BGE 84 II 515
 
71. Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. November 1958 i.S. Samag Aktiengesellschaft gegen Marti.
 
Regeste
1. Art. 23, 197 OR. Der Käufer hat die Wahl, sich auf die Normen über die Gewährleistung wegen Mängel der Kaufsache zu berufen oder den Vertrag wegen Irrtums als unverbindlich zu erklären.
 
Sachverhalt


BGE 84 II 515 (515):

A.- Die Aktiengesellschaft Samag verkauft Maschinen zur chemischen Reinigung von Kleidern und richtet auch ganze Reinigungsanlagen ein. Um für ihre Erzeugnisse Käufer zu werben, liess sie im Januar 1954 unter chiffrierter Adresse in der Zeitung ein Inserat erscheinen, in dem sie was folgt anpries:
"Selbständige Existenz durch Gründung eines absolut interessanten und ausbaufähigen Geschäftes. Besonders geeignet für Ehepaar. Krisenfrei und nicht von Konjunktur abhängig. Absolut seriöses Angebot. Notwendiges Kapital ca. 15'000 bis 20'000 Fr."
Edgar Marti, der mehr als 25 Jahre lang in einer Zürcher Firma als kaufmännischer Angestellter gearrbeitet hatte, meldete sich. Die Samag gab ihm an, er bedürfe einer

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Lehrzeit von zehn bis vierzehn Tagen, um mit ihrer Anlage ein Geschäft für Kleiderreinigung führen zu können. Sie übergab ihm Prospekte, maschinengeschriebene "technische Daten", eine als "Annahme" bezeichnete Rentabilitätsrechnung und verschiedene Blätter mit zusätzlichen Angaben. Die Rentabilitätsrechnung ging davon aus, dass mit einer Samag-Anlage in 300 Arbeitstagen bei täglich achtmaliger Beladung der Maschine mit je 6 kg Kleidern Fr. 50'400.-- Roheinnahmen erzielt werden könnten und dem Geschäftsinhaber nach Abzug der im einzelnen angegebenen und bezifferten Unkosten von zusammen Fr. 21'800.-- ein ungefährer Überschuss von Fr. 28'600.-- als Verdienst verbleibe. Marti verliess sich auf die Angaben und kaufte anfangs Februar 1954 zum Preis von Fr. 23'610.-- nebst 4% Warenumsatzsteuer eine Ende März 1954 zu liefernde vollständige Samag-Anlage für chemische Textilreinigung. Er zahlte Fr. 9000.-- bei Vertragsabschluss an und verpflichtete sich, im Zeitpunkt der Lieferbereitschaft weitere Fr. 9000.-- und binnen vier Monaten nach der Lieferung ratenweise den Rest von Fr. 5610.-- und die Warenumsatzsteuer von Fr. 944.40 zu leisten.
Am 15. März 1954 liess Marti der Verkäuferin erklären, dass er den Vertrag gestützt auf Art. 23 ff. OR anfechte.
B.- Am 18. Mai 1954 klagte Marti gegen die Aktiengesellschaft Samag mit dem Begehren auf Rückerstattung der anbezahlten Fr. 9000.-- nebst Zins zu 5% seit 4. Februar 1954.
Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage ab, das Obergericht des Kantons Zürich als Appellationsinstanz hiess sie dagegen am 11. Februar 1958 in vollem Umfange gut, weil der Kläger den Kaufvertrag unter dem Einflusse wesentlichen Irrtums abgeschlossen habe. Das Obergericht kam zum Schluss, der Kläger habe sich insofern geirrt, als entgegen der Verheissung im Inserat zur vollständigen und schuldenfreien Einrichtung des Reinigungsgeschäftes Fr. 30'000.-- bis 40'000.-- nötig seien. Ferner sei die von

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der Klägerin angegebene Lehrzeit ganz ungenügend, wenn der Betrieb nicht von einem erfahrenen Facharbeiter eröffnet werde; ein Unerfahrener bedürfe nach der Auffassung des Sachverständigen Manz einer Lehrzeit von drei Jahren und nach dem Gutachten Meiers einer solchen von zwei bis drei Jahren, ja für die Ausbildung zum Detacheur und Bügler sogar einer solchen von vier bis sechs Jahren. Der Kläger sei auch durch die von der Beklagten vorgelegte Rentabilitätsrechnung irregeführt worden. Der Kläger habe zwar erkennen können, dass die Beklagte mit der Angabe von 300 Arbeitstagen keine Ferien berücksichtige, dagegen habe er nicht gewusst, dass es im Reinigungsgeschäft flaue Monate gebe, so dass nur für 250 bis 270 Tage Arbeit vorhanden sei. Auch könnten in die Trommel der Reinigungsmaschine gleichzeitig nicht 6 kg, sondern durchschnittlich nur 4 kg Kleider eingefüllt werden. Schon allein wegen geringerer Lademöglichkeit seien daher die Einnahmen um etwa einen Drittel geringer, als in der Rentabilitätsberechnung angegeben wurde. Noch mehr weiche die Wirklichkeit von den Angaben der Beklagten ab, wenn von dem im Kaufvertrage zugesicherten Ladegewicht von 6-8 kg ausgegangen werde. Wenn man die Rentabilitätsberechnung berichtige, vermindere sich der angegebene Jahresverdienst von Fr. 28'600.-- nach dem Gutachten Manz auf rund Fr. 3500.-- und nach dem Gutachten Meier auf etwa Fr. 6000.--.
C.- Die Beklagte hat die Berufung erklärt. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt Abweisung der Berufung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Das Bundesgericht hat stets entschieden, dass der Käufer die Wahl hat, sich auf die Bestimmungen über die Gewährleistung wegen Mängel der Kaufsache zu berufen oder den Kaufvertrag wegen Irrtums als unverbindlich

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zu erklären (BGE 82 II 240 ff. und dort angeführte Urteile, ferner BGE 83 II 21). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Wie sehr sie gerechtfertigt ist, zeigt gerade der vorliegende Fall. Um Mängelrüge erheben und Wandelung des Kaufes verlangen zu können (Art. 201, 205 OR), müsste der Kläger der Beklagten nochmals Fr. 9000.-- zahlen, die Anlage in Empfang nehmen und einrichten und die zu ihrem Betriebe erforderlichen weiteren Vorkehren treffen, z.B. für Ableitung der Gase gemäss bau- und gesundheitspolizeilichen Vorschriften sorgen. Anfechtung des Vertrages nach Art. 23 ff. OR macht dieses kostspielige Vorgehen überflüssig; denn der Käufer kann sich auf seinen Irrtum berufen, bevor er die Kaufsache in Empfang genommen und geprüft hat. Es liegt im Interesse beider Parteien, dass diese unnütze Weiterung unterbleibe.
Geht man davon aus, dass der Kläger nach einer Lehrzeit von nur zehn bis vierzehn Tagen das Geschäft nicht erfolgreich hätte führen können, sondern dazu einer Ausbildung von mindestens zwei bis drei Jahren bedurft hätte, so war der Irrtum, in den ihn die Beklagte durch ihre unrichtige Angabe versetzt hat, wesentlich im Sinne des Art. 23 OR. Gewiss betraf dieser Irrtum einen Beweggrund

BGE 84 II 515 (519):

zum Vertragsabschluss. Art. 24 Abs. 2 OR, wonach der Irrtum nicht wesentlich ist, wenn er sich nur auf den Beweggrund bezieht, kennt jedoch in Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR eine Ausnahme (BGE 48 II 238,BGE 53 II 38, 139,BGE 56 II 427). Nach dieser Bestimmung ist nicht gebunden, wer sich über einen bestimmten Sachverhalt geirrt hat, der ihm notwendige Grundlage des Vertrages war und bei objektiver Betrachtung, nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr, sein durfte (BGE 43 II 779ff.,BGE 47 II 89ff.,BGE 49 II 493f.,BGE 53 II 39, 139 f.,BGE 56 II 426, BGE 82 II 424, BGE 83 II 22 f.). Diese Voraussetzung ist erfüllt. Der Kläger als Laie durfte die Angaben der fachkundigen Beklagten nach Treu und Glauben als Grundlage des Vertrages betrachten, da die Beklagte sie machte, um ihn zum Abschluss des Vertrages zu bewegen.
Mit diesen Anbringen versucht die Beklagte die Vorstellungen, die der Kläger sich machte, als richtig hinzustellen, den Irrtum also zu widerlegen. Das ist unzulässige Beanstandung der Beweiswürdigung und daher nicht zu hören. Das Bundesgericht ist an die Feststellungen gebunden, die das Obergericht auf Grund der beiden Gutachten gemacht hat, dahin lautend, dass teils wegen periodisch flauen Geschäftsganges, teils wegen geringerer Leistungsfähigkeit der Maschine mit der verkauften Anlage nicht ein Jahresverdienst von Fr. 28'600.-- erzielt

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werden kann, wie der Kläger auf Grund der Angaben der Beklagten glaubte, sondern bestenfalls ein solcher von etwa Fr. 6000.--.
Aus diesen Feststellungen ergibt sich, dass der Kläger sich auch in dieser Hinsicht im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR in einem wesentlichen Irrtum befunden hat, als er den Vertrag abschloss. Die Beklagte geht am Kern der Sache vorbei, wenn sie einwendet, sie habe dem Kläger gar nicht einen bestimmten Umsatz fest zusichern können, da sie ihm nicht ein Geschäft, sondern nur Maschinen verkauft habe; sie habe dem Kläger nur die sich bietende Möglichkeit zeigen wollen; er hätte sich selbstverständlich die Kundschaft erst noch durch Fleiss und Tüchtigkeit erschaffen müssen; auch hätte er nicht alles, was ihm die Beklagte erzählte, für bare Münze nehmen sollen; er hätte ihre Behauptungen ohne grosse Mühe überprüfen können; sie seien ohne weiteres berechtigt gewesen, da die Praxis sogar gewagte Behauptungen zulasse. Es geht weder um die Frage, ob die Beklagte den Kläger absichtlich getäuscht oder sogar im strafrechtlichen Sinne betrogen hat, noch um die Frage, ob er ihren unrichtigen Angaben hätte misstrauen sollen. Tatsache ist, dass er sich auf sie verlassen und dass seine unzutreffende Vorstellung ihn zum Kaufe bewogen hat. Der Irrtum bezog sich auf den Beweggrund, betraf aber einen Sachverhalt, den der Kläger nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als notwendige Grundlage des Vertrages betrachten durfte, nachdem die Beklagte selber darauf ausgegangen war, durch Angaben über die Leistungsfähigkeit der Maschine und den angeblich erzielbaren Jahresverdienst im Kläger die betreffende Vorstellung zu erwecken und ihn dadurch zum Abschluss des Vertrages zu bewegen. Wer die Aussicht auf eine "selbständige Existenz" als Lockmittel für die Werbung von Käufern gebraucht und durch rechnerische Angaben von der Art der vorliegenden untermauert, muss sich, mag er selber gut- oder bösgläubig sein, bei seinen "Annahmen" behaften

BGE 84 II 515 (521):

lassen, wenn der andere durch sie in die Irre geführt und zum Abschluss des Vertrages bewogen wird. Der Kläger durfte sich um so mehr auf die Angaben der Beklagten verlassen und sie als Grundlage des Vertrages betrachten, als die Beklagte fachkundig ist, während er selber die nötige Erfahrung nicht besass.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen, und das Urteil der II. Zivilkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 11. Februar 1958 wird bestätigt.