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Urteilskopf

81 II 60


9. Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Februar 1955 i.S. Immobilien-Bank A.-G. gegen Esso Standard Switzerland.

Regeste

Bürgschaftseingehung, Art. 493 Abs. 6 OR.
Allgemeine Vollmachten mit gesetzlich umschriebenem Inhalte sind dem Formzwange nicht unterworfen.

Sachverhalt ab Seite 61

BGE 81 II 60 S. 61

A.- Die Immobilien-Bank A.-G. bezweckt laut Handelsregistereintrag "die Pflege des Immobilien- und Hypothekargeschäftes in der Schweiz, die Anlage und die Verwaltung von Kapitalien in allen Formen, sowie alle Arten von Bankgeschäften...". Ihr alleiniger und zur Einzelunterschrift berechtigter Verwaltungsrat in der Periode vom 21. März bis 11. Dezember 1951 war Dr. Edwin Max Bircher. Er stellte, vor Antritt einer Auslandsreise, am 27. März 1951 namens der Immobilien-Bank A.-G. dem Kaufmann Paul Tschornia auf vorgedrucktem Formular eine "General-Vollmacht" aus. Diese bezeichnete den Empfänger als "unseren General- und Spezialbevollmächtigten", gab ihm zunächst "den Auftrag und volle Gewalt, für uns alle gerichtlichen, wie aussergerichtlichen Angelegenheiten zu besorgen, vor Behörden und Gerichten zu erscheinen und jede Rechtshandlung, welche wir selbst vornehmen könnten und bei welcher eine Stellvertretung gesetzlich zulässig ist, an unserer statt vorzunehmen", und nannte anschliessend noch "speziell" eine lange Reihe von konkreten Befugnissen.
Tschornia seinerseits überreichte am 2. Oktober 1951 der Esso Standard die nachstehende, durch ihn als Generalbevollmächtigten ausgefertigte und vom 18. September 1951 datierte
"Bürgschaftsverpflichtung.
Die unterzeichnete IMMOBILIEN-BANK AG. erklärt hiermit, zugunsten der Firma GEI A G, Gesellschaft für Industrie- & Handelsprodukte A G., Zürich 1 bis zur Höhe des Betrags von
Fr. 330'000.-- (dreihundertdreissigtausendfranken)
für Lieferungen der ESSO STANDARD SWITZERLAND, Zürich 1, Bürgschaft als Selbstschuldner zu leisten, für alle Forderungen, welche der ESSO STANDARD SWITZERLAND in Zürich aus dem Geschäftsverkehr mit der Firma GEIAG, Gesellschaft für Industrie- und Handelsprodukte AG. in Zürich bereits zustehen und künftig zustehen werden.
Wir verpflichten uns, den bis zur Höhe dieser Bürgschaft angeforderten Betrag auf erste Aufforderung und unter Verzicht auf jede Einrede, auf welche nach dem Gesetz gültig verzichtet werden kann, der ESSO STANDARD SWITZERLAND, Zürich, zu überweisen."

B.- In der Folge geriet die Firma GEIAG gegenüber der Esso Standard mit der Bezahlung grösserer Heizöl-
BGE 81 II 60 S. 62
Bezüge zunehmend in Rückstand. Eine letzte Mahnung blieb fruchtlos. Die als Bürge angegangene Immobilien-Bank A.-G. verweigerte eine Begleichung der offenen Schuld. Sie wurde daher von der Gläubigerin für eine Gesamtforderung von Fr. 308'245.60 samt Zinsen belangt.
Das Handelsgericht des Kantons Zürich schützte durch Urteil vom 7. Juli 1954 die Klage für Fr. 210'415.50 nebst 5% Zins ab 20. November 1951 und Fr. 94'266.45 nebst 5% Zins ab 4. Dezember 1951.

C.- Die Beklagte legte Berufung an das Bundesgericht ein. Sie beantragt vollumfängliche Abweisung der Klage und eventuell, bei Gutheissung, die Aufnahme des Vorbehaltes, dass die Leistungspflicht lediglich bestehe, soweit ihr die Hauptschuldnerin nicht nachgekommen sei. Die Klägerin begehrt Bestätigung des angefochtenen Erkenntmsses.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Mit der Berufung wird, unter Verzicht auf sonstige im kantonalen Verfahren erhobene Einwände, nur noch geltend gemacht, Tschornia sei zur Eingehung einer Bürgschaft nicht berechtigt gewesen, weil seine Vollmacht den Formerfordernissen des Art. 493 Abs. 6 OR nicht genüge; die Bürgschaftserklärung vom 18. September 1951 sei daher ungültig und verpflichte die Beklagte nicht.
a) Die an Tschornia verliehene Ermächtigung hatte, zumindest in erster Linie, den unverkennbaren Zweck, die Geschäftsführung der Beklagten während der Abwesenheit des einzigen Verwaltungsrates zu sichern. Entsprechend beschränkt sie sich nicht auf die Einsetzung einer einfachen Stellvertretung gemäss Art. 32 OR, sondern sie ist dem Wortlaute wie dem Inhalte nach eine auf den umschriebenen Zweck ausgerichtete allgemeine im Sinne des 17. Titels des OR. Als solche kann sie Prokura oder andere Handlungsvollmacht sein. Da keine Firmazeichnung "per procura" vorgesehen ist, auch ein dahingehender Eintrag im Handelsregister fehlt und Tschornia selber
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der Klägerin gegenüber nicht als Prokurist auftrat, ist eine Handlungsvollmacht gemäss Art. 462 OR anzunehmen (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER, Vorbemerkungen zu Art. 458-465 OR N. 5 und zu Art. 462 OR N. 2). Die Ausscheidung ist übrigens praktisch bedeutungslos. Grundsätzlich sind sowohl der Prokurist wie der Handlungsbevollmächtigte von Gesetzes wegen zur Eingehung einer Bürgschaft befugt, sofern diese zu den Handlungen zählt, welche "der Zweck des Gewerbes oder Geschäftes des Geschäftsherrn mit sich bringen kann" bzw. "der Betrieb eines derartigen Gewerbes oder die Ausführung derartiger Geschäfte gewöhnlich mit sich bringt" (Art. 459 Abs. 1 und 462 Abs. 1 OR). Letzteres wird von der Vorinstanz für den Geschäftsbereich der Beklagten bejaht. Es trifft nicht zu, dass im speziellen Teil der Vollmacht Tschornias eine massgebliche Präzisierung der einleitenden Generalklausel liegt, wie die Berufung zu unterstellen versucht. Vielmehr hat die Aufzählung einzelner Rechtshandlungen beispielhaft erläuternden und darüber hinaus ergänzenden Charakter insoweit, als sie gewisse Befugnisse erwähnt, die nach Art. 459 Abs. 2 und 462 Abs. 2 OR innerhalb von Prokura und Handlungsvollmacht ausdrücklich eingeräumt werden müssen. Das Recht zur Bürgschaftsgewährung ist in jene gesetzlichen Vorbehalte nicht einbezogen. Aus der blossen Tatsache seiner Nichterwähnung im Vollmachtsformular vermag also die Beklagte nichts zu ihrem Vorteile herzuleiten.
b) Art. 493 Abs. 6 OR schreibt vor, dass die "Erteilung einer besonderen Vollmacht zur Eingehung einer Bürgschaft" der gleichen Form wie diese bedarf. Die Bestimmung weist mit der gewählten Ausdrucksweise schon begrifflich und nach ihrer Entstehungsgeschichte (vgl. Vorentwürfe 1937 und 1939 Art. 494 Abs. 3, Protokoll der Expertenkommission S. 15/16, Entwurf des Bundesrates Art. 494 Abs. 3 und zugehörige Botschaft vom 20. Dezember 1939 S. 42, Protokolle der nationalrätlichen Kommission vom 10./11. Januar 1940 S. 25 f. und vom
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5. Februar 1940 S. 3 ff. und 10; GIOVANOLI in ZSR 60 S. 235 f.) auch tatsächlich auf die allgemeine Vollmacht als nicht erfasstes Gegenstück. Eine solche erblickt die bundesrätliche Botschaft in der Prokura. Weder der Text des Art. 493 Abs. 6 OR noch die Ergebnisse der Verhandlungen in den eidgenössischen Kommissionen und Räten bieten Veranlassung, die anderen Handlungsvollmachten des 17. Titels des OR abweichend zu betrachten. In der Lehre herrscht denn auch Einigkeit darüber, dass jedenfalls generelle Vollmachten mit gesetzlich festgelegtem Inhalte dem Formzwang nicht unterworfen sind (so zu Art. 493 OR: OSER/SCHÖNENBERGER N. 75, GIOVANOLI N. 48, BECK N. 67). Das ist durchaus im Einklang mit den Zielen der Revision des Bürgschaftsrechtes, die gesamthaft danach trachtete, durch Erweiterung der formellen Vertragsbedingungen die Stellung des Bürgen zu verbessern. Dabei wurde namentlich mittels der Regelung des Art. 493 Abs. 6 OR eine Gewährleistung des verstärkten Schutzes angestrebt. Indessen war keineswegs beabsichtigt, in das Vollmachtenwesen an sich einzugreifen und für die Ausübung von Vertretungsbefugnissen, die in kraft Gesetzes umgrenztem allgemeinem Rahmen übertragen sind, eine zusätzliche qualifizierte Ermächtigung zu verlangen. Eine gesetzlich geordnete generelle Handlungsvollmacht, welche die Berechtigung zur Verabredung von Bürgschaften einschliesst, ist nun aber hier nach dem vorstehend Dargelegten gegeben, und damit ist auch über die Nichtanwendbarkeit des Art. 493 Abs. 6 OR entschieden. Alsdann braucht die im Prozess aufgeworfene weitere Frage, ob schlechthin jegliche Generalvollmacht von der Bürgschaftsform befreit sei, nicht mehr erörtert zu werden.

2. Die Erteilung einer Handlungsvollmacht gemäss Art. 462 OR ist an keine Form gebunden. Die für die Bürgschaft gebotene Form wurde mit der Erklärung Tschornias vom 18. September 1951 gewahrt. Somit hat die Beklagte für Forderungen der Klägerin an die GEIAG
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bis zum Höchstbetrage von Fr. 330'000.-- als Bürgin aufzukommen. Dass ihre Verpflichtung von Bestand und Umfang der Hauptschuld abhängt, versteht sich bei der akzessorischen Natur der Solidarbürgschaft von selbst. Es noch eigens im Dispositiv zu vermerken ist unnötig. Anderseits gehört es gerade zum Wesen der Solidarität, dass der Gläubiger "nach seiner Wahl von allen Solidarschuldnern je nur einen Teil oder das Ganze fordern" kann (Art. 144 OR). Das gilt mit den gesetzlichen Einschränkungen auch für die Solidarbürgschaft (Art. 496, 497 Abs. 2, 501 Abs. 2 OR; vgl. den in diesem Punkte unveröffentlichten BGE vom 10. Juni 1952 i.S. Bauer und Orlando c. Walliser Kantonalbank Erw. 3). Die Voraussetzungen des Art. 496 Abs. 1 OR für die Belangung des Solidarbürgen - Leistungsrückstand und erfolglose Mahnung des Hauptschuldners - sind nach den vorinstanzlichen Angaben vorliegend erfüllt.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das vorinstanzliche Urteil bestätigt.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2

Dispositiv

Referenzen

Artikel: Art. 493 Abs. 6 OR, Art. 462 OR, Art. 32 OR, Art. 458-465 OR mehr...