropraktik erworben. Am 30. April 1952 habe er im Staate Jowa und am 15. Juli 1953 im Staate Michigan das Staatsexamen bestanden. Beide Beschwerdeführer, die in Muri/BE wohnen, üben seit über 10 Jahren im Kanton Bern den Chiropraktorenberuf aus.
Sie halten dafür, die angefochtene Verordnung verletze die Art. 4 und 31 BV. Die einzelnen Rügen und ihre Begründung ergeben sich, soweit erforderlich, aus den nachstehenden Erwägungen.
C.- Der Regierungsrat des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
"Personen, denen ein Kanton auf Grund eines durch besondere Fachausbildung erworbenen und vom Bundesrat anerkannten Befähigungsausweises die Bewilligung zur Ausübung der Chiropraktik erteilt hat, sind berechtigt, innert den Schranken dieser Bewilligung für die Krankenversicherung tätig zu sein. Artikel 15 Absatz 1 und Artikel 17 Absatz 1 finden sinngemäss Anwendung."
Gestützt auf Art. 21 Abs. 4 KUVG erliess der Bundesrat am 15. Januar 1965 eine "Verordnung IV über die Krankenversicherung betreffend die Anerkennung kantonaler Befähigungsausweise der Chiropraktoren für die Krankenversicherung" (AS 1965 55). Deren Art. 1 sieht vor, dass kantonale Befähigungsausweise für Chiropraktoren "auf Grund einer in der Schweiz erfolgreich abgelegten Prüfung" anerkannt werden. Zur Prüfung zugelassen werden Bewerber mit schweizerischem oder anderem anerkanntem Maturitätsausweis, die ein vom Eidgenössischen Departement des Innern anerkanntes Ausbildungsinstitut mit vollen 36 Studienmonaten absolviert haben und während mindestens einem Jahr bei einem Chiropraktor mit anerkanntem Befähigungsausweis als Assistent tätig gewesen sind (Art. 2). Für die schon bisher tätigen Chiropraktoren enthält indessen Art. 5 Abs. 1 folgende Übergangsbestimmung:


BGE 96 I 138 (141):

"Chiropraktoren, die am 1. Januar 1965 auf Grund eines den Artikeln 1 und 2 nicht vollständig entsprechenden Befähigungsausweises eine kantonale Bewilligung zur Berufsausübung besitzen, sind zur Betätigung für die Krankenversicherung im Rahmen von Artikel 21 Absatz 4 des Gesetzes zugelassen."
Die genannten Vorschriften des Bundesrechtes ermöglichen den Chiropraktoren, unter gewissen Voraussetzungen für die Mitglieder von Krankenkassen tätig zu sein. Dass der Kanton diese Voraussetzungen schaffe, wünschten im Kanton Bern die Chiropraktoren selber.
Die Parteien gehen darin einig, dass die Chiropraktik zum Bereich der "niedern Chirurgie" im Sinne des genannten Erlasses gehört. Die Beschwerdeführer machen auch nicht etwa geltend, Art. 3 Abs. 2 ermächtige die Gesundheitsdirektion nur zu konkreten Verfügungen, nicht aber den Regierungsrat zu einem generellen Erlass. Die Parteien gehen denn auch offensichtlich davon aus, die Befugnis zum Erlass der umstrittenen Verordnung sei in der Vollzugsgewalt des Regierungsrates (Art. 38 KV) eingeschlossen. Streit herrscht nur über den zulässigen Inhalt der Verordnung.


BGE 96 I 138 (142):

a) Die Beschwerdeführer fassen die Klausel über die Erteilung der Erlaubnis "nach bestandener Prüfung oder auf Vorlegung von Zeugnissen" in dem Sinne auf, dass der Regierungsrat nur das eine oder das andere, keinesfalls aber beides hätte anordnen dürfen. Indessen lässt sich Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes zwanglos in der Weise verstehen, dass die Bewilligungsinstanz nach ihrem sachverständigen Ermessen die Voraussetzung einer Bewilligung bestimmen darf. Dabei ist es ihr anheimgestellt, eine Prüfung anzuordnen oder vorhandene Zeugnisse zu würdigen; sie darf aber auch den Beweis der Qualifikation teils durch Prüfung, teils durch Zeugnisse erbringen lassen. Selbst wenn man den Gesetzestext ausschliesslich im Sinne einer Alternative verstehen wollte, wäre es mindestens nicht der Bewerber, sondern die Behörde, die entschiede, ob eine Prüfung verlangt oder nicht verlangt werden solle. Dabei könnte ihr nicht verwehrt werden, eine Prüfung in jedem Fall zu verlangen. In dieser Kompetenz eingeschlossen wäre natürlicherweise auch die Bestimmung der Qualifikationsausweise, die ein Bewerber beizubringen hat, damit das Prüfungsverfahren für ihn überhaupt begonnen wird. Wenn dabei auch Zeugnisse ausländischer Institute oder Staaten als solche Ausweise anerkannt werden, so wirkt sich das zugunsten der Prüfungsbewerber, nicht zu deren Nachteil aus. In dieser Hinsicht ist mithin die Rüge, die Verordnung überschreite inhaltlich die gesetzliche Grundlage, nicht begründet.
b) Bedenken erwecken könnte die Beschränkung der Prüfung auf Schweizerbürger, wie es Art. 1 der Verordnung vorsieht. § 3 Abs. 2 des Gesetzes erwähnt das Bürgerrecht nicht. Ob zwischen dem Bürgerrecht und der Qualifikation zur Ausübung des Chiropraktorenberufes ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, erscheint als sehr zweifelhaft, braucht indessen nicht geprüft zu werden, weil eine solche Rüge in der Beschwerde nicht erhoben wurde.
Die Chiropraktorenverordnung ist ein generell abstrakter Erlass, der sich an eine unbestimmte Anzahl von Personen wendet. Für ihn gelten die Regeln, die die Rechtsprechung für die Beurteilung gesetzgeberischer Erlasse entwickelt hat.


BGE 96 I 138 (143):

Danach verstösst ein solcher Erlass nur dann gegen Art. 4 BV, wenn er sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn er sinn- und zwecklos ist, oder wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund in den zu regelnden tatsächlichen Verhältnissen nicht finden lässt (BGE 93 I 112, BGE 91 I 84 mit Hinweisen). Innerhalb dieses Rahmens steht der kantonalen Behörde ein weiter Spielraum des Ermessens zu. Der Verfassungsrichter hat diese Befugnis zu achten; er darf nur bei Ermessensmissbrauch oder -überschreitung eingreifen. Dagegen darf er nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen der ordnenden Behörde setzen und nicht schon dann einschreiten, wenn der Erlass auf gesetzgebungspolitischen Überlegungen beruht, die der Richter als Gesetzgeber nicht angestellt hätte (BGE 92 I 442 /43).
Diesen Kriterien der Rechtsprechung hält der angefochtene Erlass stand. Das Bundesrecht (Art. 1 der erwähnten Verordnung IV) stellt bezüglich der Prüfungsfächer und der Vorbildung der Prüflinge sehr strenge Anforderungen. Die kantonale Verordnung stimmt in ihren Artikeln 11 (Vorbildung der Prüflinge) und 13 (Prüfungsfächer) dem Sinne nach und weitgehend auch im Wortlaut mit den Artikeln 1 und 2 der Verordnung IV überein. Gelten aber erhebliche Anforderungen für alle Personen, die den Chiropraktorenberuf aufnehmen, so lag es nahe, auch die schon praktizierenden, aber in der Schweiz nicht geprüften Chiropraktoren mindestens einer summarischen Befähigungsprüfung zu unterwerfen. Art. 5 der Verordnung IV sieht das vor, indem er es den kantonalen Behörden anheimstellt, denjenigen Berufsangehörigen, die schon bisher praktiziert haben, Bewilligungen zu erteilen "auf Grund eines den Artikeln 1 und 2 nicht vollständig entsprechenden Bildungsausweises". Dieser soll nach Art. 20 der angefochtenen Verordnung durch Bestehen einer ,,, vorwiegend praktischen" Prüfung erbracht werden, einer Prüfung, von der es im "Vortrag" der Gesundheitsdirektion zum Verordnungsentwurf heisst, sie sei so zu gestalten, dass "seriöse, fachkundige Chiropraktoren" sie "jederzeit ohne besondere Vorbereitung bestehen können". Eine solche Prüfung ist nicht nur nicht sinn- und zwecklos, sondern lässt sich auf durchaus ernsthafte Gründe stützen. Erst recht kann keine Rede davon sein, dass unverständliche Unterscheidungen getroffen wurden. Im Gegenteil ist die Übergangsgeneration der Chiropraktoren gegenüber

BGE 96 I 138 (144):

den neu in den Beruf Eintretenden bevorzugt. Ob diese Bevorzugung noch weiter hätte getrieben werden dürfen, z.B. so weit, dass den Absolventen des Palmer College of Chiropractic in Davenport jegliches Examen erlassen worden wäre, braucht hier nicht erörtert zu werden. Diese Frage liegt gerade in jenem Ermessensbereich, in den sich das Bundesgericht nicht einzumischen hat.
Die angefochtene Verordnung hielte dem Art. 4 BV übrigens auch dann stand, wenn man nicht die gegenüber den kantonalen Gesetzgebern aufgestellten Kriterien anwenden wollte, sondern sich mit gewöhnlicher Willkürprüfung begnügte. Auch bei solcher Prüfung und unter Beachtung des Umstandes, dass das Palmer College in Davenport zu den vom Eidgenössischen Departement des Innern anerkannten Ausbildungsinstituten gehört (AS 1965 1199), könnte nicht davon gesprochen werden, dass schon die blosse Abnahme einer vorwiegend praktischen Befähigungsprüfung jenseits einer mit vernünftigen Gründen vertretbaren Ordnung liege.
Ob es sich beim Chiropraktorenberuf geradezu um eine neue wissenschaftliche Berufsart im Sinne des Art. 33 BV handle, kann hier offen bleiben. Jedenfalls stellt die Verordnung IV sowohl bezüglich der Vorbildung (vgl. Art. 2) als auch hinsichtlich der fachlichen Ausbildung (vgl. den Katalog in Art. 1) an diejenigen, die den Beruf neu ergreifen möchten, hohe Anforderungen. Im Vergleich dazu ist das hier umstrittene Erfordernis der vorwiegend praktischen Prüfung als für die Übergangsgeneration der Chiropraktoren günstige Bedingung zu werten. Wie sich dem erwähnten "Vortrag" der Gesundheitsdirektion entnehmen lässt, boten gerade die Übergangsbestimmungen des Art. 20 die grössten Schwierigkeiten bei

BGE 96 I 138 (145):

der Ausarbeitung des Verordnungsentwurfes. Der von einem Juristen präsidierte Arbeitsausschuss, dem Vertreter der medizinischen Fakultät, der Ärzte, der Krankenkassen und der Chiropraktoren sowie ein Neuenburger Chiropraktor (als Experte für die Gestaltung der kantonalen Chiropraktorenprüfung) angehörten, hat sich nach langer Beratung auf den umstrittenen Art. 20 geeinigt. Diesem Befund einer Gruppe von Fachleuten kann das Bundesgericht keinen besser erarbeiteten eigenen Befund entgegenstellen. Namentlich könnte der Staatsgerichtshof nicht feststellen, dass die Prüfung, die den bisher tätigen Chiropraktoren auferlegt wird, im Vergleich zum angestrebten Ziel - Schutz des Publikums vor unqualifizierten Berufsangehörigen - nicht verhältnismässig sei.
Der Hinweis der Beschwerdeführer auf angeblich weniger weit gehende Anforderungen in andern Kantonen ist schon deshalb unbehelflich, weil alle Erlasse, auf die sich die Beschwerdeführer stützen, aus den 50-iger Jahren stammen und unter der heutigen Rechtslage (Revision des KUVG vom 13. März 1964, Erlass der Verordnung IV über die Krankenversicherung vom 15. Januar 1965) überholt sind.
Dass mit der umstrittenen Übergangsprüfung andere als polizeiliche (etwa gewerbepolitische) Zwecke angestrebt worden seien, machen die Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.