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Urteilskopf

81 II 159


28. Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Mai 1955 i.S. Schweizerische Bundesbahnen gegen Wenger

Regeste

Eisenbahnhaftpflicht.
Unfall beim Bahnbetrieb. Verschulden der Bahnunternehmung und Dritter (Eltern des verletzten Kindes) (Erw. 1-3).
Haftet die Bahnunternehmung für Heilungskosten, die dem Verletzten eine anerkannte Krankenkasse vergütet hat? (Erw. 4).
Zusprechung einer Rente für Verminderung der Erwerbsfähigkeit (Erw. 5).
Genugtuung (Erw. 6).
Art. 1, 3, 5, 8, 10, 18 EHG, 51 OR, 72 und 96 VVG, 26 KUVG.

Sachverhalt ab Seite 160

BGE 81 II 159 S. 160

A.- Am 10. April 1950 (Ostermontag) nachmittags weilte die damals etwa zwei Jahre und acht Monate alte Irene Wenger (geboren am 3. August 1947) in Däniken mit ihren Eltern und einem Gast, Friedrich Küpfer, zuhause in der Wohnstube. Das Haus steht an der Hauptstrasse Olten-Aarau. Auf seiner Ostseite zweigt ein Strässchen ab, das nach etwa 60 m über die doppelspurige SBB-Linie der stark befahrenen Strecke Olten-Aarau nach dem Unterdorfe führt. Der Niveauübergang ist durch Barrieren geschützt, die jedoch nicht an Ort und Stelle, sondern von der mehrere hundert Meter entfernten Bahnstation aus bedient werden. Sie bestanden seit anfangs 1948 nur aus Querstangen (Schlagbäumen) in etwa 1,30 m über dem Boden, ohne Hängegitter. Als sich die Mutter und nach ihr auch der Vater in die Küche begaben, schlüpfte das Kind neben dem Vater (der ihm gesagt hatte, es solle in der Stube bleiben) zur Zimmertür hinaus. Unbemerkt trat es vor das Haus, und da es jenseits des Bahnüberganges andere Kinder bemerkte, rannte es auf dem Strässchen auf sie zu. Unter der Barriere durch, die für das kleine Kind kein Hindernis war, schritt es unbekümmert auf die Geleise. In diesem Augenblicke nahte mit einer Geschwindigkeit von etwa 45 km/Std. ein Geleisetraktor. Dessen Führer vermochte nicht rechtzeitig anzuhalten. Der Traktor erfasste das Kind und schob es etwa 12 m vor sich her, bis er stillstand.
BGE 81 II 159 S. 161

B.- Als Unfallfolgen ergaben sich ein Bruch des rechten Unterschenkels und Verletzungen am Kopfe, namentlich ein Bruch des linken Stirnbeins. Das Kind wurde im Kantonsspital in Olten gepflegt. Als bleibende Nachteile sind festgestellt: eine beträchtliche kosmetische Entstellung des Gesichtes, ein Auswärtsschielen des linken Auges und, damit zusammenhängend, eine starke linksseitige Schwachsichtigkeit.

C.- Für das verunfallte Kind erhob sein Vater am 10. August 1952 mündliche und am 22. Januar 1953 schriftliche Klage gegen die Schweizerischen Bundesbahnen auf Zahlung von Fr. 15 918.20 mit 5% Zins seit dem 10. April 1952, nämlich:
Heilungskosten (laut Rechnung des Kantonsspitals) Fr. 310.20
Schadenersatz für dauernde Einbusse an Erwerbsfähigkeit Fr. 13'608.--
Genugtuung Fr. 2'000.--
-------------
Fr. 15'918.20

D.- Entgegen dem auf gänzliche Klageabweisung gehenden Antrage der Beklagten bejahten die kantonalen Gerichte die Haftpflicht. Sie sprachen der Klägerin Ersatz der Heilungskosten zu, soweit sie nicht durch die kantonale Krankenkasse Solothurn gedeckt worden waren. Für die Verminderung der Erwerbsfähigkeit wurde ihr statt der geforderten Kapitalentschädigung eine monatliche Rente zuerkannt, die das Obergericht auf je Fr. 40.- vom zurückgelegten 16.-20. Altersjahr und von da an auf je Fr. 70.- bemass, mit Rektifikationsvorbehalt nach Art. 10 EHG. Den vom Amtsgericht ebenfalls mit Rektifikationsvorbehalt geschützten Genugtuungsanspruch von Fr. 2000.-- wies das Obergericht ab, weil die beklagte Bahnunternehmung kein erhebliches Verschulden treffe.

E.- Mit vorliegender Berufung gegen das obergerichtliche Urteil vom 27. Oktober 1954 erneuert die Beklagte den Antrag auf Abweisung der Klage. Die Klägerin hat
BGE 81 II 159 S. 162
sich der Berufung angeschlossen mit den Anträgen, über das obergerichtliche Urteil hinaus bzw. davon abweichend sei ihr der ganze Betrag von Fr. 310.20 der Spitalrechnung, ferner die geforderte Kapitalentschädigung von Fr. 13 608.-- und endlich eine Genugtuung von Fr. 2000.-- zuzusprechen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Da sich der Unfall beim Bahnbetrieb ereignet hat, haftet die beklagte Bahnunternehmung nach dem in Art. 1 EHG festgelegten Verursachungsprinzip. Von den dort vorgesehenen Haftungsausschlussgründen kommt hier nur das Verschulden Dritter in Frage. Die Beklagte beruft sich denn auch auf ein Verschulden der Eltern der Klägerin, die es an der gebotenen Beaufsichtigung des Kindes hätten fehlen lassen. Eine gewisse Unachtsamkeit des Vaters der Klägerin ist in der Tat festzustellen. Zunächst war das Kind freilich in guter Obhut. Als sich der Vater dann aber anschickte, das Zimmer zu verlassen, wo sich nur noch der Gast befand, hätte er dafür sorgen sollen, dass das Kind sich nicht unbeaufsichtigt ins Freie begeben könne. Er durfte sich nicht darauf verlassen, dass seine Weisung, im Zimmer zu bleiben, von dem kleinen Kinde befolgt werde. Da es übrigens neben ihm zur Zimmertüre hinausschlüpfte, hätte er es bei der gebotenen Aufmerksamkeit bemerken müssen. Im übrigen wäre in Frage gekommen, dessen elfjährige Schwester Rita zu rufen, damit sie zu der kleinen Irene sehe, oder die Eltern hätten diese unter ihren Augen behalten können und sollen. Zu besonderer Vorsicht musste der Unfall mahnen, der sieben Monate zuvor einem fünfjährigen Kind der im gleichen Hause wohnenden Familie Marti zugestossen war. Dieses Kind war auf eben diesem Übergang von einem Schnellzug überfahren und getötet worden.
Der Umstand, dass das Kind in einem Moment, wo es gerade nicht bewacht wurde, ins Freie entschwinden
BGE 81 II 159 S. 163
konnte, ist aber nicht geeignet, den Bahnbetrieb als Unfallursache auszuschalten. Es handelt sich um eine blosse Mitursache, während der Bahnbetrieb die adäquate Hauptursache bleibt. Denn damit, dass sich nahe einem Niveauübergang kleine Kinder unbeaufsichtigt aufhalten, ist beim Bahnbetriebe zu rechnen. Der Gefahr, dass ein solches Kind unbedacht in das Bahnprofil laufen und dabei getötet oder verletzt werden kann, hat die Bahnunternehmung soweit möglich und tunlich vorzubeugen. Jedenfalls haftet sie grundsätzlich für derartige Kinderunfälle. Mangelnde Beaufsichtigung durch die Eltern schliesst die Haftpflicht der Bahnunternehmung nur dann aus, wenn darin nach den gegebenen Umständen ein Verschulden von besonderer Schwere oder von so intensivem ursächlichem Einflusse liegt, dass der Bahnbetrieb, wiewohl unmittelbare, so dennoch nicht mehr adäquate Ursache des Unfalles ist (vgl. BGE 33 II 499; 56 II 401 Erw. 5; 60 II 145; 68 II 259 Erw. 2b; Urteil vom 16. März 1944 i.S. Sihltalbahn-Gesellschaft gegen Eheleute Frei; OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht I 78 und 88, II 695).

2. Eine so entscheidende ursächliche Bedeutung ist hier der Unachtsamkeit der Eltern, speziell des Vaters, um so weniger beizumessen, als zum Eintritt des Unfalles wesentlich ein Umstand beigetragen hat, der der Bahnunternehmung ihrerseits zum Verschulden gereicht. Sie hatte bei Erstellung dieses Niveauüberganges im Jahre 1920 die Barrieren mit Hängegittern versehen. Diese wurden einige Jahre später entfernt, doch brachte man bei der Modernisierung des Überganges (1944 oder 1945) neuerdings Hängegitter an den Schlagbäumen an, zuerst solche aus Leichtmetall, nachher, wegen der fortwährenden Beschädigungen, Stahlgitter. Anfangs 1948 entfernte man diese, weil sie von Unbekannten immer wieder böswillig beschädigt worden seien und Reklamationen bei den Gemeinde- und Kantons-Polizeibehörden nichts gefruchtet hätten. Und doch hatte der Bahningenieur II des Kreises II
BGE 81 II 159 S. 164
der SBB am 20. Februar 1946 dem Gemeinderat von Däniken geschrieben:
"Diese Gitter sind im Interesse der Sicherheit der Übergangsbenützer, insbesondere aber von Kindern angebracht worden und entsprechen einer gesetzlichen Vorschrift",
und noch in einem Schreiben vom 25. August 1947 an das Polizeidepartement Solothurn hatte die Verwaltungsabteilung des Kreises II der SBB erklärt, eine Entfernung der Hängegitter komme nicht in Betracht, weil das zur Folge hätte,
"dass das Durchschlüpfen unter den geschlossenen Barrieren zur Übung würde und dass die Bahn bei Unfällen den Vorwurf zu gewärtigen hätte, sie habe nicht alles getan, um das Durchschlüpfen zu verhindern".
Dieser Vorwurf muss nun im vorliegenden Fall erhoben werden, wo ein schuldloses Kind wegen der ungenügend wirksamen Abschrankung auf die Geleise gelangte und einen Unfall erlitt. Der sieben Monate früher auf diesem Übergang eingetretene tödliche Unfall eines andern Kindes hätte die Bahnunternehmung (nicht minder als die Eltern der Klägerin) vollends warnen und zur schleunigen Abhilfe veranlassen müssen. Indem die Beklagte den gefährlichen Zustand andauern liess (und zwar, wie aus den erwähnten Briefen erhellt, bewusst), machte sie sich am Unfall der Klägerin mitschuldig. Zu möglichst wirksamer Abschrankung solcher Übergänge ist die Bahnunternehmung auch ohne besondere Vorschrift verpflichtet. Zu Unrecht wird eingewendet, einem verwegenen Strassenbenützer könnte ein Hängegitter zum Verhängnis werden; denn er würde sich durchzwängen oder die Barriere überklettern und dann allenfalls gerade wegen des damit verbundenen Zeitverlustes unter einen Zug kommen. Solche Vorfälle (bei denen übrigens oftmals ein die Haftung der Bahn ausschliessendes Selbstverschulden vorläge) vermögen der Nützlichkeit der in Frage stehenden Schutzvorrichtung für den Regelfall keinen Abbruch zu tun. Gelegentliche Beschädigungen machen die Vorrichtung auch nicht
BGE 81 II 159 S. 165
unwirksam, sofern sie jeweilen bald ausgebessert werden, was wegen der Wichtigkeit der zu schützenden Interessen nicht unterbleiben darf. Natürlich ist nach Möglichkeit auch für eine aufmerksame Bedienung der Barrieren zu sorgen, damit die Strassenbenützer nicht ungebührlich lange durch geschlossene Barrieren hingehalten werden.

3. Als blosse Mitursache des Unfalles ist das erwähnte Verschulden der Eltern der Klägerin weder geeignet, die Haftpflicht der Bahnunternehmung auszuschliessen, noch folgt daraus auch nur eine Verminderung der Ansprüche des Kindes. Art. 4 EHG ist bei mitwirkendem Verschulden Dritter nicht analog anwendbar, vielmehr bleibt der Bahnunternehmung nur der Rückgriff auf den mitschuldigen Dritten nach Art. 18 EHG vorbehalten. So verhält es sich auch dann, wenn der Dritte der Inhaber der elterlichen Gewalt über das verletzte Kind ist und dieses gesetzlich im Prozesse vertritt. Die gegenteilige Ansicht, wie sie in BGE 24 II 214 verfochten wurde (und durch VON TUHR, OR § 14 II am Ende, gebilligt wird), ist seither in einer Reihe von Entscheiden aufgegeben worden, im Einklang mit der vorherrschenden Literaturmeinung (wie in BGE 71 I 55 /56 ausführlich dargetan ist). Daran ist festzuhalten. Den sich aus der elterlichen Gewalt ergebenden Aufsichtspflichten ist freilich Rechnung zu tragen, aber nur bei Beurteilung der Frage, ob die Eltern (oder eines von ihnen) ein entscheidendes, den Kausalzusammenhang zwischen dem Bahnbetrieb und dem Unfall des Kindes unterbrechendes Verschulden treffe (oben Erw. 1). Ist dies aber, wie hier, zu verneinen, so hat es bei einem allfälligen Rückgriff der Bahnunternehmung auf die Eltern des verunfallten Kindes sein Bewenden. (Ob hier angesichts des eigenen Verschuldens der Bahnunternehmung Grund zu solchem Rückgriff vorliege, ist heute nicht zu entscheiden.) Nichts Abweichendes folgt daraus, dass die dem Kinde aus der Bahnhaftpflicht zukommenden Leistungen bis auf weiteres an die Eltern als gesetzliche Vertreter zu erbringen sind. Denn es handelt sich um Kindesvermögen,
BGE 81 II 159 S. 166
das seinem Zwecke nicht entfremdet und von den Eltern nicht zur Erfüllung eigener Schulden, insbesondere nicht bei einem Rückgriff der Bahnunternehmung auf sie, verwendet werden darf (vgl. die Art. 290ff. ZGB). Nur soweit Dritte, wie eben etwa die Eltern eines verunfallten Kindes, ihnen selbst zustehende Ansprüche aus der Bahnhaftpflicht erheben, müssen sie sich eine Herabsetzung ihrer Forderungen gefallen lassen, soweit sie dann der Bahnunternehmung gegenüber rückgriffspflichtig wären (BGE 34 II 582, BGE 57 II 433, BGE 60 II 224, 63 II 62; Urteil i.S. Sihltalbahn-Gesellschaft gegen Eheleute Frei vom 16. März 1944 Erw. 1c). Im vorliegenden Falle geht es aber ausschliesslich um Ansprüche des Kindes, dessen Vater demgemäss nur als gesetzlicher Vertreter, nicht auch in eigenem Namen klagt.

4. An die Heilungskosten von Fr. 310.20 (gemäss der Spitalrechnung) hat die Kantonale Krankenkasse Solothurn die Differenz von Fr. 231.70 bis auf den Selbstbehalt von Fr. 78.50 bezahlt. In jenem Betrag hat sie sich die Ansprüche der Klägerin aus Bahnhaftpflicht abtreten lassen; doch macht gleichwohl die Klägerin selbst diesen Betrag im Einverständnis mit der Kantonalen Krankenkasse im vorliegenden Prozesse geltend, um ihn der Krankenkasse alsdann zur Verfügung zu halten oder abzuliefern. Die kantonalen Gerichte haben der Klägerin an Heilungskosten nur den Selbstbehalt von Fr. 78.50 zugesprochen. Darüber hinaus sei sie nicht geschädigt. Im übrigen könne sich die Kantonale Krankenkasse mit der Bahnunternehmung über den von ihr aufgebrachten Differenzbetrag von Fr. 231.70 auseinandersetzen.
Indessen ist die Klage im ganzen Betrage der Heilungskosten von Fr. 310.20 zu schützen. Hätte man es mit einer privaten Krankenversicherung zu tun, so würde der Anspruch gegen die Bahnunternehmung ohnehin durch die Leistungen des Versicherers nicht berührt. Es hätte in diesem Falle das Prinzip der Anspruchskumulation Platz zu greifen, das die Personenversicherung im Gegensatz
BGE 81 II 159 S. 167
zur Schadensversicherung beherrscht (Art. 96 im Gegensatz zu Art. 72 VVG). Private Unfall- und Krankenversicherungen gehören unzweifelhaft zur Gattung der Personenversicherung. Umstritten ist freilich, ob der in solchen Verträgen vorgesehene Ersatz tatsächlicher Heilungskosten und auch etwa eines tatsächlichen Erwerbsausfalles an diesem Charakter teilhabe oder aber als Klausel besonderer Art mit dem Charakter einer Schadensversicherung zu betrachten sei. Das hätte zur Folge, dass insoweit Anspruchskonkurrenz gemäss Art. 72 VVG, ergänzt durch Art. 51 Abs. 2 OR, bestünde. Das Bundesgericht (I. Zivilabteilung) hat aber mehrmals, mit eingehender Begründung, im ersteren Sinne entschieden (BGE 63 II 152, BGE 70 II 230, BGE 73 II 39). Bei dieser Rechtsgrundlage könnte die Klägerin die ganzen Heilungskosten gemäss Art. 3 EHG geltend machen, ohne Rücksicht auf die Deckung eines Teils dieser Kosten durch einen Versicherer. Erst dadurch, dass sie einen Teil ihres Haftpflichtanspruchs hinsichtlich der Heilungskosten dem Versicherer abtrat, könnte sie dieses Rechtes verlustig gegangen sein. Die Abtretung an die Kantonale Krankenkasse hindert jedoch die Klägerin nicht, auch den betreffenden Teil des Haftpflichtanspruchs noch selber einzuklagen mit der Pflicht, einen den Selbstbehalt übersteigenden Betrag an die Krankenkasse abzuliefern, die dieses vom Anwalt der Klägerin vorgeschlagene Vorgehen gebilligt hat.
Gegenüber der (laut Nr. 8 der Klagebeilagen) bundesamtlich anerkannten Krankenkasse ist nun zwar Art. 96 VVG nicht anwendbar. Vielmehr greift die Regel von Art. 26 Abs. 2 KUVG ein, wonach die Kassen dafür zu sorgen haben, dass ihren Mitgliedern im Falle von Krankheit aus der Versicherung kein Gewinn erwächst. Das geschieht nach Art. 30 Ziff. 4 der Kassenstatuten in folgender Weise:
"Liegt bei Unfall eine Dritthaftpflicht vor, so gewährt die Kasse keine Leistungen. Bestreitet jedoch der Dritte die Haftpflicht, so
BGE 81 II 159 S. 168
kann die Kasse die ihr zukommenden Leistungen übernehmen, sofern das verunfallte Mitglied bzw. dessen gesetzlicher Vertreter der Kasse seinen Anspruch an den Dritthaftpflichtigen bis zur Höhe der von der Kasse gemachten Leistungen abtritt (Zession). Die Kasse behält sich diesfalls das Recht vor, gegen den Haftpflichtigen gerichtlich vorzugehen.
Trifft ein Mitglied mit einem leistungspflichtigen Dritten bezüglich eines der Kasse gemeldeten Unfallereignisses ohne vorherige Zustimmung der Zentralleitung ein Abkommen mit Verzicht auf weitere Ansprüche, so fällt der weitere Anspruch auch gegenüber der Kasse dahin."
Gestützt auf diese Klausel hat die Krankenkasse den Betrag von Fr. 231.70 nur wegen der Ablehnung der Haftpflicht durch die Beklagte und nur gegen Abtretung der entsprechenden Haftpflichtansprüche bezahlt. Es kann dahingestellt bleiben, ob solche Subsidiärklauseln (abweichend von Art. 51 Abs. 2 OR) auch dann massgebend sind, wenn der Dritte bloss aus Gesetzesvorschrift haftet. Hier ist jedenfalls gegen die Anwendung der Klausel nichts einzuwenden, da auch ein eigenes Verschulden der Bahnunternehmung vorliegt (vgl. DUTTWYLER, Die Heilungskostenansprüche an den privaten Unfallversicherer, an Dritte und an anerkannte Krankenkassen, S. 88ff.). Unter diesen Umständen wäre es in der Tat nicht gerechtfertigt, die Bahnunternehmung zu entlasten. Und, wie bereits ausgeführt, hindert die Abtretung an die Krankenkasse die Klägerin nicht, im Einverständnis mit jener diesen Betrag noch selber einzuklagen, um ihn dann der Kasse abzuliefern. Da sich die Zedentin und die Zessionarin in diesem Sinne verständigt haben, läuft die Beklagte keine Gefahr, von der Kasse auch noch belangt zu werden.

5. Als Ersatz für die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit fordert die Klägerin nach wie vor eine Summe von Fr. 13 608.--, d.h. den Barwert einer Rente entsprechend einer Erwerbseinbusse von 20% bei Annahme eines Monatsverdienstes von Fr. 350.-- mit Beginn der Erwerbstätigkeit nach dem zurückgelegten 16. Altersjahr. Indessen ist den kantonalen Gerichten darin beizustimmen, dass eine Rente die geeignetere Form des Schadenersatzes
BGE 81 II 159 S. 169
ist. Damit wird bewirkt, dass die Klägerin vom Beginn ihrer Erwerbstätigkeit an monatlich über die Rente als Zusatz zum Lohne verfügen kann, wann sie die Rente zum Ausgleich des zu erwartenden Mindererwerbes wirklich braucht. In der Begründung der Anschlussberufung wird anerkannt, dass es nach Art. 9 EHG eine Frage des Ermessens ist, ob eine Kapitalabfindung oder eine Rente zuzusprechen sei. Indessen sei eine Kapitalabfindung zweckmässiger, da sich daraus die Kosten der von Dr. Richner empfohlenen Nachbehandlung begleichen liessen und man der Klägerin eine ihrer körperlichen Beeinträchtigung Rechnung tragende bessere Ausbildung verschaffen könnte. Allein die für verminderte Erwerbsmöglichkeit bestimmte Entschädigung hat nicht für eine allfällige Nachbehandlung zu dienen. Ist eine solche angezeigt, so wird die Klägerin gestützt auf den Rektifikationsvorbehalt die dafür aufzuwendenden Kosten nachträglich als unfallbedingt geltend machen können. Und was die Frage nach einer bessern Ausbildung betrifft, ist nicht einzusehen, worin eine solche bestehen könnte. Es hat somit bei der Entschädigung in Form einer Rente zu bleiben, die der Klägerin nur und erst auszurichten sein wird, wenn sie das 16. Lebensjahr erreicht, und die ihr dann aber auch wirklich Monat für Monat zur Verfügung stehen und den Erwerbsausfall ausgleichen wird, während nicht sichere Gewähr dafür bestünde, dass eine Kapitalentschädigung sicher für sie (insbesondere bei einer Rentenanstalt) angelegt würde.
Die Höhe der Rente ist vom Obergericht auf Grund einer für das Bundesgericht verbindlichen Tatsachenwürdigung bestimmt worden (vgl. BGE 72 II 205). Das angefochtene Urteil berücksichtigt einmal die durch das Gutachten festgestellten Unfallfolgen, sodann die vermutlichen Verdienstverhältnisse einer Fabrikarbeiterin, von welcher voraussichtlichen Betätigung die Klage selbst ausgeht. Dem Urteil liegt die Annahme einer Invalidität von 20% zugrunde (gegenüber 20-30% nach dem Gutachten),
BGE 81 II 159 S. 170
was die Klägerschaft nicht anficht. Rechtlich ist die Bemessung der Rente nicht zu beanstanden.

6. Da die Bahnunternehmung entgegen der Annahme des Obergerichts ein Verschulden trifft (Erw. 2), kann der Klägerin nach Art. 8 EHG eine angemessene Geldsumme als sogenannte Genugtuung zugesprochen werden. Das Verschulden braucht kein grobes zu sein, wenn nur die besondern Umstände des Falles die Zusprechung einer Genugtuung rechtfertigen (BGE 39 II 319). Das trifft hier zu. Die Klägerin ist infolge des Unfalles kosmetisch entstellt und schielt auf dem linken Auge, was sie als Mädchen dauernd empfinden wird. Ferner erleidet sie durch die praktisch fast völlige Einbusse der Sehkraft des linken Auges eine ziemlich schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit. Unter diesen Umständen gebührt ihr eine Genugtuung. Der geforderte Betrag von Fr. 2000.--, den auch die erste Instanz zugesprochen hat, erscheint als angemessen.

7. Die Verzinsung der zu sprechenden Beträge und der für beide Parteien geltende Rektifikationsvorbehalt im Sinne von Art. 10 Abs. 1 und 2 EHG sind im Berufungsverfahren nicht angefochten worden.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
In teilweiser Gutheissung der Anschlussberufung wird das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 27. Oktober 1954 dahin abgeändert, dass der Klägerin statt Fr. 78.50 an Heilungskosten Fr. 310.20 nebst Zins zu 5% seit 10. April 1952 sowie eine Genugtuungssumme von Fr. 2000.-- nebst Zins zu 5% seit demselben Datum zugesprochen werden, die Genugtuung unter Rektifikationsvorbehalt gemäss Art. 10 EHG.
Im übrigen werden Berufung und Anschlussberufung abgewiesen.

Inhalt

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5 6 7

Dispositiv

Referenzen

Artikel: Art. 10 EHG, Art. 72 VVG, Art. 51 Abs. 2 OR, Art. 1 EHG mehr...