BGE 97 I 519 |
71. Auszug aus dem Urteil vom 30. Juni 1971 i.S. Brändli und Mitbeteiligte sowie Gemeinde Lostorf gegen Peier und Regierungsrat des Kantons Solothurn. |
Regeste |
Gemeindeautonomie. |
Sachverhalt |
A.- Nach dem solothurn. Gesetz über das Bauwesen vom 10. Juni 1906 (BauG) sind die Einwohnergemeinden befugt, im Interesse der baulichen Entwicklung das Bauplanverfahren einzuführen, d.h. Baureglemente und Bebauungspläne aufzustellen. Diese unterliegen der Genehmigung des Regierungsrates (§ 1). Für Gemeinden, die das Bauplanverfahren nicht einführen, gilt das vom Kantonsrat erlassene Normalbaureglement (§ 4 Abs. 1 und 2). Baureglemente und Bebauungspläne der Gemeinden müssen inhaltlich mindestens den Vorschriften des Normalbaureglementes (NBR) entsprechen (§ 4 Abs. 3). Das zur Zeit geltende NBR ist am 28. Oktober 1959 erlassen worden und bestimmt im Abschnitt über die "Gesundheitspolizei" in § 42 unter dem Randtitel "Schutz vor Immissionen":
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"1. Alle baulichen Einrichtungen sind nach dem jeweiligen Stand der Technik so auszuführen, abzuändern und zu unterhalten, dass eine übermässige Belästigung von Menschen und Tieren vermieden wird.
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2. Bestehende bauliche Einrichtungen, bei denen eine Abhilfe gegen solche Übelstände nicht erreicht werden kann, können durch Verfügung des Gemeinderates oder des Regierungsrates abgeändert oder entfernt werden. Es findet das Gesetz über das Exekutionsverfahren bei öffentlichen Leistungen Anwendung.
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3. Vorbehalten bleiben weitergehende Zonenvorschriften und die Bestimmungen des Privatrechts."
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Die Einwohnergemeinde Lostorf hat am 29. Juli 1961 ein Baureglement (BRL) erlassen, das vom Regierungsrat des Kantons Solothurn am 22. Dezember 1961 genehmigt worden ist. Nach § 15 BRL wird das Baugebiet in 5 Bauzonen mit verschiedener Nutzung aufgeteilt, nämlich in eine Kernzone, drei Wohnzohnen und eine Industriezone. Das ausserhalb der Bauzonen liegende Land wird als Landwirtschaftszone bezeichnet (§ 22). In den §§ 70-79 enthält das BRL Vorschriften über die "Gesundheitspolizei", von denen § 70 mit dem Randtitel "Schutz vor Immissionen" wörtlich übereinstimmt mit § 42 NBR. |
B.- Der Landwirt Urs Peier möchte auf einem in der Gemeinde Lostorf gelegenen Grundstück einen mittelgrossen Schweinezucht- und -mastbetrieb errichten. Gegen dieses Bauvorhaben erhoben 14 Grundeigentümer und der Gemeinderat von Lostorf Einsprache wegen der zu erwartenden Geruchsimmissionen. Die Baukommission Lostorf und auf Beschwerde hin der Gemeinderat Lostorf wiesen das Baugesuch ab.
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Hiegegen reichte Peier beim Regierungsrat des Kantons Solothurn Beschwerde ein. Dieser hiess die Beschwerde gut und wies die Baubehörden von Lostorf an, die nachgesuchte Baubewilligung zu erteilen. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus: Der geplante Schweinezucht- und -mastbetrieb werde nach modernen Grundsätzen und mit allen zur Vermeidung einer lästigen Geruchsbildung erforderlichen Vorkehren gebaut und geführt werden. Wegen übermässiger Belästigung im Sinne von § 42 NBR und § 70 BRL könne ein solcher Betrieb in der Landwirtschaftszone nur verboten werden, wenn die Belästigung nach ihrer Art und den lokalen Verhältnissen für die Betroffenen nicht zumutbar sei. Wie es sich im Einzelfall damit verhalte, sei eine Rechtsfrage, die der vollständigen Überprüfung durch den Regierungsrat unterliege. Nach Lage, Grösse und Einrichtung des geplanten Betriebes seien keine oder zum mindesten keine für die lokalen Verhältnisse übermässigen Immissionen zu erwarten (wird näher ausgeführt). Der Gemeinderat habe den Begriff der übermässigen Belästigung im Sinne von § 42 NBR und § 70 BRL nicht richtig ausgelegt.
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C.- Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates haben mehrere Eigentümer von Liegenschaften in Lostorf sowie die Einwohnergemeinde Lostorf staatsrechtliche Beschwerde erhoben, diese wegen Verletzung der Gemeindeautonomie.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
2. Art. 54 der solothurn. KV gibt den Gemeinden das Recht, innerhalb der Schranken der Verfassung und der Gesetze ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen. Die KV sagt indes nicht, welche Angelegenheiten in den Autonomiebereich der Gemeinden fallen, und erklärt insbesondere nicht, dass das Bauwesen eine Gemeindeangelegenheit sei. Inwieweit die Gemeinden auf diesem Gebiet autonom sind, bestimmt sich somit nach dem kantonalen Gesetzesrecht (BGE 93 I 431 E. 2). Die Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechtes aber kann das Bundesgericht, auch soweit der Umfang der Gemeindeautonomie in Frage steht, nicht frei, sondern nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür überprüfen (BGE 93 I 431 E. 3 a mit Hinweis auf frühere Urteile, BGE 94 I 545 E. 3, BGE 96 I 153 E. 3). |
Nach § 2 BRL, dessen Bestimmungen wörtlich aus § 2 NBR übernommen worden sind, können Entscheide des Gemeinderates in Baupolizeisachen durch Beschwerde an den Regierungsrat weitergezogen werden. Dieser hat im angefochtenen Entscheid angenommen, er dürfe im vorliegenden Falle völlig frei überprüfen, ob der Gemeinderat den Begriff der "übermässigen Belästigung" im Sinne der §§ 42 NBR und 70 BRL richtig ausgelegt habe. Die Beschwerde erblickt in dieser freien Überprüfung eine Verletzung der Gemeindeautonomie, verweist auf das den Gemeindebehörden bei der Anwendung der genannten Bestimmung zustehende Ermessen und behauptet, der Regierungsrat hätte den Entscheid des Gemeinderates nur wegen Willkür oder Ermessensüberschreitung aufheben können und sei nicht befugt gewesen, in völlig freier Würdigung und Überprüfung der Verhältnisse und Umstände zum gegenteiligen Schluss zu kommen; Willkür und Ermessensüberschreitung aber würden dem Gemeinderat im angefochtenen Entscheid nicht vorgeworfen und könnten ihm auch nicht vorgeworfen werden.
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Nach der neuern Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die Gemeindeautonomie auch dadurch verletzt werden, dass die zuständige kantonale Behörde eine autonome Satzung der Gemeinde willkürlich anwendet (BGE 95 I 33 ff., insbesondere 37/38). Die Beschwerde will offenbar eine solche Verletzung der Gemeindeautonomie geltend machen und geht, freilich ohne es ausdrücklich zu sagen, davon aus, dass § 70 BRL, aufgrund dessen der Gemeinderat die Baubewilligung verweigert hat, autonomes Gemeinderecht sei. Nun gehört zwar § 70 BRL, weil er im Gemeindebaureglement enthalten ist, zum Gemeinderecht und nicht, wie der Beschwerdegegner anzunehmen scheint, zum kantonalen Recht. Dagegen wäre § 70 BRL nur dann eine autonome Norm, wenn es der Gemeinde frei gestanden wäre, diese Bestimmung in ihr Baureglement aufzunehmen (vgl. BGE 93 I 160). Das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. § 70 BRL lautet wörtlich gleich wie § 42 NBR, und diese Bestimmung ist zwingendes kantonales Recht, das in allen Gemeinden gilt ohne Rücksicht darauf, ob sie ein Baureglement besitzen oder nicht. In Gemeinden ohne Baureglement gilt § 42 NBR unmittelbar aufgrund von § 4 Abs. 2 BauG, während er in Gemeinden, die ein Baureglement erlassen, deshalb zur Geltung kommt, weil § 6 Ziff. 7 BauG die Gemeinden verpflichtet, in ihre Baureglemente Bestimmungen über gesundheitspolizeiliche Anordnungen, Ausschluss von Belästigungen (Ausdünstungen, Rauch, Staub, Lärm und dergleichen) aufzunehmen und diese Bestimmungen nach § 4 Abs. 3 BauG inhaltlich mindestens den Vorschriften des NBR entsprechen müssen. Als autonomes Gemeinderecht können daher nur solche Bestimmungen über den Schutz vor Immissionen gelten, die inhaltlich weiter gehen als § 42 NBR (vgl. W. LUDER, Das Baupolizeirecht als Beschränkung der Eigentumsfreiheit, insbesondere nach solothurn. Recht, 1951, S. 81 unten). Das trifft z.B. zu für die Bestimmungen des BRL, wonach in der Kernzone nur Gewerbebetriebe zulässig sind, die "keine erhebliche Belästigung", und in den Wohnzonen nur solche, die "absolut keine Belästigung" durch Rauch, Staub, Geräusche, Erschütterungen, Ausdünstungen usw. zur Folge haben (§§ 16 Abs. 3, 18 Abs. 2 und 19 Abs. 5 BRL). Um eine autonome Norm würde es sich auch handeln, wenn das BRL Schweinezuchtbetriebe von einer bestimmten Grösse in der Landwirtschaftszone allgemein oder doch in einer gewissen Entfernung von den Bauzonen untersagen würde. Die streitige, in § 70 BRL enthaltene allgemeine Vorschrift über den "Schutz vor Immissionen" dagegen ist keine autonome Satzung, weil sie lediglich einen zwingenden Rechtsatz des kantonalen Rechtes wiederholt. Handelt es sich aber bei § 70 BRL zwar nicht formell, so doch inhaltlich um zwingendes kantonales Recht, so muss, damit dieses Recht auch durchgesetzt und im ganzen Kanton einheitlich und ohne Verletzung der Eigentumsgarantie gehandhabt wird, der Regierungsrat seine Auslegung und Anwendung frei überprüfen können, und es kann daher der angefochtene Entscheid, der das Ergebnis einer solchen Überprüfung ist, nicht gegen die Gemeindeautonomie verstossen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die §§ 70 BRL und 42 NBR den unbestimmten Rechtsbegriff der "übermässigen Belästigung" verwenden, bei dessen Anwendung im Einzelfall den zuständigen Behörden ein gewisser Beurteilungsspielraum offen steht, denn einen durch die Gemeindeautonomie geschützten Beurteilungsspielraum haben die Gemeindebehörden nur bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, die dem autonomen Gemeinderecht angehören (BGE 96 I 369 ff., insbesondere 373/74), was für den Begriff der "übermässigen Belästigung" gerade nicht zutrifft. |