59. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Oktober 1955 i.S. Suter gegen Kolpin.
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Regeste
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1. Art. 25 Abs. 1, 27 Abs. 1 MFG. Angemessene Geschwindigkeit eines Motorradfahrers innerorts an Strassenkreuzung. Hat der Führer wegen eines ihm entgegenkommenden und nach links abbiegenden Fahrzeuges die Fahrt zu verzögern?
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Sachverhalt
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BGE 81 II 385 (386):
A.- Willy Suter führte am Vormittag des 12. November 1952 seinen Personenwagen aus der Richtung Bremgarten durch die Zentralstrasse in Wohlen (Aargau) in die nach links abzweigende Bahnhofstrasse. Er nahm die Biegung kurz, ohne durch die Verhältnisse dazu gezwungen zu sein, und war ausserdem so unaufmerksam, dass er den von Lenzburg her auf der Zentralstrasse gleichzeitig an der Einmündung der Bahnhofstrasse eintreffenden Motorradfahrer Erich Kolpin erst aus 2 m Entfernung bemerkte, obschon die Sicht in der Richtung gegen Lenzburg 150 m weit frei war. Da Suter ihm den Vortritt nicht mehr zu lassen vermochte, fuhr Kolpin in die rechte Seite des Personenwagens und wurde so schwer verletzt, dass er am gleichen Tage starb.
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B.- Otto und Marie Kolpin, Eltern des Verunfallten, sowie dessen Bruder Marc Kolpin klagten gegen Suter auf Ersatz des Schadens und Leistung von Genugtuung.
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Das Bezirksgericht Bremgarten verurteilte den Beklagten nach Abzug anbezahlter Fr. 15'000.-- zur Bezahlung von Fr. 500.-- für Sachschaden und Fr. 11, 732.-- für Versorgerschaden an Otto und Marie Kolpin sowie zur Leistung von Fr. 1500.-- als Genugtuung an alle drei Kläger zusammen, alles nebst Zins.
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Auf Appellation der Kläger und des Beklagten sprach das Obergericht des Kantons Aargau Otto und Marie Kolpin am 24. Juni 1955 für Versorgerschaden Fr. 10'288.-- nebst Zins zu und bestätigte in den übrigen Punkten das Urteil des Bezirksgerichts. Wie dieses ging es davon aus, dass der Beklagte den Unfall allein verschuldet habe.
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C.- Der Beklagte beantragt auf dem Wege der Berufung, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und die BGE 81 II 385 (387):
Klage insoweit abzuweisen, als die kantonalen Instanzen sie gutgeheissen haben.
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D.- Otto Kolpin ist am 26. Juli 1955 gestorben und von Marie und Marc Kolpin beerbt worden. Deren bevollmächtigter Vertreter hat am 7. Oktober 1955 erklärt, die Kläger liessen die Genugtuungsforderung des Marc Kolpin von restanzlich Fr. 500.-- fallen, womit die ihnen als Genugtuung zugesprochene Summe von Fr. 1500.-- sich auf Fr. 1000.-- ermässige. Im übrigen beantragen die Kläger, die Berufung sei abzuweisen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1. Der Beklagte macht geltend, Erich Kolpin habe den Unfall zu 20-25% mitverschuldet, indem er zu schnell gefahren sei. Das ergebe sich einmal daraus, dass er trotz freier Sicht unabgebremst an den Personenwagen gefahren sei, also das Motorrad nicht beherrscht habe; hätte er gebremst, so wäre der Wagen nicht durch den Zusammenstoss um 0,5 m seitwärts verschoben worden. Sodann sei die Geschwindigkeit des Motorrades den Verkehrsverhältnissen nicht angepasst gewesen. Da der Beklagte den Richtungsanzeiger lange vor dem Abschwenken in die deutlich als Abzweigung markierte Bahnhofstrasse nach links gestellt habe und die Strasse übersichtlich sei, habe Kolpin seine Absicht früh erkennen müssen. Das hätte ihn veranlassen sollen, die Geschwindigkeit herabzusetzen. Auch das Abschwenken selber hätte ihn dazu bewegen sollen. Kolpin habe den Vortritt nicht erzwingen dürfen in der klaren Voraussicht, dass er mit dem Personenwagen zusammenstossen würde. Der Beklagte habe keine Möglichkeit mehr gehabt, auszuweichen, während Kolpin das hätte tun und die Fahrt hätte verlangsamen können.
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Dass Kolpin der Vorwurf zu schnellen Fahrens auch hätte gemacht werden müssen, wenn der Beklagte nicht erschienen wäre, behauptet dieser mit Recht nicht. Das Obergericht gibt zwar die Geschwindigkeit des Motorradfahrers nicht ziffermässig an, führt aber aus, nach der BGE 81 II 385 (388):
Aussage des erst im Zivilverfahren einvernommenen Zeugen Notter habe sie sich nicht an der oberen Grenzen des Zulässigen bewegt, wie der Strafrichter angenommen habe, sondern sei erheblich niedriger gewesen. Das Bezirksgericht als Strafgericht stützte die Vermutung, die Geschwindigkeit Kolpins habe an der oberen Grenze des Zulässigen gelegen, auf die Aussage des Zeugen Dreier, der sie auf 60-70 km /h schätzte; folgerichtig kann das Obergericht somit zulasten des Motorradfahrers höchstens eine Geschwindigkeit von 50 km /h, wenn nicht sogar nur die vom Bezirksgericht als erste Zivilinstanz angenommene Geschwindigkeit von nicht über 40 km /h feststellen wollen. 50 km /h aber waren für einen Motorradfahrer auf der gut ausgebauten Zentralstrasse in Wohlen trotz der Annäherung an die Einmündung der Bahnhofstrasse nicht unangemessen hoch.
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Unter diesen Umständen kann dem Motorradfahrer auch nicht vorgeworfen werden, er sei im Hinblick auf das Erscheinen und Verhalten des Beklagten und das Gebot des ständigen Beherrschens des Fahrzeuges (Art. 25 Abs. 1 MFG) zu schnell gefahren. Dieses Gebot ist nicht jedesmal verletzt, wenn der Führer die Gefahr eines Zusammenstosses nicht durch sofortiges Anhalten zu bannen vermag. Ja selbst die Behauptung des Beklagten, Kolpin habe vor dem Zusammenstoss nicht einmal gebremst, begründet den Vorwurf des Nichtbeherrschens seines Fahrzeuges nicht. Dieser Vorwurf wäre Kolpin nur zu machen, wenn er die Gefahr eines Zusammenstosses so frühzeitig hätte erkennen können, dass er durch Verzögerung der Fahrt den Zusammenstoss hätte vermeiden oder mildern können. Das wird vom Obergericht verneint, indem es ausführt, der Motorradfahrer habe mit der Beobachtung seines Vortrittsrechts durch den sehr langsam fahrenden Beklagten rechnen dürfen. Diese Feststellung bindet das Bundesgericht, denn sie beruht nicht auf einer Verkennung der Sorgfaltspflichten des Motorradfahrers. Die Tatsache allein, dass der Beklagte den Richtungsanzeiger nach links gestellt hatte, BGE 81 II 385 (389):
liess einen Zusammenstoss nicht voraussehen; sie zeigte nur an, dass er in die Bahnhofstrasse einzufahren beabsichtigte, nicht auch, dass er entgegen Art. 26 Abs. 2 MFG die Biegung kurz nehmen und in Verletzung des Art. 47 MFV vor, statt hinter dem Motorrad durchfahren wollte. Nicht einmal der Beginn des Abbiegens selbst liess auf vorschriftswidriges Verhalten des Beklagten schliessen. Da dieser, wie das Obergericht feststellt, sehr langsam fuhr (nach seiner eigenen Aussage etwa mit 20 km /h), durfte Kolpin immer noch annehmen, der Beklagte werde ihm den Vortritt lassen. Dass ersterer die Unaufmerksamkeit des Beklagten an andern Umständen als an der Fahrweise hätte erkennen sollen, wird nicht behauptet. Berücksichtigt man ferner, dass der Motorradfahrer bei einer Geschwindigkeit von 50 km /h in der üblichen Reaktionszeit von einer Sekunde etwa 14 m zurücklegte, so kann ihm auch mit der Behauptung, er habe weder gebremst, noch auszuweichen versucht, kein Vorwurf gemacht werden. Als er wahrnehmen konnte, dass ihm der Beklagte durch zu enges Befahren der Biegung und durch gröbliche Missachtung des Art. 47 MFV den Weg abschneide, war er dem Motorwagen schon so nahe, dass zur Abwehr nicht genügend Zeit blieb.
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Die Rüge des Beklagten, die Genugtuung für Otto Kolpin falle weg, weil dieser am 26. Juli 1955 gestorben sei, hält nicht stand. Genugtuungsansprüche sind nicht schlechthin unvererblich. Sogar solche aus Verlöbnisbruch, die das Gesetz doch als höchstpersönlich erachtet und daher als unübertragbar erklärt, gehen auf die Erben über, sobald sie eingeklagt sind, da sie dadurch zu gewöhnlichen Forderungen werden (Art. 93 Abs. 2 ZGB;BGE 41 II 339). Umsoweniger können eingeklagte Genugtuungsansprüche BGE 81 II 385 (390):
aus unerlaubter Handlung und Haftung als Halter eines Motorfahrzeuges, deren Übertragbarkeit die Rechtsprechung bejaht (BGE 63 II 157ff.), unvererblich sein. Sie gehen sogar schon vor der Anhebung der Klage auf die Erben über, wenn der Berechtigte sie irgendwie geltend gemacht hat (BGE 13. Juni 1903 i.S. Justice gegen Barral). Der Genugtuungsanspruch des Otto Kolpin hat sich daher auf die beiden anderen Kläger vererbt.
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Dass die Genugtuung für Otto Kolpin zu hoch bemessen worden sei, macht der Beklagte mit Recht nicht geltend. Wie für die Bemessung des Anspruches der Marie Kolpin, den er für übersetzt hält, war zu berücksichtigen, dass das Verschulden des Beklagten schwer ist und ein Mitverschulden des Getöteten fehlt. Die Eheleute Kolpin sind durch den plötzlichen Verlust ihres zweiundzwanzigjährigen Sohnes, der ledig war und die Verbindung mit den Eltern noch nicht stark gelockert hatte, schwer getroffen worden, zumal sie nur zwei Nachkommen hatten. Ein Vergleich mitBGE 66 II 221, wo eine an Eltern zugesprochene Genugtuung von je Fr. 2500.-- als hoch bezeichnet wurde, hilft dem Beklagten schon wegen der seither eingetretenen Geldentwertung nicht. Die Beträge, welche die kantonalen Instanzen den Eltern Kolpin zuerkannt haben, bleiben im Rahmen des Ermessens und widersprechen somit dem Art. 42 MFG nicht.
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