84 II 409
Urteilskopf
84 II 409
54. Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. September 1958 i.S. Eheleute L.
Regeste
Ehescheidung nach Trennung.
Alleinschuld des Klägers (Art. 148 Abs. 1 ZGB).
Verweigerung der Wiedervereinigung durch die Beklagte? (Art. 148 Abs. 2 ZGB).
A.- Die seit 1946 verheirateten Eheleute L. wohnten anfänglich bei der Mutter der Ehefrau in Lyss. Der Ehemann, der früher Karrer gewesen war und um die Zeit der Heirat eine Anstellung bei den SBB erhalten hatte, arbeitete zunächst in Biel. 1948 wurde er nach Basel, 1949 nach Solothurn versetzt, während die Ehefrau vorläufig in Lyss blieb. Erst im Dezember 1950 fand der Ehemann in Solothurn eine Wohnung für seine Familie. Nach der Geburt des zweiten Kindes (1951) trat bei der Ehefrau ein Unterleibsleiden (Weissfluss) auf.
Infolge ehelicher Streitigkeiten, die nach der eigenen Darstellung des Ehemanns ihren Anfang nahmen, als er ohne besondern Grund sein Geld einzuschliessen begann, suchte sich die Ehefrau im November 1951 mit Gas das Leben zu nehmen. Der Ehemann reagierte mit Schlägen. Am 1. März 1952 wiederholte die Ehefrau ihren Versuch.
B.- Am 24. März 1952 leitete der Ehemann beim Amtsgericht Solothurn-Lebern Scheidungsklage ein. Am 3. April 1952 misshandelte er seine Ehefrau bei einer Auseinandersetzung über finanzielle Dinge in der Weise,
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dass sie eine Körperverletzung erlitt. Am 8. April 1952 liess sie ihm deshalb das Betreten der ehelichen Wohnung gerichtlich verbieten. Am 4. Juni 1952 wurde er auf ihren Antrag wegen Körperverletzung zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 14 Tagen und zu einer Busse von Fr. 150.-- verurteilt. Am 19. Dezember 1952 fand die Hauptverhandlung im Scheidungsprozess statt. Dabei erhob die Ehefrau Widerklage auf Trennung der Ehe für unbestimmte Zeit, während der Ehemann seine Scheidungsklage wegen Aussichtslosigkeit zurückzog. Am 22. Mai 1953 trennte das Amtsgericht Solothurn-Lebern die Ehe der Parteien gemäss dem Begehren der Ehefrau wegen schwerer Missshandlung (Art. 138 ZGB) für unbestimmte Zeit, sprach die Kinder unter vormundschaftlicher Aufsicht der Ehefrau zu und verpflichtete den Ehemann, Unterhaltsbeiträge für die beiden Kinder und für die Ehefrau von je Fr. 100.-- pro Monat zu bezahlen. Der Ehemann zog dieses Urteil an das Obergericht des Kantons Solothurn weiter mit dem Antrag auf Abweisung der Trennungsklage. Nachdem sein Armenrechtsgesuch u.a. wegen grundloser Prozessführung abgewiesen und der ihm auferlegte Kostenvorschuss nicht geleistet worden war, trat das Obergericht am 9. November 1953 auf seine Appellation nicht ein und stellte fest, dass das Urteil des Amtsgerichtes in Rechtskraft erwachsen sei.
C.- Ende Februar 1954 verliess der Ehemann seine Stelle bei den SBB, wo er gemäss einem Polizeibericht vom 5. Juli 1954 zuletzt monatlich netto Fr. 610.-- nebst Fr. 54.- Teuerungszulage verdient hatte, wovon seit September 1953 jeweilen die Unterhaltsbeiträge von Fr. 300.-- abgezogen worden waren. Bei seinem Austritt zahlte ihm die Pensionskasse Fr. 3475.80 aus. Von Mitte März bis Ende Juli 1954 arbeitete er gegen einen Monatslohn von Fr. 210.-- nebst Kost und Logis als Milchführer in Schaffhausen. Hierauf begab er sich nach Frankreich, wo er eine Stelle als Karrer bei einem Landwirt annahm, der ihn mit 10 000 französischen Franken (= ca. Fr. 100.--)
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nebst Kost und Logis entlöhnte. Die ihm auferlegten Unterhaltsbeiträge leistete er seit seinem Austritt bei den SBB nicht mehr. Darum verurteilte ihn das Amtsgericht Solothurn-Lebern am 22. September 1954 wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflichten zu einem Monat Gefängnis.
D.- Am 18. Dezember 1956 reichte der Ehemann von Frankreich aus beim Amtsgericht Aarberg als dem für seinen Heimatort zuständigen Gericht (Art. 7 g NAG) Klage auf Scheidung ein. Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage. Nach der Hauptverhandlung vom 28. Mai 1957 wurde er zwecks Vollzugs der gegen ihn ausgesprochenen Strafen verhaftet. Am 17. Juni 1957 erkannte das Amtsgericht Aarberg in Anwendung von Art. 142 und 148 ZGB auf Scheidung der Ehe. Der Appellationshof des Kantons Bern (II. Zivilkammer), an den die Beklagte appellierte, hat dieses Urteil am 20. März 1958 gestützt auf Art. 148 ZGB bestätigt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Sind drei Jahre vergangen, seitdem die Ehe für unbestimmte Zeit getrennt wurde, und ist keine Wiedervereinigung erfolgt, so muss nach Art. 148 Abs. 1 ZGB die Scheidung ausgesprochen werden, auch wenn nur ein Ehegatte sie verlangt, es sei denn, dass sie auf Tatsachen gegründet werde, die ausschliesslich den nunmehr die Scheidung verlangenden Ehegatten als schuldig erscheinen lassen. Die Scheidung ist indessen nach Art. 148 Abs. 2 auch in diesem Fall auszusprechen, wenn der andere Ehegatte die Wiedervereinigung verweigert.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes, die neu zu überprüfen die (damit im Einklang stehenden) Erwägungen der Vorinstanz und die (ebenfalls keine andere Auffassung verfechtenden) Vorbringen der Parteien nicht Anlass geben, kann dem nach vorausgegangener Trennung
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auf Scheidung beklagten Ehegatten nicht vorgeworfen werden, er verweigere im Sinne von Art. 148 Abs. 2 ZGB die Wiedervereinigung, wenn der klagende Ehegatte diese überhaupt nicht oder nicht ernstlich verlangt (BGE 52 II 184ff.). So verhält es sich hier. Wie die Vorinstanz auf Grund der vom Kläger im vorliegenden Prozess abgegebenen Erklärungen festgestellt hat, lehnt dieser heute eine Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschft mit aller Schärfe ab. Unter diesen Umständen ist nicht als bundesrechtswidrig zu beanstanden, dass die Vorinstanz gefunden hat, der Kläger könne sich zur Begründung seines Scheidungsanspruchs nicht auf Art. 148 Abs. 2 ZGB berufen, obwohl sich die Beklagte bei ihrer gerichtlichen Befragung nur unter gewissen, nachBGE 52 II 185kaum zulässigen Bedingungen zur Wiedervereinigung bereit erklärte und die Vorinstanz den Eindruck gewann, die Rückkehr des Mannes entspreche kaum ihrem wahren Willen. Vielmehr ist mit der Vorinstanz anzunehmen, der Prozessausgang hänge einzig davon ab, ob der Kläger im Sinne von Art. 148 Abs. 1 ZGB alleinschuldig sei oder nicht.
2. Den Kläger, der durch Schikanen in Geldsachen den Ausbruch von Streitigkeiten in der nach seinem Zugeständnis anfänglich ziemlich gut verlaufenen Ehe verursachte, die Beklagte bei diesen Streitigkeiten schwer misshandelte und in der Folge seine sichere Stelle bei den SBB aufgab und seine Familie im Stich liess, trifft zweifellos ein sehr schweres Verschulden an der Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses. Gleichwohl könnte der Kläger nach Art. 148 Abs. 1 ZGB die Scheidung verlangen, wenn Fehler der Beklagten oder objektive (keiner Partei zum Verschulden gereichende) Umstände in mehr als nur ganz geringfügigem, neben seinem Verschulden praktisch ausser Betracht fallendem Masse zur Zerrüttung beigetragen hätten (BGE 74 II 3ff.). Diese Voraussetzung ist jedoch nicht erfüllt.
a) Wie die Vorinstanz mit Recht annimmt, ist der Beklagten nicht zum Verschulden anzurechnen, dass sie den
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Kläger wegen der - kurz nach Einleitung der Scheidungsklage durch ihn erfolgten - Körperverletzung und später wegen der Nichtleistung der ihm bei der Trennung auferlegten Unterhaltsbeiträge strafrechtlich zur Verantwortung zog. Sie war dabei im Recht. Das Verhalten des Klägers gab ihr allen Anlass, sich mit scharfen Massnahmen zu wehren.b) Die Beklagte handelte auch nicht schuldhaft, indem sie dem Kläger die Tür wies, als er sie 1953 einmal besuchen wollte, um mit ihr zu sprechen. Damals war der erste Prozess noch hängig. Zudem stand die Beklagte damals ohne Zweifel noch unter dem Eindruck der schweren Misshandlung vom 3. April 1952. Es ist daher sehr wohl begreiflich, dass sie auf dem gerichtlichen Hausverbot beharrte, das sie erwirkt hatte, um sich vor weitern derartigen Angriffen zu schützen.
c) Dass sie in der Folge nicht die Initiative zu einer Versöhnung ergriff, kann ihr entgegen der Auffassung der Vorinstanz ebenfalls nicht zum Vorwurf gemacht werden. Nach allem, was vorgefallen war, durfte der Kläger von ihr ein Entgegenkommen nicht erwarten, bevor er selber seinen guten Willen bekundete. Dies tat er nicht. Im Gegenteil belud er sich bald nach der rechtskräftigen Erledigung des ersten Prozesses mit neuer Schuld, indem er seine sichere und auskömmliche Stelle bei den SBB aufgab und sich damit ausserstand setzte, die Unterhaltsbeiträge für Frau und Kinder zu leisten, so dass die Beklagte gezwungen war, um öffentliche Unterstützung nachzusuchen. Unter diesen Umständen darf die Zurückhaltung der Beklagten nicht als Zeichen für Hartherzigkeit, Gefühlskälte, Lieblosigkeit und Selbstgerechtigkeit gewürdigt werden. Ebensowenig wird dieser Vorwurf durch die Tatsache gerechtfertigt, dass sie dem Kläger, als er sie einmal misshandelte, ins Gesicht spuckte und vor Amtsgericht Aarberg erklärte, wenn sie die Kraft gehabt hätte, hätte der Kläger auch von ihr Schläge bekommen; dass sie ihn nur angespuckt habe, sei das Mindeste gewesen. Die groben
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Misshandlungen des Klägers einfach ohne Gegenwehr über sich ergehen zu lassen, war ihr nicht zuzumuten, und es ist ihr auch nicht zu verdenken, dass sie offen bekannte, sie hätte sich gern wirksamer gewehrt, als es ihr möglich war.d) Dass die Parteien nach zweijähriger Dauer der Ehe infolge der Versetzung des Klägers nach Basel und Solothurn fast zwei Jahre lang getrennt leben mussten, kann entgegen dem angefochtenen Urteil nicht als praktisch ins Gewicht fallender objektiver Zerrüttungsfaktor anerkannt werden. Solche vorübergehende Trennungen aus äussern Gründen sind gerade beim gegenwärtigen Wohnungsmangel häufig und müssen von den Ehegatten wie andere unangenehme Ereignisse hingenommen werden. Im übrigen hatte der Kläger die Möglichkeit, seine freien Tage bei seiner Frau zu verbringen, da er als Bahnangestellter billig reisen konnte und die Fahrt nach Lyss von Basel aus nur ca. 11/2 Stunden, von Solothurn aus gar nur eine gute halbe Stunde dauert. Man hat es hier also mit ganz andern Verhältnissen zu tun als in dem vom Kläger erwähnten Falle P. (Urteil vom 7. November 1957), wo die Parteien wegen des Berufs des Ehemannes fast ständig getrennt leben mussten.
e) Vom Unterleibsleiden der Beklagten war im ersten Prozess überhaupt nicht die Rede. Dies hinderte den Kläger nach der Rechtsprechung (BGE 71 II 201ff.,BGE 74 II 6) freilich nicht, sich im vorliegenden Prozess darauf zu berufen. Bei seinem Vorbringen, das erwähnte (von der Beklagten an sich zugegebene) Leiden habe ihn oft angeekelt, handelt es sich jedoch um eine blosse Behauptung. Es ist schwer erklärlich, dass er diese Sache nicht schon im ersten Verfahren vorbrachte, wenn er ihr wirklich wesentliche Bedeutung beimass. Hievon abgesehen ist zu sagen, dass unverschuldete körperliche Krankheiten in aller Regel nicht als Scheidungsgrund angerufen werden können (vgl.BGE 50 II 428) und dass im vorliegenden Falle von diesem Grundsatz um so weniger eine Ausnahme gemacht werden darf, als es sich um ein häufiges und an sich harmloses
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Leiden handelte, das zudem nach der Darstellung der Beklagten unter dem Einfluss ärztlicher Behandlung mit der Zeit zurückging.f) Die beiden Selbstmordversuche können der Beklagten nicht zum Verschulden angerechnet werden, auch wenn sie dabei nicht nur sich selber, sondern auch die in der Wohnung anwesenden Kinder in Gefahr brachte. Sie erklären sich offensichtlich daraus, dass die Beklagte wegen der schlechten Behandlung durch den Kläger in eine völlig verzweifelte Stimmung geraten war, die jede vernünftige Überlegung ausschloss. In Hinblick darauf, dass sie eine Reaktion auf das grob schuldhafte Verhalten des Klägers bildeten, dürfen sie auch nicht als objektive Zerrüttungsfaktoren gewürdigt werden, die neben dem Verschulden des Klägers zu berücksichtigen wären.
g) Andere Zerrüttungsmomente werden heute nicht mehr angerufen. Insbesondere hat sich die in der Klage aufgestellte Behauptung, dass die Beklagte den Kläger bei den SBB angeschwärzt habe, nicht bewahrheitet.
Die Klage ist daher wegen Alleinschuld des Klägers abzuweisen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Scheidungsklage abgewiesen.
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