16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde Amriswil gegen X. und Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
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1D_2/2012 vom 13. Mai 2013
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Regeste
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Art. 8 Abs. 2 und Art. 50 Abs. 1 BV, Art. 14, 33 und 34 BüG; Gemeindeautonomie bei der ordentlichen Einbürgerung einer geistig Behinderten.
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Diskriminierung bei der Einbürgerung aufgrund einer geistigen Behinderung: Geistig Behinderte mangels eigenen Willens zur Einbürgerung von derselben auszuschliessen, entspricht nicht der gesetzlichen Ordnung und erweist sich aufgrund der damit verbundenen generellen Wirkung als diskriminierend. Zu prüfen ist, ob es dafür eine qualifizierte Rechtfertigung gibt (E. 7).
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Ist die Sache im Falle, dass die Nichteinbürgerung als unzulässig erkannt wird, an die Gemeinde oder an die kantonale Rechtsmittelinstanz zu neuem Entscheid über die Einbürgerung zurückzuweisen (E. 8)?
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Sachverhalt
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BGE 139 I 169 (170):
A. Im Juli 2009 stellten die Eltern der geistig behinderten serbischen Staatsangehörigen X., geb. 2. März 1993, für diese ein Gesuch um ordentliche Erteilung des Schweizer Bürgerrechts. Am 7. Januar 2010 ergab sich bei einem Gespräch auf der Wohnsitzgemeinde Amriswil, dass X. zwar die deutsche und albanische Sprache versteht, sich aber nur mit Hilfe eines speziellen Computers oder in Gebärdensprache ausdrücken kann und ein sehr tiefes Bildungsniveau aufweist. Der Stadtrat Amriswil beschloss am 23. Februar 2010, das Einbürgerungsgesuch nicht zu unterstützen. Im Wesentlichen wurde dies damit begründet, X. habe keinen eigenen Willen zur Erlangung des Schweizer Bürgerrechts, es dürfe bei behinderten Personen keinen Einbürgerungsautomatismus geben und es seien keine klaren Vorteile ersichtlich, die bei einer allfälligen Einbürgerung das Leben von X. erleichtern würden. Nachdem die BGE 139 I 169 (171):
gesetzliche Vertreterin am Einbürgerungsgesuch festgehalten hatte, wurde dieses dem Bundesamt für Migration weitergeleitet, das am 3. Mai 2011 die eidgenössische Einbürgerungsbewilligung erteilte. Am 8. Dezember 2011 entschied die Gemeindeversammlung der Stadt Amriswil, das Gesuch gemäss der Empfehlung des Stadtrates abzulehnen.
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B. X., vertreten durch ihre Schwester und Vormundin, Y., erhob beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau Rekurs. Am 30. März 2012 hiess das Departement den Rekurs gut, hob den Entscheid der Gemeindeversammlung der Stadt Amriswil auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Gemeindeversammlung zurück. Zur Begründung führte das Departement im Wesentlichen aus, bei Gesuchstellern mit Behinderung sei jeder Einbürgerungsfall besonders zu prüfen. Eine automatische Befreiung von den Einbürgerungskriterien sei ausgeschlossen. Zwar verfüge die Gesuchstellerin selbst aufgrund der geistigen Behinderung wohl über keinen eigenen Willen. Das genüge aber als Begründung der Nichterteilung des Bürgerrechts nicht, denn es müsse davon ausgegangen werden, dass sich die Gesuchstellerin wie ihre Geschwister hätte einbürgern lassen wollen. Sodann müssten mit der Einbürgerung keine materiellen Vorteile verbunden sein, könnten doch bereits solche ideeller Natur eine Einbürgerung rechtfertigen. Insgesamt sei die Gesuchstellerin einzubürgern. Die reformatorische Erteilung des Gemeindebürgerrechts sei jedoch ausgeschlossen, da die Politische Gemeinde Trägerin desselben sei, weshalb die Sache an dieselbe zurückgewiesen werden müsse.
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C. Mit Urteil vom 5. September 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau eine dagegen gerichtete Beschwerde der Politischen Gemeinde Amriswil ab. In den Erwägungen wird dazu ausgeführt, grundsätzlich bestehe kein Anspruch auf Einbürgerung, der entsprechende Entscheid der Gemeindebehörde dürfe aber nicht diskriminierend sein. Die Argumentation der Gemeindebehörden führe dazu, dass geistig behinderte Menschen ab einem bestimmten intellektuellen Defizit nie eingebürgert werden könnten, was diskriminierend sei. Es sei daher richtig, auf den mutmasslichen Willen abzustellen. Aus den konkreten Umständen sei abzuleiten, dass der Gesuchstellerin, die offensichtlich mit den schweizerischen Verhältnissen vertraut sei, ein solcher mutmasslicher Wille nicht abgesprochen werden könne.
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BGE 139 I 169 (172):
D. Mit Beschwerde vom 26. November 2012 an das Bundesgericht beantragt die Politische Gemeinde Amriswil, den Entscheid des Thurgauer Verwaltungsgerichts aufzuheben und denjenigen der Amriswiler Gemeindeversammlung vom 8. Dezember 2011 zu bestätigen; eventuell sei das Departement anzuweisen, die Einbürgerung von X. ohne Rückweisung an die Gemeindeversammlung vorzunehmen. In der Begründung (...) wird ausgeführt, die Gemeinde Amriswil habe schon verschiedentlich Behinderte eingebürgert, weshalb der Vorwurf der Diskriminierung von Behinderten zurückgewiesen werde. Im zu beurteilenden Fall sei es unzulässig, bei der Gesuchstellerin auf einen mutmasslichen Einbürgerungswillen zu schliessen. Ihre Hauptbezugspersonen seien weiterhin die Eltern, die sich nie vollständig integriert und auch nie Anstrengungen unternommen hätten, die Schweizer Staatsangehörigkeit zu erlangen. Die Begründung des Verwaltungsgerichts führe zu einem Einbürgerungsautomatismus geistig behinderter Personen. Das ursprünglich von den Eltern eingereichte Gesuch sei lediglich damit begründet worden, dass eine "langfristige Sicherheit" für die behinderte Tochter angestrebt werde, was aber nicht für die Erteilung des Schweizer Bürgerrechts genüge.
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E. X. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Das Departement für Justiz und Sicherheit und das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerde. (...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen:
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Erwägung 6
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Erwägung 7
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7.2.1 Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder als minderwertig angesehen wird. Die Diskriminierung stellt eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmalen anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der Menschenwürde nach Art. 7 BV. Eine indirekte oder mittelbare Diskriminierung liegt demgegenüber vor, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützten Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre (BGE 138 I 305 E. 3.3 S. 316 f.; BGE 135 I 49 E. 4.1 S. 53 f. mit Hinweisen).
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7.2.4 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV bilden Personen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung eine spezifische Gruppe. Es zählen dazu Personen, die in ihren körperlichen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt sind und für welche die Beeinträchtigung je nach ihrer Form schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat. Mit Blick auf die Einbürgerung von Behinderten ist mithin entscheidend, ob ihnen insgesamt oder einer bestimmten abgrenzbaren Untergruppe von ihnen durch eine anwendbare Regelung oder durch die Umsetzung derselben in der Praxis rechtlich oder faktisch dauernd verunmöglicht wird, sich einbürgern zu lassen. Trifft dies zu, ist zu prüfen, ob die Nichteinbürgerung ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse verfolgt, als geeignet und erforderlich betrachtet werden kann und sich gesamthaft als verhältnismässig erweist (vgl. BGE 135 I 49 E. 6.1 S. 58 f.). Für diese Prüfung der allfälligen Rechtfertigung einer nachteiligen Massnahme ist entscheidend auf die gesamten massgeblichen Umstände des Einzelfalles und die entsprechenden konkreten Schutzbedürfnisse abzustellen (vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 757 f.). Bei der Umsetzung der gesetzlichen Einbürgerungskriterien sind dabei die konkreten Fähigkeiten der behinderten Personen zu berücksichtigen bzw. die Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen ist in einer an den spezifischen Möglichkeiten ausgerichteten und diese angemessen würdigenden Art und Weise zu prüfen.
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7.3.1 Es ist erstellt und nicht strittig, dass die Beschwerdegegnerin in geistiger Hinsicht ein Niveau aufweist, das dem Stand eines Kleinkindes entspricht. Es ist daher davon auszugehen, dass sie die Tragweite einer Einbürgerung tatsächlich nicht bzw. jedenfalls nicht vollumfänglich erfasst. Wird gestützt darauf die Einbürgerung verweigert, wird indessen eine ganze Untergruppe von Behinderten, nämlich diejenige, die sich aus solchen Menschen zusammensetzt, denen es an der Urteilsfähigkeit hinsichtlich einer Einbürgerung fehlt, von der Erteilung des Bürgerrechts ausgeschlossen. Auch wenn sich die Praxis der Beschwerdeführerin an einem grundsätzlich objektiven Kriterium ausrichtet und nicht auf eine Benachteiligung abzielt, hat sie doch zumindest indirekt diesen diskriminierenden Effekt. Das wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass das Gesetz die Einbürgerung mangels Urteilsfähigkeit nicht nur nicht ausschliesst, sondern sogar ausdrücklich vorsieht. In diesem Sinne bestimmen die Art. 33 und 34 BüG, dass Unmündige durch ihren gesetzlichen Vertreter ein Gesuch um Einbürgerung zu stellen vermögen. In Konkretisierung des Bundesrechts regeln die §§ 8 und 9 KBüG die Einbürgerung unmündiger Kinder im Kanton Thurgau. Gemäss § 8 KBüG können ebenfalls entmündigte Personen über ihren gesetzlichen Vertreter um selbständige Einbürgerung ersuchen. § 8 Abs. 2 KBüG schreibt vor, dass Urteilsfähige das Gesuch mitzuunterzeichnen haben. Urteilsunfähige sind davon e contrario dispensiert, nicht aber von der Einbürgerung als solcher ausgeschlossen. Die Gesetzesordnung von Bund und Kanton stellt die Einbürgerung demnach nicht unter den Vorbehalt der entsprechenden Urteilsfähigkeit beim Einzubürgernden selbst. Diese gesetzliche Ordnung dient nicht zuletzt der Chancengleichheit von wegen geistiger Behinderung Urteilsunfähigen bei der Einbürgerung und ist in den Zusammenhang mit dem in Art. 8 Abs. 4 BV enthaltenen Gesetzgebungsauftrag zur Beseitigung von Benachteiligungen wegen Behinderung zu stellen (vgl. BERNHARD WALDMANN, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, 2003, S. 428 ff.). Der im Einzelfall gefällte Entscheid, die Beschwerdegegnerin als geistig Behinderte mangels eigenen Willens BGE 139 I 169 (177):
zur Einbürgerung von derselben auszuschliessen, entspricht mithin nicht der gesetzlichen Ordnung und erweist sich aufgrund seiner generellen Wirkung, die zumindest alle dem Kleinkindalter entwachsenen Personen trifft, denen die Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Einbürgerung abgeht, als diskriminierend.
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7.3.3 Die Vorinstanz stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin seit ihrem fünften Altersjahr in der Schweiz lebt und unter der Woche in einer geeigneten Institution untergebracht ist. Sie ist mit den schweizerischen Verhältnissen vertraut, versteht offenbar, soweit dies ihrem geistigen Niveau entspricht, Schweizer- und Hochdeutsch und kann sich unter Benutzung eines speziellen Computers auch in diesen Sprachen äussern. Diese Feststellungen sind unstrittig und für das Bundesgericht verbindlich (nicht publ. E. 5). Zwar haben die Eltern offenbar nie für sich selbst ein Einbürgerungsgesuch eingereicht. Dasjenige für die Beschwerdegegnerin wurde aber ursprünglich, als diese noch minderjährig war, von ihnen gestellt. Die Schwester und der Bruder der Beschwerdegegnerin sind bereits eingebürgert. Die Schwester, die bei Volljährigkeit der Beschwerdegegnerin als ihre Vormundin (heute: umfassende Beiständin) bestellt wurde, übernahm auch ihre Vertretung im Einbürgerungsverfahren und äusserte sich deutlich dazu, das Einbürgerungsgesuch zu befürworten. Dieser Willensäusserung kommt mit Blick auf Art. 34 Abs. 1 BüG sowie § 8 KBüG entscheidende Bedeutung zu. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, die Beschwerdegegnerin unterhalte weiterhin zu ihren Eltern, wo sie sich insbesondere regelmässig am Wochenende aufhalte, die engere Beziehung als zur Schwester und der Umstand, dass sich die Eltern nicht hätten einbürgern lassen, spreche gegen den mutmasslichen Einbürgerungswillen bei der Beschwerdegegnerin. Dem ist entgegenzuhalten, dass es gerade die Eltern waren, die ursprünglich das BGE 139 I 169 (178):
Einbürgerungsgesuch für die Beschwerdegegnerin eingereicht und dabei vermutlich deren Situation von der eigenen sehr wohl unterschieden hatten. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass urteilsfähige Personen in einer ähnlichen Lebenssituation mit vergleichbarem Lebenshintergrund selbst ebenfalls ein Einbürgerungsgesuch gestellt hätten.
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BGE 139 I 169 (179): Erwägung 8
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