Urteilskopf
136 I 376
38. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Sozialdemokratische Partei des Kantons Zug und Mitb. gegen Kantonsrat und Regierungsrat des Kantons Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_127/2010 / 1C_491/2010 vom 20. Dezember 2010
Regeste
Verfahren für die Wahl des Kantonsrats, Verhältniswahlrecht, Wahlkreiseinteilung, Sitzzuteilung, Anspruch kleiner Gemeinden auf Minimalvertretung;
Art. 34 BV;
§ 24, 38 und 78 KV/ZG.
Wahlverfahren und Proporzverfahren vor dem Hintergrund der Bundesverfassung (E. 4.1).
Proporzverfahren nach dem Recht des Kantons Zug (E. 4.2-4.4).
Das kantonale Wahlverfahren ist mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts unvereinbar (E. 4.5).
Verfassungskonforme Umsetzung des Verhältniswahlrechts durch entsprechende Sitzzuteilung (E. 4.6).
Anerkennung von verfassungsrechtlichem Gewohnheitsrecht; den kleinsten Gemeinden darf ein Mindestanspruch auf zwei Sitze im Kantonsrat zugebilligt werden (E. 5.2).
A. Der Kantonsrat des Kantons Zug beschloss am 27. August 2009 Änderungen des Gesetzes vom 28. September 2006 über die Wahlen und Abstimmungen (Wahl- und Abstimmungsgesetz, WAG; BGS 131.1). Darin eingeschlossen war die Abschaffung der Listenverbindungen. Anlässlich der Volksabstimmung vom 7. März 2010 stimmten rund zwei Drittel der Stimmberechtigten der Gesetzesänderung zu.
B. Im Hinblick auf die Wahl des Kantonsrates vom Herbst 2010 erliess der Kantonsrat am 28. Januar 2010 den Beschluss betreffend Anzahl Kantonsratsmandate für die einzelnen Gemeinden. Der Kantonsratsbeschluss hat folgenden Wortlaut:
§ 1
1Für die im Jahre 2010 vorzunehmende Erneuerungswahl des Kantonsrates wählen die Einwohnergemeinden mit Ausnahme von Neuheim aufgrund der per 31. Dezember 2009 nachgeführten kantonalen Bevölkerungsstatistik auf je 1439.1 und den Bruchteil von 719.55 und mehr Einwohnerinnen und Einwohner ein Mitglied in den Kantonsrat.
2Jede Gemeinde erhält mindestens zwei Vertreterinnen bzw. Vertreter. Die Gemeinde Neuheim, die mit der Mandatszuteilung gemäss Abs. 1 nur ein Kantonsratsmitglied erhalten würde, wählt dementsprechend zwei Mitglieder in den Kantonsrat.
§ 2
Demgemäss wählen die einzelnen Gemeinden folgende Anzahl Mitglieder:
Gemeinde
|
Einwohnerinnen/Einwohner
|
Mitglieder
|
|
Zug
|
26 624
|
19
|
|
Oberägeri
|
5 611
|
4
|
|
Unterägeri
|
8 183
|
6
|
|
Menzingen
|
4 606
|
3
|
|
Baar
|
22 305
|
15
|
|
Cham
|
14 997
|
10
|
|
Hünenberg
|
8 624
|
6
|
|
Steinhausen
|
9 125
|
6
|
|
Risch
|
8 998
|
6
|
|
Walchwil
|
3 608
|
3
|
|
Neuheim
|
2 030
|
2
|
|
§ 3
(...)
BGE 136 I 376 S. 378
C. Am 26. Februar 2010 haben die Sozialdemokratische Partei Kanton Zug, weitere Parteien und Bewegungen sowie im Kanton Zug stimmberechtigte Personen beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Die Beschwerde richtet sich gegen die Änderung des Wahl- und Abstimmungsgesetzes
und gegen den Kantonsratsbeschluss. Die Beschwerdeführer machen Verletzungen der Garantie der politischen Rechte nach
Art. 34 BV geltend, weil das Verhältniswahlrecht durch kleine bzw. unterschiedlich grosse Wahlkreise beeinträchtigt werde, die Gemeinde Neuheim keinen Anspruch auf zwei Sitze habe und kleinere Parteien durch das Verbot von Listenverbindungen zusätzlich benachteiligt würden.
Parallel zu diesem Verfahren fochten die Beschwerdeführer den Beschluss des Kantonsrates vom 28. Januar 2010 ohne Erfolg mit separaten Beschwerden beim Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Zug an. Dagegen haben die Beschwerdeführer beim Bundesgericht am 28. Oktober 2010 eine weitere Beschwerde eingereicht.
D. Das Bundesgericht weist die Beschwerde gegen die Änderung des Wahl- und Abstimmungsgesetzes ab, soweit darauf einzutreten war. Es erachtet den Kantonsratsbeschluss vom 28. Januar 2010 als kantonal letztinstanzlich. Die Beschwerde gegen den Kantonsratsbeschluss wird teilweise gutgeheissen; es wird festgestellt, dass das Proporzwahlverfahren des Kantons Zug für die Wahl des Kantonsrates vor der Bundesverfassung nicht standhält.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
4. Vorerst sind die Grundlagen für die Parlamentswahl nachzuzeichnen, wie sie sich aus der Bundesverfassung und aus dem kantonalen Recht ergeben.
4.1 Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems und des Wahlverfahrens weitgehend frei.
Art. 39 Abs. 1 BV hält fest, dass die Kantone - entsprechend ihrer Organisationsautonomie - die Ausübung der politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten regeln. Diese Zuständigkeit wird ausgeübt im Rahmen der bundesverfassungsrechtlichen Garantie von
Art. 34 BV sowie nach den Mindestanforderungen gemäss
Art. 51 Abs. 1 BV (vgl.
BGE 136 I 352 E. 2 mit Hinweisen).
BGE 136 I 376 S. 379
Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet die politischen Rechte (auf Bundes- sowie Kantons- und Gemeindeebene) in abstrakter Weise und ordnet die wesentlichen Grundzüge der demokratischen Partizipation im Allgemeinen. Der Gewährleistung kommt Grundsatzcharakter zu. Sie weist Bezüge auf zur Rechtsgleichheit sowie zur Rechtsweggarantie. Der konkrete Gehalt der politischen Rechte mit ihren mannigfachen Teilgehalten ergibt sich nicht aus der Bundesverfassung, sondern in erster Linie aus dem spezifischen Organisationsrecht des Bundes bzw. der Kantone (vgl.
BGE 136 I 352 E. 2 mit Hinweisen).
In Bezug auf das Wahlsystem in den Kantonen genügen nach der Rechtsprechung im Grundsatz sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlrecht den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen (
BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87 mit Hinweisen). Soweit sich ein Kanton zum Proporzwahlverfahren bekennt, erlangt die Gewährleistung von
Art. 34 Abs. 2 BV, wonach kein Wahlergebnis anerkannt werden soll, das nicht den freien Willen der Wählenden zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt, besondere Bedeutung. Ein Proporzverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass es den verschiedenen Gruppierungen eine Vertretung ermöglicht, die weitgehend ihrem Wähleranteil entspricht. Soweit in einer Mehrzahl von Wahlkreisen gewählt wird, hängt die Realisierung des Verhältniswahlrechts u.a. von der Grösse der Wahlkreise und damit zusammenhängend vom natürlichen Quorum ab. Unterschiedlich grosse Wahlkreise bewirken zudem, dass im Vergleich unter den Wahlkreisen nicht jeder Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Genügt die Ausgestaltung eines Wahlsystems diesen Anforderungen nicht, so ist es mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben von
Art. 34 Abs. 2 BV nicht vereinbar. Die Aufnahme proporzfremder Elemente und ein Abweichen vom Verhältniswahlrecht bedürfen einer besonderen Rechtfertigung (hinten E. 4.7;
BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87;
BGE 136 I 352 E. 3.4,
BGE 136 I 364 E. 2.2; je mit Hinweisen).
4.2 Die Verfassung des Kantons Zug vom 31. Januar 1894 (KV/ZG; SR 131.218) enthält zur Wahl des Kantonsrates die folgenden Bestimmungen:
§ 24
1Der Kanton Zug besteht aus den elf Einwohnergemeinden Zug, Oberägeri, Unterägeri, Menzingen, Baar, Cham, Hünenberg, Steinhausen, Risch, Walchwil und Neuheim.
BGE 136 I 376 S. 380
§ 38
1Die gesetzgebende und aufsehende Gewalt übt der Kantonsrat aus. Derselbe besteht aus wenigstens 70 und höchstens 80 Mitgliedern. Die Mitglieder des Kantonsrates werden durch die Einwohnergemeinden nach Massgabe der nachgeführten kantonalen Bevölkerungsstatistik (Stand Ende Dezember des vorangegangenen Kalenderjahres) gewählt.
2Durch Kantonsratsbeschluss wird jeweilen festgesetzt, auf welche Bevölkerungszahl oder einen Bruchteil je ein Mitglied in den Kantonsrat zu wählen ist.
§ 78
1An der Urne werden gewählt:
(...)
b. von den kantonalen Behörden: die Mitglieder des Kantonsrates, (...)
2Bei diesen Wahlen muss, sobald in einem Wahlkreis mehr als zwei Mitglieder in die gleiche Behörde zu wählen sind, der Grundsatz des proportionalen Wahlverfahrens (Minderheitsvertretung) zur Anwendung kommen.
(...)
Für den vorliegenden Sachzusammenhang von entscheidender Bedeutung ist auf der einen Seite § 38 Abs. 1 KV/ZG, wonach die Mitglieder des Kantonsrates durch die Einwohnergemeinden gewählt werden. Die Bestimmung besagt klar, dass die in § 24 KV/ZG aufgezählten Einwohnergemeinden die Wahlkreise für die Kantonsratswahl bilden. Die Kantonsverfassung geht demnach selber davon aus, dass einerseits sehr kleine Wahlkreise bestehen und dass andererseits die Wahlkreise erhebliche Grössenunterschiede aufweisen. Der Kantonsrat anerkannte diese Wahlkreiseinteilung regelmässig mit seinen Beschlüssen betreffend Anzahl Kantonsratsmandate für die einzelnen Gemeinden im Hinblick auf die jeweiligen Kantonsratswahlen. Der angefochtene Kantonsratsbeschluss sowie die stete Praxis des Kantonsrates bestätigen diese Auslegung der Kantonsverfassung.
Auf der andern Seite ist die Bestimmung von
§ 78 Abs. 2 KV/ZG von Gewicht, wonach - vorbehältlich kleiner Wahlkreise - der Grundsatz des proportionalen Wahlverfahrens (Minderheitsvertretung) zur Anwendung kommt. Das bedeutet, dass die Kantonsratswahl nach dem Verhältnis- oder Proporzwahlverfahren erfolgt. Dem in Klammern gesetzten Ausdruck "Minderheitsvertretung" kommt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer keine besondere
BGE 136 I 376 S. 381
Bedeutung zu. Er verdeutlichte zur Zeit der Entstehung der Kantonsverfassung, als das Proporzwahlrecht noch weniger bekannt und auf Bundesebene noch längst nicht eingeführt war (vgl. PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2007, § 31 N. 20), das Verfahren der Verhältniswahl.
Aus den genannten Bestimmungen der Kantonsverfassung ergibt sich, dass der Kantonsrat in den teilweise kleinen und in den unterschiedlich grossen Wahlkreisen der Einwohnergemeinden (grundsätzlich) nach dem Verhältniswahlverfahren gewählt wird.
4.3 Diese aus der Kantonsverfassung fliessenden Vorgaben sind vom Gesetzgeber auf der Gesetzesstufe umzusetzen. Diesem obliegt es, das Wahlverfahren im Einzelnen zu ordnen. Dabei hat er im Rahmen der Kantonsverfassung die für eine echte Proporzwahl erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, den ihm eingeräumten Gestaltungsspielraum im Sinne des Proporzgedankens zu nutzen und auf diese Weise den Anforderungen von
Art. 34 BV zu genügen.
Nachfolgend ist darzustellen, wie das Wahl- und Abstimmungsgesetz das Wahlverfahren umschreibt, und hernach das Wahlverfahren auf seine Verfassungsmässigkeit hin zu prüfen.
4.4 Das Wahlverfahren im Einzelnen wird durch das Wahl- und Abstimmungsgesetz geordnet. Dieses umschreibt in den §§ 42 ff. die Grundsätze der Proporzwahlen. Es basiert darauf, dass die Wahl und die Sitzverteilung in den einzelnen Wahlkreisen getrennt voneinander vorgenommen werden. Das Gesetz hält in den §§ 46 und 47 im Wesentlichen die Sitzzuteilung nach dem Verteilsystem Hagenbach-Bischoff fest (vgl. zu diesem Sitzzuteilungssystem
BGE 129 I 185 E. 7.1.1 S. 197; ANINA WEBER, Vom Proporzglück zur Proporzgenauigkeit, AJP 2010 S. 1373/1377). § 46 hat folgenden Wortlaut:
§ 46 Erste Verteilung der Mandate
1Die Zahl der gültigen Parteistimmen aller Listen wird durch die um eins vermehrte Zahl der zu vergebenden Mandate geteilt. Die nächsthöhere ganze Zahl ist die Verteilungszahl.
2Anschliessend werden jeder Liste so viele Mandate zugeteilt, als die Verteilungszahl in ihrer Stimmenzahl enthalten ist.
Aus dem Zusammenspiel der genannten Bestimmungen der Kantonsverfassung und dem Wahl- und Abstimmungsgesetz sowie in Kombination mit dem angefochtenen Kantonsratsbeschluss ergeben
BGE 136 I 376 S. 382
sich die folgenden Sitzverteilungen pro Einwohnergemeinde und die entsprechenden natürlichen Quoren in den einzelnen Wahlkreisen.
Gemeinde
|
Einwohnerinnen/Einwohner
|
Mitglieder
|
natürliches Quorum in %
|
|
|
|
|
|
Zug
|
26 624
|
19
|
5,0
|
|
Oberägeri
|
5 611
|
4
|
20,0
|
|
Unterägeri
|
8 183
|
6
|
14,3
|
|
Menzingen
|
4 606
|
3
|
25,0
|
|
|
|
|
|
Baar
|
22 305
|
15
|
6,3
|
|
Cham
|
14 997
|
10
|
9,1
|
|
Hünenberg
|
8 624
|
6
|
14,3
|
|
Steinhausen
|
9 125
|
6
|
14,3
|
|
|
|
|
|
Risch
|
8 998
|
6
|
14,3
|
|
Walchwil
|
3 608
|
3
|
25,0
|
|
Neuheim
|
2 030
|
2
|
(33,3)
|
|
4.5 Die natürlichen Quoren liegen - abgesehen von den Wahlkreisen Zug, Baar und Cham - durchwegs über 10 %. In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind vorerst natürliche Quoren von 33,33 %, 20 % bzw. 16,66 % als verfassungswidrig qualifiziert worden. In Fortführung dieser Rechtsprechung und um der Rechtssicherheit willen hat das Bundesgericht festgehalten, dass natürliche Quoren (wie auch direkte, gesetzliche Quoren), welche die Limite von 10 % übersteigen, mit einem Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht zu vereinbaren sind. Dieser Wert gilt als Zielgrösse. Er ist allenfalls in Beziehung zu setzen zu überkommenen Gebietsorganisationen, die namentlich dem Schutz von Minderheiten dienen (
BGE 136 I 352 E. 3.5 mit Hinweisen).
Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass in der Gemeinde Zug mit 19 Sitzen eine Liste eines Stimmenanteils von nur 5,0 % bedarf, um einen Sitz zu erhalten. Umgekehrt beträgt der für einen Sitz erforderliche Stimmenanteil in den Gemeinden Menzingen und Walchwil mit je 3 Sitzen 33,3 %. Für die Gemeinde Neuheim besteht eine besondere Ordnung. Der Durchschnitt für alle Gemeinden (ohne Neuheim) liegt bei 14,8 % und überschreitet bereits die genannte kritische Grösse von 10 %. Schon in dieser Hinsicht kann nicht gesagt werden, dass das zugerische Wahlverfahren einem echten Proporzverfahren entspricht.
BGE 136 I 376 S. 383
Auch im Vergleich unter den Wahlkreisen kann nicht gesagt werden, dass die Erfolgswertgleichheit hinreichend gewahrt sei. Die 80 Kantonsratssitze werden auf 11 Wahlkreise verteilt. In den einzelnen Wahlkreisen schwankt die Zahl der zu Wählenden zwischen 2 und 19. Der theoretische Durchschnitt von 7,3 Sitzen pro Wahlkreis wird in Zug mit 19 Sitzen massiv überschritten, in Menzingen und Walchwil mit je 3 Sitzen (und in Neuheim mit 2 Sitzen) bedeutend unterschritten. In der Doktrin wird gefordert, dass die einzelnen Wahlkreise nur wenig bzw. um höchstens ein Drittel vom Mittelwert abweichen sollen (vgl. PIERRE TSCHANNEN, Stimmrecht und politische Verständigung, 1995, S. 499 N. 749; ALFRED KÖLZ, Probleme des kantonalen Wahlrechts, ZBl 88/1987 S. 1, 31). Es ist nicht erforderlich, eine zulässige Abweichung von einem Mittelwert abstrakt festzulegen. Es genügt die Feststellung, dass die unterschiedliche Grösse der Wahlkreise der Wahlfreiheit nicht hinreichend gerecht wird (vgl.
BGE 136 I 352 E. 3.5 mit Hinweisen).
Gesamthaft zeigt sich, dass einerseits die hohen natürlichen Quoren mit einem echten Verhältniswahlrecht nicht vereinbar sind. Andererseits stehen die grossen Differenzen der für einen Sitzgewinn erforderlichen Stimmenanteile mit der Erfolgswertgleichheit im Widerspruch. Damit genügt das Wahlverfahren der sich aus
Art. 34 Abs. 2 BV ergebenden Wahlfreiheit nicht, wonach kein Wahlergebnis anerkannt werden soll, das nicht den freien Willen der Wählenden zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Die sich aus der verfassungsrechtlichen Garantie der politischen Rechte ergebenden Vorgaben werden deutlich verfehlt. Auch gewichtige politische Minderheiten sind vom Kantonsrat ausgeschlossen und eine grosse Anzahl von Wählerstimmen bleibt unbeachtlich. Darin liegt ein schwerwiegender Mangel, der mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts unvereinbar ist (
BGE 136 I 352 E. 3.5 mit Hinweisen).
4.6 Das mit dem Wahl- und Abstimmungsgesetz umgesetzte Wahlverfahren stellt somit kein hinreichendes Proporzverfahren dar und hält in dieser Form vor der Bundesverfassung nicht stand. Es fragt sich somit, ob der Gesetzgeber auf der Grundlage der Kantonsverfassung seinen ihm zustehenden Gestaltungsraum anders hätte nutzen und das Wahlverfahren im Sinne einer Optimierung des Proporzprinzips hätte ausgestalten können.
Dem Gesetzgeber stehen grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, das Bekenntnis zum Proporz
BGE 136 I 376 S. 384
bundesverfassungskonform umzusetzen. Zum einen können auf Gesetzesstufe Wahlkreisverbände geschaffen werden, welche im Sinne des Verhältniswahlrechts einen Ausgleich unter den unterschiedlich grossen Wahlkreisen bewirken (vgl.
BGE 131 I 74; Urteil P.918/1986 vom 9. Dezember 1986, in: ZBl 88/1987 S. 367). Es ist Sache des Gesetzgebers, im Einzelnen zu prüfen, ob die Kantonsverfassung die Einführung von Wahlkreisverbänden auf Gesetzesstufe erlaubt und wie eine Ordnung mit Wahlkreisverbänden auszugestalten wäre. Zum andern lässt sich der Grundsatz des Proporz durch den Einbezug des ganzen Kantons anstelle der isolierten Betrachtung der einzelnen Wahlkreise optimieren. Mit einer zentralen Verteilung der Parteimandate nach der doppeltproportionalen Methode Doppelter Pukelsheim lässt sich ein wahlkreisübergreifender Ausgleich realisieren (vgl. zu dieser Methode
BGE 136 I 364 mit Hinweisen; vgl. ferner PUKELSHEIM/SCHUHMACHER, Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, AJP 2004 S. 505; WEBER, a.a.O., S. 1379; CHRISTIAN SCHUHMACHER, Sitzverteilung bei Parlamentswahlen nach dem neuen Zürcher Zuteilungsverfahren, 2005). Dieses Zuteilungsverfahren bezweckt unter anderem, unter Beibehaltung der traditionellen, unterschiedlich grossen Wahlkreise eine parteiproportionale Sitzzuteilung zu realisieren und damit sowohl die Verhältnismässigkeit zwischen den Parteien als auch die Verhältnismässigkeit zwischen den Wahlkreisen zu wahren. Die Parteien mit ihren Listen wie auch die Wahlkreise werden auf diese Weise proportional vertreten. Daran ändert nichts, dass das System auch gewisse Nachteile aufweist (PUKELSHEIM/SCHUHMACHER, a.a.O., S. 519;WEBER, a.a.O., S. 1379; SCHUHMACHER, a.a.O., S.19). Es sind keine Anzeichen ersichtlich, dass die Kantonsverfassung einer solchen Sitzzuteilungsmethode entgegenstehen würde. Anzufügen ist schliesslich, dass eine Stärkung des Proporzgedankens auch durch eine Wahlkreisreform auf Verfassungsstufe erreicht werden könnte, sei es durch die Festlegung neuer Wahlkreise, sei es durch die Schaffung eines Einheitswahlkreises.
4.7 Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung im Grundsatz anerkannt, dass Gründe überkommener Gebietsorganisation proporzfremde Elemente und somit ein Abweichen vom Verhältniswahlrecht rechtfertigen können. Es kann sich dabei um historische, föderalistische, kulturelle, sprachliche, ethnische oder religiöse Gründe handeln, welche kleine Wahlkreise als eigene Identitäten und als "Sonderfall" erscheinen lassen und ihnen - auf Kosten des
BGE 136 I 376 S. 385
Proporzes - im Sinne eines Minderheitenschutzes einen Vertretungsanspruch einräumen. Die Rechtsprechung hat allerdings betont, dass es hierfür ausreichender sachlicher Gründe bedürfe (
BGE 129 I 185 E. 3.1 S. 190;
BGE 131 I 74 E. 3.2 S. 79;
BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87 mit Hinweisen). Je grösser die Abweichungen vom Proporzverfahren und von der Erfolgswertgleichheit sind, desto gewichtiger müssen sich die rechtfertigenden Gründe erweisen. In einzelnen Urteilen hat das Bundesgericht derartige Gründe anerkannt (
BGE 131 I 85 E. 2.5 S. 89), in andern verneint (
BGE 136 I 352 E. 4;
BGE 129 I 185 E. 7.6.3 S. 203).
Entgegen der Auffassung der Parteien ist die Frage, ob Gründe überkommener Gebietsorganisation proporzfremde Elemente begründen und ein Abweichen vom Verhältniswahlrecht rechtfertigen können, im vorliegenden Fall nicht zu prüfen. Mit den aufgezeigten Möglichkeiten von Wahlkreisverbänden und mit der Methode Doppelter Pukelsheim bleibt der aus der Kantonsverfassung fliessende Grundsatz gewahrt, wonach die Einwohnergemeinden die Wahlkreise bilden. Den kleinen Einwohnergemeinden kommt im Sinne eines Minderheitenschutzes weiterhin eine entsprechende Vertretung zu. Sie können unter diesem System aufrechterhalten werden (vgl. WEBER, a.a.O., S. 1380). Es braucht nicht geprüft zu werden, ob und in welchem Ausmass die Minderheitenvertretung kleiner Einwohnergemeinden allenfalls noch verstärkt werden könnte (vgl. auch E. 5.2).
4.8 Aus diesen Erwägungen ergibt sich einerseits, dass das im Kanton Zug praktizierte Wahlsystem den Anforderungen an ein Proporzverfahren nicht genügt. Sie zeigen andererseits, dass tatsächlich Möglichkeiten und Methoden bestehen, um den von der Kantonsverfassung vorgeschriebenen Proporzgrundsatz in einer den Anforderungen der Bundesverfassung genügenden Weise umzusetzen. Der Gesetzgeber hat es unterlassen, entsprechende Massnahmen zu einer Optimierung des Verhältniswahlrechts zu treffen.
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Beschwerde in Bezug auf den Beschluss des Kantonsrates betreffend Anzahl Kantonsratsmandate für die einzelnen Gemeinden und die dadurch determinierte Wahl des Kantonsrates als begründet. Sie ist in diesem Punkte gutzuheissen, und es ist festzustellen, dass das Proporzwahlverfahren des Kantons Zug für die Wahl des Kantonsrates vor der Bundesverfassung nicht standhält.
BGE 136 I 376 S. 386
5. Die Beschwerdeführer erheben gegen das Zuger Wahlsystem zwei weitere Rügen. Sie machen zum einen geltend, dass ein gemischtes System mit einem Nebeneinander von Proporz und Majorz mit der bundesverfassungsrechtlichen Garantie der politischen Rechte nicht vereinbar sei (E. 5.2). Zum andern, dass die Zuweisung von zwei Sitzen an die Einwohnergemeinde Neuheim unrechtmässig sei (E. 5.2).
5.1 § 78 Abs. 2 KV/ZG sieht vor, dass der Kantonsrat in Wahlkreisen mit mehr als zwei Mandaten nach dem Verhältnisverfahren gewählt wird (oben E. 4.2). Es kann demnach angenommen werden, dass in den ganz kleinen Wahlkreisen mit zwei Sitzen oder einem Sitz das Mehrheitsverfahren zur Anwendung kommt. Konkret ergibt sich daraus, dass in zehn von den elf Einwohnergemeinden nach Proporz und lediglich in einer einzigen Gemeinde (Einwohnergemeinde Neuheim) nach Majorz gewählt wird.
Aufgrund der vorstehenden Erwägung hat der Zuger Gesetzgeber das Wahlsystem für die Wahl des Kantonsrates im Rahmen der Kantonsverfassung neu zu gestalten. Für die von den Beschwerdeführern aufgeworfene Frage kann daher nicht mehr auf die bisherigen Verhältnisse abgestellt werden. Insbesondere sind die natürlichen Quoren, die sich aus dem bisherigen System ergeben (oben E. 4.4), nicht mehr in gleicher Weise massgebend und können für einen Vergleich zwischen der Gemeinde Neuheim und den übrigen Gemeinden nicht (mehr) herangezogen werden. Ebenso kommt dem Umstand unterschiedlicher Mandatszahlen nicht mehr die gleiche Bedeutung zu. Bei dieser Sachlage entbehrt ein Vergleich zwischen dem Majorzverfahren in der Gemeinde Neuheim und dem Proporzverfahren in den übrigen Gemeinden einer zuverlässigen Grundlage und wäre hypothetischer Natur. Es kann offenbleiben, ob der Gegensatz zwischen einem Dreierwahlkreis mit Proporz und einem Zweierwahlkreis mit Majorz einer verfassungsgerichtlichen Korrektur bedürfte.
In diesem Punkte ist auf die Beschwerde nicht näher einzugehen.
5.2 Nach § 1 Abs. 2 des angefochtenen Kantonsratsbeschlusses erhält jede Gemeinde mindestens zwei Vertreter oder Vertreterinnen. Die Gemeinde Neuheim erhält ebenfalls zwei Kantonsratsmitglieder, obwohl ihr nach der mathematischen Formel in § 1 Abs. 1 des Kantonsratsbeschlusses lediglich ein Mandat zufallen würde. Die Beschwerdeführer bestreiten, dass dem Kantonsrat in Bezug auf
BGE 136 I 376 S. 387
die kleine Einwohnergemeinde Neuheim ein Gestaltungsspielraum zukomme, und rügen die Mandatszuteilung als rechtswidrig. Demgegenüber vertritt der Kanton Zug die Auffassung, es handle sich bei der Mindestzuteilung von zwei Sitzen an kleine und kleinste Gemeinden um unumstrittenes Gewohnheitsrecht, das seit 1942 vom Kantonsrat stets beachtet worden ist.
Das Bundesgericht schliesst die Entstehung und Beachtung von Gewohnheitsrecht im öffentlichen Recht nicht aus. Es hat ausgeführt, dass es nicht gegen Verfassungsrecht verstosse, einen durch lang andauernde Übung entstandenen Rechtssatz anzuerkennen, wenn er nicht in Freiheitsrechte des Bürgers eingreift; das Schweigen des Gesetzes könne nicht ohne Weiteres als negative Entscheidung ausgelegt werden; das hänge davon ab, ob eine Notwendigkeit für eine Ergänzung bestehe oder aber die Vollständigkeit des geschriebenen Rechtssatzes als negative Vorschrift auszulegen ist (
BGE 94 I 305 E. 2 und 3 S. 308). An die Entstehung von Gewohnheitsrecht werde allgemein ein strenger Massstab gesetzt; über eine lange, ununterbrochene Übung hinaus sei erforderlich, dass die der Übung zugrunde liegende Rechtsauffassung von den Behörden und Betroffenen geteilt werde (opinio iuris et necessitatis;
BGE 105 Ia 80 E. 5b S. 84;
BGE 103 Ia 369 E. 4c S. 379). Dem Element einer lang andauernden Übung, welche in einem gewissen Sinne eine formellgesetzliche Regelung ersetzt, könne je nach Sachzusammenhang Rechnung getragen werden (
BGE 125 I 173 E. 9e S. 181). In der Doktrin wird das Entstehen von Gewohnheitsrecht nicht ausgeschlossen, indessen im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung an strenge Voraussetzungen gebunden (vgl. HÄFELIN/HALLER/KELLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008, N. 12 ff. S. 5; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, N. 196 ff. S. 42; TSCHANNEN, Staatsrecht, § 1 N. 53 ff.). Über die langjährige Übung und die Überzeugung von Behörden und Betroffenen wird insbesondere verlangt, dass das geschriebene Recht Raum für eine ergänzende Regelung durch Gewohnheitsrecht lässt (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O.; TSCHANNEN, a.a.O.).
Vor diesem Hintergrund darf beachtet werden, dass der Kantonsrat den kleinsten Einwohnergemeinden seit 1942 ununterbrochen einen Anspruch auf zwei Sitze einräumte. Diese Praxis bezweckt ganz offensichtlich, den kleinsten Einwohnergemeinden einen Minderheitenanspruch einzuräumen und sie gegenüber den grossen Einwohnergemeinden, die über ein Vielfaches an Einwohnern und
BGE 136 I 376 S. 388
Mandaten verfügen, zu stärken. Sie kann sich zwar nicht direkt auf die Kantonsverfassung stützen, steht mit dieser indes auch nicht im Widerspruch. Mit der Bezeichnung der Einwohnergemeinden als Wahlkreis gemäss
§ 38 Abs. 1 KV/ZG wird zum Ausdruck gebracht, dass diesen ein Vertretungsanspruch zusteht.
Selbst den kleinsten Gemeinden steht zumindest ein Sitz zu, auch wenn die Rechnung nach Massgabe der Bevölkerungsstatistik zu keinem einzigen Sitz führen würde. Die Regelung von § 38 KV/ZG kann somit nicht als absolut abgeschlossen betrachtet werden. Es kann nicht gesagt werden, dass § 38 KV/ZG keinen Raum für eine ergänzende Regelung belassen würde. So sehr den kleinsten Einwohnergemeinden ein einziger Sitz garantiert wird, kann ihnen überdies auch ein zweiter Sitz eingeräumt werden. Diese Übung wurde, soweit ersichtlich, bisher nie in Frage gestellt und gibt offensichtlich die Rechtsüberzeugung aller Betroffenen zum Ausdruck.
Bei dieser Sachlage darf in Übereinstimmung mit der Auffassung der obersten Behörden angenommen werden, dass der Mindestanspruch von kleinen und kleinsten Gemeinden auf zwei Sitze im Kantonsrat auf verfassungsrechtlichem Gewohnheitsrecht beruht. Die Zuteilung von zwei Sitzen an die Einwohnergemeinde Neuheim kann daher nicht als rechtswidrig bezeichnet werden. Demnach erweist sich die Beschwerde in diesem Punkte als unbegründet.