147 I 420
Urteilskopf
147 I 420
32. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Junge SVP Kanton Zürich, Jungfreisinnige Kanton Zürich und Lothe gegen Kantonsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_659/2020 vom 11. März 2021
Regeste
Art. 37 Abs. 1 KV/ZH; Art. 34 Abs. 1 BV; Voraussetzungen für die Dringlicherklärung eines kantonalen Gesetzes (Urnenabstimmungsgesetz/ZH).
Mit der Dringlicherklärung werden die Referendumsrechte der Stimmberechtigten eingeschränkt; die Dringlichkeitsklausel ist restriktiv auszulegen (E. 2.3). Darstellung der Gesundheitssituation in Bezug auf die Covid-19-Pandemie im Zeitpunkt der Verabschiedung des Urnenabstimmungsgesetzes (E. 2.4).
Angesichts der volatilen rechtlichen und gesundheitlichen Lage im Herbst 2020 bestand ein erhebliches Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung des Gesetzes, namentlich um die Beschluss- und Funktionsfähigkeit der zürcherischen Gemeinden sicherzustellen; die zeitliche Dringlichkeit ist gegeben (E. 2.5).
Das Urnenabstimmungsgesetz betrifft angesichts der erheblich gefährdeten Gesundheit der Stimmberechtigten bei der Durchführung von Gemeindeversammlungen eine wichtige Angelegenheit; es liegen zwingende ausserordentliche Gründe vor, die eine Dringlicherklärung rechtfertigen (E. 2.6.2). Die Gemeinden haben bei der Wahl des geeigneten Instruments der Beschlussfassung (Gemeindeversammlung oder Urne) das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten (E. 2.7).
A.
Der Kantonsrat des Kantons Zürich erliess am 23. November 2020 folgendes "Gesetz über Urnenabstimmungen in Versammlungsgemeinden während der Corona-Pandemie" (LS 818.12; nachfolgend: Urnenabstimmungsgesetz):
§ 1. 1 Die Gemeindevorstände von Versammlungsgemeinden sind befugt, in Abweichung von §§ 10 Abs. 2 lit. a und b, 101 Abs. 2 und 128 Abs. 2 des Gemeindegesetzes vom 20. April 2015 (GG) zur Festsetzung des Budgets und des Steuerfusses sowie zur Genehmigung der Jahresrechnung eine Urnenabstimmung anzuordnen.
2 Die Stimmberechtigten beschliessen über Budget und Steuerfuss in einer Vorlage.
3 Beantragt der Gemeindevorstand einen gegenüber dem Vorjahr geänderten Steuerfuss, unterbreitet er den Stimmberechtigten in der Urnenabstimmung als Varianten
a) ein Budget mit dem geänderten Steuerfuss und
§ 2. 1 Sofern es erhebliche öffentliche Interessen rechtfertigen und zeitliche Dringlichkeit besteht, können die Gemeindevorstände zudem eine Urnenabstimmung anordnen
a) für weitere Geschäfte, die gestützt auf §§ 10 Abs. 2 lit. e und 15 Abs. 1 GG gemäss kantonalem Recht oder gemäss Gemeindeordnung in die Zuständigkeit der Gemeindeversammlung fallen,
b) in Abweichung von § 16 GG für Vorlagen, die gemäss Gemeindeordnung in einer vorberatenden Gemeindeversammlung zu behandeln sind, ohne diese vorberatende Gemeindeversammlung durchzuführen.
2 Unzulässig sind Urnenabstimmungen gemäss Abs. 1 lit. a für Erlass und Änderung der Bau- und Zonenordnung sowie von Gestaltungsplänen.
§ 3. Dieses Gesetz gilt bis zum 31. März 2021.
Der Kantonsrat hat dieses Gesetz gemäss Art. 37 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Zürichs (KV/ZH; SR 131.211) als dringlich erklärt. Es wurde am 27. November 2020 im Amtsblatt des Kantons Zürich veröffentlicht und trat am 30. November 2020 in Kraft.
B.
Am 30. November 2020 erhoben die Junge SVP Kanton Zürich, die Jungfreisinnigen Kanton Zürich und Camille Lothe gegen das Urnenabstimmungsgesetz Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie beantragen, die Dringlichkeitsklausel des angefochtenen Gesetzes sei aufzuheben. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
1.1
Gemäss Art. 82 lit. b und c BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen kantonale Erlasse und Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen sowie betreffend Volkswahlen und -abstimmungen. Mit der Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte nach Art. 82 lit. c BGG kann im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle geltend gemacht werden, ein Erlass verletze in der Umschreibung der politischen Rechte höherstufig garantierte Rechte (
BGE 143 I 426
E. 1.1 mit Hinweisen). In diesem Fall übernimmt die Beschwerde nach Art. 82 lit. c BGG die Funktion von Art. 82 lit. b BGG. Die Legitimation und der Instanzenzug richten sich indes nach den spezifischen Regeln der Beschwerde in Stimmrechtssachen (
BGE 143 I 426
E. 1.1 mit Hinweisen).
BGE 147 I 420 S. 423
Die Beschwerdeführerinnen richten ihre Beschwerde gegen die Dringlichkeitsklausel und rügen, die daraus resultierende Einschränkung ihrer politischen Rechte verstosse gegen Art. 34 Abs. 1 BV. Sie stützen ihre Beschwerde sowohl auf Art. 82 lit. b BGG als auch auf Art. 82 lit. c BGG. Nach dem oben Gesagten und unter Berücksichtigung, dass die Dringlichkeitsklausel Teil eines Erlasses bildet (PIERRE TSCHANNEN, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 7 zu Art. 165 BV), ist die Beschwerde jedoch als Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte nach Art. 82 lit. c BGG entgegenzunehmen (vgl.
BGE 130 I 226
E. 1.3;
BGE 103 Ia 152
E. 2a).
1.2
Ein kantonales Rechtsmittel gegen Gesetze steht im Kanton Zürich nicht zur Verfügung (vgl. Art. 79 Abs. 2 KV/ZH und § 19 Abs. 2 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Zürich vom 24. Mai 1959 [VRG/ZH; LS 175.2] und § 42 lit. b Ziff. 3 VRG/ZH e contrario), sodass direkt beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden kann (Art. 87 Abs. 1 BGG).
1.3
In Stimmrechtssachen steht das Beschwerderecht jeder Person zu, die in der betreffenden Angelegenheit stimmberechtigt ist (Art. 89 Abs. 3 BGG). Mangels Stimmberechtigung sind juristische Personen grundsätzlich nicht zur Stimmrechtsbeschwerde legitimiert. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung steht das Beschwerderecht jedoch den politischen Parteien mit juristischer Persönlichkeit zu, die im Gebiet des betreffenden Gemeinwesens tätig sind (
BGE 134 I 172
E. 1.3.1; Urteil 1C_39/2019 vom 22. Mai 2020 E. 1.2.3; je mit Hinweisen).
Die Beschwerdeführerinnen 1 und 2 sind im Kanton Zürich aktive politische Parteien mit juristischer Persönlichkeit. Sie sind somit zur Beschwerde befugt. Die Beschwerdeführerin 3 ist im Kanton Zürich stimmberechtigt und ebenfalls zur Beschwerde legitimiert.
1.4
Da auch die 30-tägige Beschwerdefrist eingehalten wurde (Art. 101 BGG), ist auf die Beschwerde einzutreten.
2.
Die Beschwerdeführerinnen fechten die Dringlicherklärung des Urnenabstimmungsgesetzes an. Sie rügen eine Verletzung von Art. 37 Abs. 1 KV/ZH und indirekt von Art. 34 Abs. 1 BV. Sie machen geltend, die Voraussetzungen für die Dringlicherklärung des Urnenabstimmungsgesetzes seien nicht erfüllt. Es handle sich beim dringlich erklärten Gesetz nicht um eine gewichtige Angelegenheit und die
BGE 147 I 420 S. 424
Dringlichkeit sei zudem weder in zeitlicher noch in sachlicher Hinsicht gegeben. Da die Voraussetzungen von Art. 37 Abs. 1 KV/ZH nicht vorlägen, werde durch die Dringlicherklärung des Gesetzes in rechtswidriger Weise in die politischen Rechte der Stimmberechtigten eingegriffen und damit gegen Art. 34 Abs. 1 BV verstossen.
2.1
Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet die politischen Rechte (auf Bundes- sowie Kantons- und Gemeindeebene) in abstrakter Weise und ordnet die wesentlichen Grundzüge der demokratischen Partizipation im Allgemeinen. Der Gewährleistung kommt Grundsatzcharakter zu. Der konkrete Gehalt der politischen Rechte mit ihren mannigfachen Teilgehalten ergibt sich nicht aus der Bundesverfassung, sondern in erster Linie aus dem spezifischen Organisationsrecht des Bundes bzw. der Kantone (
BGE 147 I 206
E. 2.2;
BGE 145 I 259
E. 4.3 mit Hinweis). Die Verletzung der betreffenden Bestimmungen bedeutet auch eine solche von Art. 34 Abs. 1 BV (
BGE 147 I 206
E. 2.2 mit Hinweis). Zu den politischen Rechten gehört auch die Anrufung der Dringlichkeitsklausel, da diese das demokratische Mitspracherecht der Stimmberechtigten einschränkt.
Steht die Verfassungsmässigkeit oder allgemein die Vereinbarkeit eines kantonalen Erlasses mit übergeordnetem Recht in Frage, so ist im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle massgebend, ob der betreffenden Norm nach anerkannten Auslegungsregeln ein Sinn beigemessen werden kann, der sie mit den angerufenen übergeordneten Normen vereinbar erscheinen lässt. Das Bundesgericht hebt eine kantonale Norm nur auf, wenn sie sich jeder Auslegung entzieht, die mit dem übergeordneten Recht vereinbar ist, nicht jedoch, wenn sie einer solchen in vertretbarer Weise zugänglich ist. Der blosse Umstand, dass die angefochtene Norm in einzelnen Fällen gegen übergeordnetes Recht verstossen könnte, führt für sich allein noch nicht zu deren Aufhebung (
BGE 143 I 426
E. 2 mit Hinweis).
2.2
Das kantonale Recht legt fest, welche kantonalen Gesetze referendumspflichtig sind. Es bestimmt zudem, unter welchen Voraussetzungen und inwieweit die Dringlicherklärung die Referendumspflicht kantonaler Gesetze einschränken darf (vgl. HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000, Rz. 2222 f.). Beim Urnenabstimmungsgesetz handelt es sich um ein kantonalzürcherisches Gesetz; als solches untersteht es dem fakultativen Referendum (Art. 33 Abs. 1 lit. a KV/ZH).
BGE 147 I 420 S. 425
2.3
Die Beschwerdeführerinnen rufen Art. 37 Abs. 1 KV/ZH an. Art. 37 KV/ZH regelt das Dringlichkeitsrecht und lautet wie folgt:
"1 Gesetze, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, können vom Kantonsrat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder sofort in Kraft gesetzt werden.
2 Wird das Referendum ergriffen, so findet die Volksabstimmung innert sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes statt.
3 Wird das Gesetz abgelehnt, so tritt es unmittelbar nach der Volksabstimmung ausser Kraft."
Betreffend die in der Genfer Kantonsverfassung vorgesehene Dringlichkeitsklausel hat das Bundesgericht in
BGE 130 I 226
E. 3.2 festgehalten, dass diese - analog zu Art. 165 BV - restriktiv auszulegen ist. Dies rechtfertigt sich dadurch, dass mit der Dringlicherklärung vom ordentlichen Verfahren abgewichen wird und die Referendumsrechte der Stimmberechtigten im Einzelfall eingeschränkt werden. In der Lehre ist diesbezüglich von einem "Einbruch in die Referendumsrechte des Volkes" (HANGARTNER/KLEY, a.a.O., Rz. 2224) die Rede und von einer "Regelwidrigkeit", da der Grundsatz durchbrochen wird, wonach die Stimmberechtigten noch vor Inkrafttreten einer Novelle in den Gesetzgebungsprozess eingreifen dürfen (TSCHANNEN, a.a.O., N. 6 zu Art. 165 BV). Die gleichen Überlegungen treffen auf Art. 37 Abs. 1 KV/ZH zu, weshalb auch diese Bestimmung restriktiv auszulegen ist.
Zur Zulässigkeit der Dringlicherklärung hält der Kommentar zum Art. 37 KV/ZH fest, das Inkrafttreten des Gesetzes dürfe keinen Aufschub ertragen. Das Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung müsse erheblich sein. Es müssten zwingende, ausserordentliche Gründe vorliegen. Die blosse Wünschbarkeit des sofortigen Inkrafttretens genüge nicht. Das Interesse an der Möglichkeit, ein Gesetz sofort anwenden zu können, sei gegen das Interesse an der Wahrung der demokratischen Mitwirkungsrechte der Stimmberechtigten im ordentlichen Referendumsverfahren abzuwägen. Das erstgenannte Interesse sei umso grösser, je schwerer die Nachteile wögen, wenn das Gesetz nicht sofort angewandt werden könne, und je grösser die Zahl der davon Betroffenen sei. Das Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung könne von vornherein nur bei Gesetzen überwiegen, die eine wichtige Sache beträfen (so CHRISTIAN SCHUMACHER, in: Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, 2007, N. 13 zu Art. 37 KV mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind im Folgenden zu prüfen (vgl.
BGE 130 I 226
E. 3).
2.4
Vorweg ist auf die besonderen Umstände der Covid-19-Pandemie einzugehen, welche der Dringlicherklärung im vorliegenden Fall zugrunde liegen:
Nachdem die Covid-19-Pandemie Anfang des Jahres 2020 in der Schweiz ausgebrochen war und der Bundesrat deswegen am 18. März 2020 die ausserordentliche Lage gemäss Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (EpG; SR 818.101) erklärt hatte, sanken die täglich registrierten Fallzahlen während der Frühlingsmonate allmählich (vgl. zu den in der sog. ersten Welle ergriffenen Massnahmen auch Urteil 1C_169/2020 vom 22. Dezember 2020 E. 2.4). Anfang Herbst 2020 nahmen die Covid-19-Fallzahlen in der Schweiz jedoch wieder stark zu. Während die 14-Tages-Inzidenz (Anzahl der neu gemeldeten, laborbestätigten infizierten Personen in den letzten 14 Tagen, pro 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner) am 1. September 2020 schweizweit 47.4 und am 1. Oktober 2020 59.31 betrug, belief sich diese Zahl einen Monat später, am 1. November 2020, auf 1109.59 und damit auf ein Vielfaches im Vergleich zu jener anfangs Oktober 2020. In der Woche des Erlasses des Urnenabstimmungsgesetzes durch den Kantonsrat war dieser Wert zwar im schweizweiten Vergleich wieder etwas gesunken (auf rund 772), die Lage im Kanton Zürich hatte sich jedoch im Vergleich zu anderen Kantonen weniger stark entschärft. So betrug im Kanton Zürich die 14-Tage-Inzidenz am 1. Oktober 2020 61.07, am 1. November 2020 804.99 und am 23. November 2020 immer noch 633.29; dieser Wert stieg im Übrigen bis zum 20. Dezember 2020 wieder bis auf 769.26 an (vgl. die auf www.covid19.admin.ch/de/overview publizierten Statistiken, Stand: 9. März 2021).
Parallel zu den Neuansteckungen nahmen auch die Hospitalisierungen zu. Während der 7-Tage-Schnitt der täglichen neuen Hospitalisierungen in absoluten Zahlen am 1. Oktober 2020 23 (Schweiz) bzw. 3.29 (Zürich) betrug, stieg er bis zum 1. November 2020 auf 233.71 (Schweiz) bzw. 24.71 (Zürich). Danach sank diese Zahl zwar schweizweit langsam; im Kanton Zürich nahm der Wert jedoch weiter zu - kurz nach Verabschiedung des Urnenabstimmungsgesetzes durch den Kantonsrat, am 1. Dezember 2020, lag der 7-Tage-Schnitt der neuen täglichen Hospitalisierungen bei 25.71 und am 15. Dezember 2020 bei 35 (vgl. die auf www.covid19.admin.ch/de/overview publizierten Statistiken, Stand: 9. März 2021; die
BGE 147 I 420 S. 427
Zahlen betreffend Hospitalisierungen sind gemäss Bundesamt für Gesundheit aufgrund von Meldelücken und Meldeverzug mit Vorsicht zu interpretieren).
Auch die Anzahl coronabedingter Todesfälle folgte - zeitlich etwas verschoben - den Zahlen der Neuansteckungen und der Hospitalisierungen. Der 7-Tage-Schnitt der täglichen Todesfälle in absoluten Zahlen betrug am 1. Oktober 2020 1.57 (Schweiz) bzw. 0.14 (Zürich), am 1. November 2020 62.29 (Schweiz) bzw. 4.86 (Zürich) und am 1. Dezember 2020 84.86 (Schweiz) bzw. 11.29 (Zürich). Dieser Wert stieg im Kanton Zürich bis zum 23. Dezember 2020 bis auf 17.71 an und sank danach allmählich (vgl. die auf www.covid19.admin.ch/de/overview publizierten Statistiken, Stand: 9. März 2021).
In der Botschaft vom 18. November 2020 zum Bundesbeschluss über den Assistenzdienst der Armee zur Unterstützung des zivilen Gesundheitswesens im Rahmen der Massnahmen zur Bekämpfung der zweiten Welle der Covid-19-Epidemie - und damit fünf Tage vor Erlass des hier umstrittenen Urnenabstimmungsgesetzes - fasste der Bundesrat die damalige epidemiologische Lage folgendermassen zusammen: "Seit Beginn der zweiten Welle, Ende September, sind die Covid-19-Fallzahlen dramatisch angestiegen und mit ihnen auch die Hospitalisationen und die Anzahl Patientinnen und Patienten auf Intensivpflegestationen (IPS)". Die hohe Positivitätsrate von anfangs November 2020 von annähernd 25 Prozent und die Verdoppelung der Fallzahlen alle sechs Tage (in gewissen Kantonen alle vier Tage) hätten die Dramatik der Situation gezeigt. Die Swiss National Covid-19 Science Task Force habe ausserdem damit gerechnet, dass die IPS in weniger als drei Wochen überlastet sein würden (BBl 2020 8805 ff., 8808).
Der Bundesrat reagierte auf diese zweite Welle der Covid-19-Pandemie in der Schweiz mit verschiedenen, teilweise einschneidenden Massnahmen, wobei im Folgenden nur auf die weitgehenden Einschränkungen von Versammlungen einzugehen ist. Für den vorliegenden Fall ist ausserdem zu berücksichtigen, dass der Bundesrat die Verordnung vom 19. Juni 2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26) zwischen dem 1. Oktober 2020 und dem 2. November 2020 vier Mal an die sich verschärfende epidemiologische Lage anpasste. Während in der
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Version der Covid-19-Verordnung vom 1. Oktober 2020 (AS 2020 3679) Grossveranstaltungen mit mehr als 1'000 Personen unter strengem Schutzkonzept noch erlaubt waren, verbot der Bundesrat am 29. Oktober 2020 Veranstaltungen mit über 50 Personen, bzw. mit über 10 Personen, wenn es sich dabei um Veranstaltungen im Familien- und Freundeskreis (private Veranstaltungen) handelte (Art. 6 Abs. 1 und 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage, Stand am 29. Oktober 2020 [AS 2020 4503]). Die Durchführung von Messen und Märkten in Innenräumen wurde ausnahmslos verboten (Art. 6 Abs. 3 Covid-19-Verordnung besondere Lage, Stand am 29. Oktober 2020). Diese Bestimmungen blieben bis zum Erlass des Urnenabstimmungsgesetzes am 23. November 2020 in Kraft, wurden jedoch danach weiter verschärft.
Während des gesamten Herbstes bzw. Winters 2020/2021, d.h. auch im Zeitpunkt des Erlasses des Urnenabstimmungsgesetzes, galten besondere Bestimmungen für Versammlungen politischer Körperschaften (Art. 6c Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage). So unterlagen Versammlungen von Legislativen auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene zwar keinen Beschränkungen der Personenzahl, jedoch der allgemeinen Maskentragepflicht sowie einer Schutzkonzeptpflicht (Erläuterungen zur Covid-19-Verordnung besondere Lage, Version vom 5. März 2021, S. 21).
2.5
Streitig ist, ob die Voraussetzung des erheblichen Interesses an der sofortigen Inkraftsetzung des Urnenabstimmungsgesetzes erfüllt ist.
2.5.1
Die Beschwerdeführerinnen führen aus, die Argumentation des Regierungsrats in seinem Bericht zum Antrag an den Kantonsrat sei widersprüchlich, weil der geltend gemachte Nachteil - der Umstand, dass einige Stimmberechtigte nicht an der Gemeindeversammlung teilnehmen könnten - keinen Zusammenhang mit der behaupteten zeitlichen Dringlichkeit der finanzpolitischen Beschlüsse aufweise. Die Argumentation des Regierungsrats sei auch deshalb widersprüchlich, weil das Urnenabstimmungsgesetz es den Gemeindevorständen überlasse, ob sie eine Urnenabstimmung durchführen wollten oder nicht.
2.5.2
Die kantonalen Behörden begründen das Vorliegen zeitlicher Dringlichkeit des Gesetzes damit, dass Gemeinden möglichst rasch zu ermöglichen sei, von einer Gemeindeversammlung auf eine Urnenabstimmung umzustellen, um unerlässliche Beschlüsse noch
BGE 147 I 420 S. 429
rechtzeitig fassen zu können. Aufgrund der üblichen Vorlaufzeiten sei die Durchführung einer Urnenabstimmung frühestens am 31. Januar 2021 möglich. Dies würde zwar immer noch bedeuten, dass die Gemeinden zwischen dem 1. und dem 31. Januar 2021 nur die für die ordentliche und wirtschaftliche Verwaltungstätigkeit unerlässlichen Ausgaben tätigen könnten, was aber aufgrund der ausserordentlichen Pandemie-Situation hinzunehmen sei.
2.5.3
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen ist die zeitliche Dringlichkeit des Urnenabstimmungsgesetzes vorliegend zu bejahen. Im Herbst 2020, insbesondere in den zwei Monaten vor Erlass des Urnenabstimmungsgesetzes und namentlich im Kanton Zürich, war ein rasanter Anstieg der Neuinfektionen zu verzeichnen (vgl. E. 2.4). Die Lage, auch die rechtliche, war ausgesprochen volatil. Es musste realistischerweise von einer Woche auf die andere damit gerechnet werden, dass generell oder in einzelnen, von der Pandemie besonders betroffenen Gemeinden, die Gemeindeversammlungen nicht mehr ordnungsgemäss durchgeführt werden könnten. Die Beschlussfassung im Urnenverfahren war demgegenüber von der Pandemie weit weniger gefährdet. Als der Kantonsrat am 23. November 2020 den Beschluss über die Annahme des Urnenabstimmungsgesetzes fasste, standen Versammlungsgemeinden vor dem Problem, dass ihre Gemeindebudgets und Steuerfüsse für das Jahr 2021 noch nicht festgesetzt waren. Es wurde zunehmend unwahrscheinlicher, dass sie dies, wie von § 101 Abs. 3 des Gemeindegesetzes des Kantons Zürich vom 20. April 2015 (GG/ZH; LS 131.1) vorgeschrieben, bis Ende 2020 tun könnten.
Gemäss den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Regierungsrats in seinem Bericht zum Antrag an den Kantonsrat war aufgrund der üblichen Vorlaufzeiten eine Urnenabstimmung frühestens am 31. Januar 2021 möglich; danach hätten Versammlungsgemeinden, die sich für die Durchführung einer Urnenabstimmung entschieden hätten, zwischen dem 1. und dem 31. Januar 2021 mangels Gemeindebudget nur noch die für die ordentliche und wirtschaftliche Verwaltungstätigkeit unerlässlichen Ausgaben tätigen können (§ 101 Abs. 3 GG/ZH). Dieser finanzpolitische Ausnahmezustand wäre in diesen Gemeinden mit jeder Verzögerung der Inkraftsetzung des Urnenabstimmungsgesetzes verlängert worden, was es aus ordnungspolitischer Sicht zu vermeiden galt. Sollte eine Versammlungsgemeinde ihren Steuerfuss bis Ende März nicht
BGE 147 I 420 S. 430
festgelegt haben, bleibt es dem Regierungsrat vorbehalten, diesen festzusetzen (§ 168 Abs. 2 lit. b GG/ZH). Das Urnenabstimmungsgesetz hätte vor diesem Hintergrund seinen Zweck verfehlt, wenn es nicht sofort in Kraft gesetzt worden wäre. Um die Beschluss- und Funktionsfähigkeit der Gemeinden sicherzustellen, ermöglicht das Urnenabstimmungsgesetz, die hierzu unerlässlichen finanzpolitischen Beschlüsse gegebenenfalls im Urnenverfahren zu fassen. An der sofortigen Eröffnung dieses alternativen Wegs der Beschlussfassung besteht mit Blick auf die in § 1 des Urnenabstimmungsgesetzes vorgesehenen Beschlüsse betreffend die Festsetzung des Budgets und des Steuerfusses demnach ein erhebliches Interesse.
2.6
Streitig ist zudem, ob zwingende, ausserordentliche Gründe vorliegen, die eine Dringlicherklärung gemäss Art. 37 Abs. 1 KV/ZH rechtfertigen.
2.6.1
Die Beschwerdeführerinnen führen dazu aus, die Dringlichkeit in sachlicher Hinsicht sei nicht gegeben, da die Gemeindeversammlungen auch ohne das neue Gesetz durchgeführt und die finanzpolitischen Beschlüsse gefasst werden könnten. Dies wäre auch nicht in Frage gestellt, wenn man die Befürchtung als berechtigt erachten wollte, einige besonders verletzliche Personen und weitere Stimmberechtigte könnten einer Gemeindeversammlung möglicherweise trotz Schutzkonzept fernbleiben aus Angst vor einer Ansteckung mit COVID-19. Es sei offensichtlich unverhältnismässig, die Einschränkung der politischen Rechte aller Stimmberechtigten damit zu rechtfertigen, dass eventuell einige von ihnen aus gesundheitlichen Bedenken der Gemeindeversammlung fernbleiben könnten. Im Falle einer Urnenabstimmung würden die politischen Rechte aller Stimmberechtigten eingeschränkt, da die Möglichkeit wegfalle, an der Gemeindeversammlung Anträge zu den Geschäften zu stellen. Die Interessenabwägung sei auch deshalb unverhältnismässig, weil der Bundesrat die Gemeindeversammlungen explizit weiterhin zulassen wolle.
2.6.2
Das Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung kann von vornherein nur bei Gesetzen überwiegen, die eine wichtige Sache betreffen (SCHUHMACHER, a.a.O., N. 13 zu Art. 37 KV mit Hinweisen; vorne E. 2.3). Die Covid-19-Pandemie brachte für Menschenansammlungen eine hohe Gefahr einer weiteren Verbreitung des gefährlichen Virus und für die Rechtsetzung viele Unsicherheiten mit sich. Ab dem 29. Oktober 2020 ist ein sehr weitgehendes
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Versammlungsverbot in Kraft getreten (vorne E. 2.4), das im Verlaufe des Winters 2020/2021 noch verschärft wurde. Diese Anpassungen erfolgten aufgrund des hohen Risikos, dass sich an grossen Versammlungen - insbesondere in Innenräumen - viele Leute mit Covid-19 infizieren könnten. Zwar hat der Bundesrat die Gemeindeversammlungen aufgrund ihres hohen demokratischen Stellenwerts von diesem Versammlungsverbot ausgenommen; der Umstand, dass sich das Coronavirus SARS-CoV-2 nach aktuellem Wissensstand bei grossen Versammlungen in Innenräumen schneller verbreitet, trifft jedoch gleichermassen auf Gemeindeversammlungen zu (vgl. auch Urteil 1C_169/2020 vom 22. Dezember 2020 E. 2.4.2). Das dringlich erklärte Gesetz betrifft angesichts der durch die Pandemiesituation erheblich gefährdeten Beschluss- und Funktionsfähigkeit der Versammlungsgemeinden sowie der ebenfalls erheblich gefährdeten Gesundheit der Stimmberechtigten bei der Durchführung von Gemeindeversammlungen eine solche "wichtige Sache".
2.6.3
Entgegen dahingehender Aussagen der Beschwerdeführerinnen schreibt das Urnenabstimmungsgesetz den Versammlungsgemeinden nicht vor, dass sie die angesprochenen Beschlüsse im Urnenverfahren fassen müssen. Vielmehr räumt das Urnenabstimmungsgesetz den Gemeindevorständen bloss die Befugnis ein, für diese Beschlüsse eine Urnenabstimmung anzuordnen. Trotz der aufgeführten (vorne E. 2.6.2), schwerwiegenden Gründe sind Situationen denkbar, in denen die Durchführung einer Gemeindeversammlung vertretbar sein kann, etwa wenn eine kleine Gemeinde über einen grossen Raum verfügt (z.B. Mehrzweckhalle, Turnhalle etc.) und ein Schutzkonzept eine unbedenkliche Durchführung gewährleistet. Entsprechend überzeugt auch das Argument der Beschwerdeführerinnen nicht, wonach der Kantonsrat Gemeindeversammlungen ganz hätte verbieten müssen, wenn tatsächlich eine gesundheitspolitische Dringlichkeit vorgelegen hätte. Ob eine solche Ausnahme besteht, welche die Durchführung einer Gemeindeversammlung erlaubt, ist bei der Anwendung des dringlich erklärten Gesetzes im Einzelfall zu prüfen (vgl. vorne E. 2.1). Für den Regelfall sind aber aufgrund der Pandemiesituation die zwingenden ausserordentlichen Gründe zu bejahen.
2.7
Im Interesse, die Funktionsfähigkeit der Gemeinden aufrechtzuerhalten, die kommunalen politischen Rechte optimal zu gewährleisten und die Pandemie zu bekämpfen, erträgt das Inkrafttreten
BGE 147 I 420 S. 432
des Urnenabstimmungsgesetzes keinen Aufschub. Die genannten Interessen überwiegen das Anliegen der Beschwerdeführerinnen, ihre politischen Rechte an der Gemeindeversammlung ausüben zu können sowie das Interesse an der Wahrung der demokratischen Mitwirkungsrechte der Stimmberechtigten im kantonalen Gesetzgebungsverfahren (insbesondere die Beschränkung des Referendumsrechts). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beeinträchtigung der Mitwirkungsrechte in verschiedener Hinsicht eingegrenzt wird. So räumt das Urnenabstimmungsgesetz den Gemeindevorständen von Versammlungsgemeinden bloss die Kompetenz ein, gegebenenfalls für bestimmte Beschlüsse eine Urnenabstimmung anzuberaumen. Zudem ist es auf drei Monate befristet und - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen - selbst dem Referendum unterstellt (vgl. die massgebliche, am 27. November 2020 im Amtsblatt veröffentlichte Version des Gesetzes und § 14 Abs. 1 des Publikationsgesetzes des Kantons Zürich vom 30. November 2015; LS 170.5). Die Dringlicherklärung des Urnenabstimmungsgesetzes war daher im Lichte von Art. 37 Abs. 1 KV/ZH zulässig. Der Kantonsrat brauchte die 60-tägige Referendumsfrist (vgl. Art. 33 Abs. 3 KV/ZH) und eine allfällige Referendumsabstimmung nicht abzuwarten, um das Urnenabstimmungsgesetz in Kraft zu setzen, zumal dieses explizit als Massnahme zur Eindämmung der weiteren Verbreitung von Covid-19 konzipiert war.
Die Gemeinden haben bei der Wahl des geeigneten Instruments der Beschlussfassung (Gemeindeversammlung oder Urne) jedoch das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten (Art. 5 Abs. 2 BV).