Urteilskopf
96 I 162
29. Urteil vom 20. April 1970 i.S. Otto Krahn AG gegen Eidg. Steuerverwaltung
Regeste
Verrechnungssteuer; Wiederherstellung der Einsprachefrist.
Die Einspracheentscheide der Eidg. Steuerverwaltung unterliegen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Erw. 2).
Die - im Verrechnungssteuergesetz nicht vorgesehene - Wiederherstellung der versäumten Einsprachefrist ist auch in Fällen zulässig, in denen Art. 24 des BG über das Verwaltungsverfahren noch nicht anwendbar ist (Erw. 3).
War der Vertreter des Säumigen durch ein unverschuldetes Hindernis abgehalten, innert der Frist zu handeln? (Erw. 3).
1. Mit Entscheid vom 4. September 1969, zugestellt am 5. September 1969, forderte die Eidg. Steuerverwaltung (EStV) von der Beschwerdeführerin einen Verrechnungssteuerbetrag von Fr. 233'696.25. Die Beschwerdeführerin liess durch eine Treuhandgesellschaft Einsprache einreichen. Diese ist vom 3. Oktober 1969 datiert, wurde aber erst am 7. Oktober 1969 der Post übergeben. Sie war daher verspätet; denn der letzte Tag der 30tägigen Einsprachefrist (Art. 42 Verrechnungssteuergesetz, VStG) fiel auf den 6. Oktober 1969. Die Treuhandgesellschaft verlangte in einer Eingabe vom 17. Oktober 1969 die Wiederherstellung der Frist. Die EStV trat jedoch auf die Einsprache nicht ein (Entscheid vom 11. November 1969). Hiegegen richtet sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 9. Dezember 1969. Die EStV beantragt deren Abweisung.
2. Art. 43 VStG bestimmt, dass die Einspracheentscheide der EStV durch Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden können. Das - im vorliegenden Fall anwendbare - BG vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG enthält keine entgegenstehende Vorschrift. Die in Art. 98 lit. c rev. OG vorbehaltene Möglichkeit der Weiterziehung von Einspracheentscheiden der den Departementen des Bundesrates unterstellten Dienstabteilungen an eine eidgenössische Rekurskommission besteht hier nicht, wie sich aus Art. 43 VStG ergibt. Die vorliegende Beschwerde ist daher zulässig. Sie ist rechtzeitig eingereicht worden. Es ist darauf einzutreten.
3. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass ihre Einsprache zu spät der Post übergeben wurde. Dagegen meint sie,
BGE 96 I 162 S. 164
auf Grund besonderer Verumständungen müsse ihr die Wiederherstellung gegen die Folgen der Fristversäumnis gewährt werden.Das VStG enthält keine Vorschriften über die Wiederherstellung versäumter Fristen für die Einlegung von Rechtsmitteln. Das BG über das Verwaltungsverfahren (VwG) lässt die Wiederherstellung zu (Art. 24), und zwar auch für das Steuerverfahren (Umkehrschluss aus Art. 2 Abs. 1); doch ist dieses Gesetz hier nicht anwendbar, da die mit der Einsprache angefochtene Verfügung der EStV vor seinem Inkrafttreten - 1. Oktober 1969 - getroffen wurde (Art. 81). Indes muss die Wiederherstellung versäumter Rechtsmittelfristen nach einem allgemeinen Grundsatz auch in Fällen zulässig sein, für die das Gesetz sie nicht ausdrücklich vorsieht. Die EStV stützt sich auf Art. 35 OG. Es rechtfertigt sich, diese Bestimmung oder auch Art. 24 VwG analog anzuwenden. Beiderorts (wie übrigens auch in anderen Erlassen, vgl. Art. 99 Abs. 4 Wehrsteuerbeschluss und Art. 13 BZP) ist der Grundgedanke derselbe: Wiederherstellung soll gewährt werden, wenn der Säumige oder sein Vertreter unverschuldet abgehalten war, innert der Frist zu handeln, und wenn das Versäumte binnen einer weiteren Frist nachgeholt worden ist.
Es ist daher zu prüfen, ob die Vertreterin der Beschwerdeführerin unverschuldet daran gehindert gewesen sei, die Einsprache spätestens am 6. Oktober 1969 der Post zu übergeben. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die von der Vertreterin beschäftigte Lehrtochter sei am 3. Oktober 1969 (Freitag) eindringlich angewiesen worden, die Einsprache noch am gleichen Tage der Post zu übergeben; die Weisung sei "aus einem nicht mehr rekonstruierbaren Grund" nicht befolgt worden; der Fehler sei jedoch "ausserhalb des Hauses und ausserhalb des Einflusskreises" der Treuhandgesellschaft unterlaufen. Für diese Darstellung wird Beweis durch mehrere Zeugen angeboten. Indes erübrigt es sich, die Geschehnisse am 3. Oktober 1969 näher abzuklären. Denn der letzte Tag der Einsprachefrist war nicht der 3., sondern der 6. Oktober 1969 (Montag). An diesem Tag hätte aber überprüft werden können, ob die Sendung tatsächlich abgegangen sei; ein Blick in das Postquittungsbuch hätte genügt. Zu dieser einfachen Kontrolle war die Treuhandgesellschaft - namentlich gegenüber der minderjährigen Lehrtochter - verpflichtet. Hätte sie die erforderliche Prüfung rechtzeitig
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vorgenommen, so hätte die unterlassene Postaufgabe noch vor Ablauf der Einsprachefrist nachgeholt werden können. Da die Vertreterin der Beschwerdeführerin ihre Aufsichtspflicht nicht erfüllt hat, kann von einer unverschuldeten Hinderung, innert der Frist zu handeln, keine Rede sein. Die EStV hat mit Recht die Wiederherstellung der Frist abgelehnt.Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.