BGE 87 II 364
 
49. Urteil der H. Zivilabteilung vom 12. Dezember 1961 i.S. X. gegen P.
 
Regeste
Haftung des (Armen-)Anwalts (Art. 398 OR) für die Folgen der Versäumung der Frist für die Vaterschaftsklage (Art. 308 ZGB).
Schaden infolge Verletzung dieser Pflichten.
Nachweis, dass die Vaterschaftsklage bei Einhaltung der Frist geschützt worden wäre.
Ist die Ersatzpflicht wegen nur leichter Fahrlässigkeit des Anwalts (Art. 43 Abs. 1 OR) oder wegen Mitverschuldens seiner Klienten (Art. 44 Abs. 1 OR) zu ermässigen?
 
Sachverhalt


BGE 87 II 364 (364):

A.- Frl. P., geb. 13. November 1937, gebar am 15. November 1956 einen Knaben. Als Vater bezeichnete sie den

BGE 87 II 364 (365):

ledigen G., geb. 1930. Am 23. Januar 1957 stellten ihr Vater und der zum Beistand des Kindes ernannte Amtsvormund beim zuständigen bernischen Richteramt das Gesuch um Abhaltung eines Aussöhnungsversuchs und um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung. Am 26. Februar 1957 fanden der Aussöhnungsversuch und (nachdem Vater P. und der Beistand des Kindes die Verhandlungen verlassen hatten) das Parteiverhör im Armenrechtsverfahren statt. G. gab zu, die Mutter zweimal abends in seiner Wohnung empfangen zu haben, bestritt aber den von der Mutter behaupteten Geschlechtsverkehr. Am Schluss des Protokolls dieser Verhandlung steht der Vermerk:
"Verfügung Der Sühnversuch wird fruchtlos erklärt, und den Klägern wird die Klagebewilligung erteilt.
Eröffnet."
Der Gerichtspräsident ordnete hierauf im Armenrechtsverfahren eine Blutuntersuchung an. Der Experte kam in seinem Gutachten vom 9. Juli 1957 zum Schluss, G. könne auf Grund der Bestimmung der klassischen Blutgruppen, der Blutfaktoren M und N, der Rhesusfaktoren C, D, E, c, e und der Faktoren Kell und Duffya unter der Voraussetzung einer sicher erwiesenen Mutterschaft von Frl. P. als Vater des Kindes nicht ausgeschlossen werden; seine Vaterschaft sei nach den Erbgesetzen der erwähnten fünf Blutgruppensysteme möglich. Nachdem der Gerichtspräsident noch einen Lohnausweis der Mutter eingefordert hatte, gewährte er den Klägern mit Verfügung vom 26. September 1957 die unentgeltliche Prozessführung in dem Sinne, dass er ihnen in der Person von Fürsprecher Dr. X einen Armenanwalt beiordnete. Diese Verfügung wurde Dr. X (sowie den gesetzlichen Vertretern der Kläger und dem Anwalt G.s) am 3. Oktober 1957 eröffnet. Tags darauf wurden ihm die Armenrechtsakten "zur Einsichtnahme und Einleitung des Prozesses" zugestellt.
B.- Am 28./29. November 1957 reichte Dr. X beim

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Amtsgericht im Namen von Mutter und Kind gegen G. Vaterschaftsklage ein mit dem Begehren, G. sei zur Schadloshaltung der Mutter und zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen für das Kind zu verurteilen. In Art. 10 der Klageschrift bemerkte er unter Hinweis auf die Armenrechtsakten, er sei durch Entscheid vom 26. September 1957, zugestellt 3. Oktober 1957, zum Armenanwalt der Kläger ernannt worden; die Klagebewilligung sei den Klägern erteilt worden.
Vom Gerichtspräsidenten darauf hingewiesen, dass nach dessen Auffassung die Wirkung der Klagebewilligung vor Einleitung der Klage dahingefallen und die Klagefrist von Art. 308 ZGB verpasst sei, machte Dr. X im wesentlichen geltend, er sei nach Einsichtnahme in die Armenrechtsakten davon ausgegangen, "dass das Armenrechtsverfahren und damit der Aussöhnungsversuch soeben erst zum Abschluss gekommen seien, bzw. vor dem Abschluss standen" und dass die sechsmonatige Klagefrist im Sinne von Art. 153 der bernischen ZPO daher erst von seiner Ernennung zum Armenanwalt an laufe; die Klagebewilligung, von der in den Armenrechtsakten die Rede sei, sei nicht datiert, so dass er bestreiten müsse, dass diese Bewilligung schon am 26. Februar 1957 erteilt worden sei; übrigens hätten die Kläger mit einer vor Ernennung des Armenanwalts erteilten Klagebewilligung nichts anfangen können; um so mehr sei er davon ausgegangen, dass die sechsmonatige Klagefrist "noch lange nicht abgelaufen sei."
Das Amtsgericht erklärte die Klage am 25. März 1958 entsprechend dem Antrag G.s für verspätet, weil Dr. X die Klageschrift erst nach Ablauf der Frist von Art. 308 ZGB eingereicht habe, ohne vor deren Ablauf ein neues Gesuch um Ladung zum Aussöhnungsversuch gestellt zu haben, obwohl die Frist von sechs Monaten seit der am 26. Februar 1957 ordnungsgemäss erteilten und eröffneten Klagebewilligung längst abgelaufen gewesen sei.
Dr. X erklärte namens der Kläger die Appellation, zog diese aber am 26. Juli 1958 zurück, nachdem der Appellationshof

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des Kantons Bern (II. Zivilkammer) den Klägern mit Entscheid vom 21. Juni 1958 wegen Aussichtslosigkeit ihres Begehrens das Armenrecht entzogen hatte.
C.- Am 4. April 1960 leiteten Mutter und Kind gegen Dr. X Klage ein mit dem Begehren, er sei zu verurteilen, der Erstklägerin Fr. 1189.95 nebst 5% Zins seit 10. Juni 1959 und dem Zweitkläger Fr. 23'100.--, eventuell einen Fr. 8000.-- übersteigenden, richterlich zu bestimmenden Betrag zu bezahlen. Sie machten geltend, der Beklagte habe die Verspätung der Vaterschaftsklage verschuldet. Zu welchem Ergebnis der Vaterschaftsprozess geführt hätte, könne nicht mit Sicherheit festgestellt werden, doch sei anzunehmen, dass das Gericht die Vaterschaft G.s bejaht hätte. Der Beklagte sei verpflichtet, ihnen den Kapitalbetrag der Vermögensleistungen zu ersetzen, zu denen G. verurteilt worden wäre.
Der Beklagte bestritt, eine ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt zu haben, da er in guten Treuen habe annehmen dürfen, die Klagefrist sei noch nicht abgelaufen. Er machte ausserdem geltend, ein Schaden könnte nur angenommen werden, wenn mit Sicherheit nachgewiesen wäre, dass die Kläger den Vaterschaftsprozess gewonnen hätten, was von den Klägern nicht einmal behauptet werde. Überdies würde die Kläger ein Selbstverschulden treffen. Die Klage sei daher unbegründet.
Der als einzige kantonale Instanz urteilende Appellationshof des Kantons Bern (II. Zivilkammer) nahm an, der Beklagte hafte den Klägern als Beauftragter gemäss Art. 398 OR für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts. Indem er vor Ablauf der Klagefrist von Art. 308 ZGB weder die Klage eingereicht noch ein neues Gesuch um Abhaltung eines Aussöhnungsversuchs gestellt habe, habe er die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt. Er könne die Verantwortung für die Versäumung der Klagefrist nicht auf die Erstklägerin (die ihm gewisse Belege nicht rechtzeitig übergab) oder auf den Beistand des Zweitklägers (der ihn nicht auf den drohenden

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Fristablauf hinwies) abschieben. Ohne seine Säumnis hätten die Kläger begründete Aussicht gehabt, den Vaterschaftsprozess zu gewinnen. Obwohl G. auch als Zeuge im vorliegenden Prozess jeden intimen Verkehr mit der Erstklägerin bestritten habe, müsse auf Grund der glaubhaften, durch Indizien gestützten Aussagen der Erstklägerin in dem im vorliegenden Prozess durchgeführten Parteiverhör "die hohe Wahrscheinlichkeit der sexuellen Beziehungen der Erstklägerin mit G. in der kritischen Zeit als genügend dargetan gewertet werden", womit (da Mehrverkehr in der kritischen Zeit nicht nachgewiesen sei) "auch die Vaterschaft als nachgewiesen zu gelten" habe. Unzüchtiger Lebenswandel um die Zeit der Empfängnis (Art. 315 ZGB) könne der Erstklägerin nicht vorgeworfen werden. Der Beklagte sei daher grundsätzlich verpflichtet, die Kläger für den Verlust der Ansprüche aus Art. 317 und 319 ZGB zu entschädigen. Die Erstklägerin hätte im Vaterschaftsprozess Fr. 710.95 fordern können, und es dürfe angenommen werden,dass für den Zweitkläger monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 100.-- festgesetzt worden wären, deren Kapitalwert Fr. 17'940.-- ausmache. Dieser Schaden sei den Klägern voll zu ersetzen, da ein Selbstverschulden nicht nachgewiesen sei. Demgemäss hat der Appellationshof den Beklagten am 14. Juni 1961 verurteilt, der Erstklägerin Fr. 710.95 nebst 5% Zins seit 10. Juni 1959 und dem Zweitkläger Fr. 17'940.-- zu bezahlen.
D.- Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag auf Abweisung der Klage.
Die staatsrechtliche Beschwerde, mit der er das Urteil des Appellationshofes wegen Verletzung von Art. 4 BV (nämlich wegen willkürlicher Beweiswürdigung) anfocht, ist heute abgewiesen worden.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Beklagte bestreitet mit Recht nicht mehr, dass er den Klägern als ihr Armenanwalt nach den Vorschriften

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über den Auftrag (Art. 398 OR) haftet (vgl. GAUTSCHI N. 30 b a.E. zu Art. 394 OR).
Als er den Auftrag erhielt, die Kläger im Vaterschaftsprozess gegen G. zu vertreten, war die Klage noch nicht beim Gericht hängig. Er hatte also in erster Linie für die Wahrung der Klagefrist von Art. 308 ZGB zu sorgen, die bis zum 15. November 1957 lief.
Eine bundesrechtliche Klagefrist ist auf jeden Fall gewahrt, wenn die Klage vor Ablauf der Frist unter Beobachtung der dafür geltenden prozessualen Vorschriften bei dem für ihre Beurteilung zuständigen Gericht eingereicht wird. Es genügt dafür aber auch die innert Frist erfolgte, vom kantonalen Prozessrecht als erste Prozesshandlung obligatorisch oder fakultativ vorgesehene Anrufung des Sühnbeamten, wenn dieser die Streitsache mangels Aussöhnung der Parteien von Amtes wegen an das erkennende Gericht weiterzuleiten hat oder wenn die klagende Partei dies zur Vermeidung von Rechtsnachteilen binnen einer bestimmten Frist nach der erfolglosen Beendigung des Sühnverfahrens selber tun muss, wie es nach Art. 153/155 der bernischen ZPO zutrifft, und wenn die klagende Partei diese kantonale Frist dann auch wirklich einhält (BGE 74 II 16ff., BGE 85 II 536 Erw. 3 mit Hinweisen). Der Beklagte hatte also bis zum 15. November 1957 die Vaterschaftsklage beim Amtsgericht einzureichen oder wenigstens beim Gerichtspräsidenten ein Gesuch um Ladung zu einem Aussöhnungsversuch zu stellen (und dann binnen sechs Monaten von der Klagebewilligung an die gerichtliche Klage zu erheben), es sei denn, dass die den Klägern nach dem Misslingen des Aussöhnungsversuchs vom 26. Februar 1957 erteilte Klagebewilligung über den 15. November 1957 hinaus wirksam war, m.a.W. dass die durch diese Bewilligung in Gang gesetzte Frist von sechs Monaten zur Einreichung der Klage beim Gericht erst nach diesem Zeitpunkt ablief.
Der Beklagte macht geltend, er habe dies in guten Treuen annehmen dürfen. Die Gründe, die er dafür anführt,

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mögen zum Teil erwägenswert sein. Die Armenrechtsakten, insbesondere der Umstand, dass die Erteilung der Klagebewilligung erst am Schluss des Protokolls der Verhandlung vom 26. Februar 1957 beurkundet worden war, konnten jemanden, der jener Verhandlung nicht beigewohnt hatte, auf den (nach den Feststellungen im Amtsgerichtsurteil vom 25. März 1958 freilich irrigen) Gedanken bringen, die Klagebewilligung sei damals erst nach dem Weggang der gesetzlichen Vertreter der Kläger und daher nicht gültig eröffnet worden; diesen Mangel habe erst die Zustellung der - die Klagebewilligung erwähnenden - Verfügung vom 26. September 1957 über die Ernennung des Beklagten zum Armenanwalt behoben. Auch hat die Ansicht etwas für sich, es dürfe, ganz abgesehen vom Zeitpunkt der Eröffnung, nicht angenommen werden, dass die einer armen Partei erteilte Klagebewilligung schon vor der Gewährung des im Gesuch um Ladung zum Aussöhnungsversuch verlangten Armenrechts in Kraft trete, d.h. dass die Klagefrist des Art. 153 ZPO zu laufen beginne und sogar ablaufen könne, bevor die arme Partei in der Lage ist, von ihr Gebrauch zu machen; denn man kann mit beachtlichen Gründen die Meinung vertreten, dass die arme Partei hiedurch in einer gegen die Rechtsgleichheit verstossenden und daher unzulässigen Weise benachteiligt würde.
Durch solche Überlegungen durfte sich jedoch der Beklagte (wenn er sie überhaupt schon zu jener Zeit anstellte, was die Vorinstanz bezweifelt) nicht davon abhalten lassen, bis zum 15. November 1957 die Klage einzureichen oder ein neues Sühnbegehren zu stellen. Bei sorgfältiger Prüfung der Lage, wie sie ihm zuzumuten war, durfte er nämlich keineswegs für sicher halten, dass die Gerichte seine Auffassung teilen würden. Angesichts des Datums des die Klagebewilligung beurkundenden Protokolls und des Wortlauts von Art. 153 ZPO musste er vielmehr ernstlich mit einer gegenteiligen Entscheidung rechnen, wie sie dann wirklich erfolgt ist. Unter diesen Umständen

BGE 87 II 364 (371):

war es seine klare Pflicht, so zu handeln, dass über die Rechtzeitigkeit der Klage keine Diskussion entstehen konnte, d.h. innert der bis zum 15. November 1957 laufenden Frist von Art. 308 ZGB eine der beiden erwähnten Massnahmen zu ergreifen (vgl. STAUDINGER, 11. Aufl., N. 201 der Vorbemerkungen vor § 611 BGB, S. 1152, wo unter Hinweis auf die deutsche Rechtsprechung gesagt wird, der Anwalt müsse in zweifelhaften Fällen "die sichere und zweifelsfreiere Massnahme wählen").
So vorzugehen, war ihm um so eher zuzumuten, als er sich nicht etwa in Zeitnot befand. Von der Eröffnung des Armenrechtsentscheides (3. Oktober 1957) bis zum Ablauf der bundesrechtlichen Klagefrist (15. November 1957) standen ihm volle sechs Wochen zur Verfügung. Dass die Erstklägerin ihm gewisse Belege (Quittungen) nicht rechtzeitig zur Verfügung stellte, konnte ihn, wie die Vorinstanz in Auslegung des in diesem Punkte massgebenden kantonalen Prozessrechts verbindlich festgestellt hat, nicht hindern, die Klage innert Frist einzureichen. Im übrigen hatte er, wenn er die Klageschrift aus irgendeinem Grunde bis zum 15. November 1957 nicht fertigstellen konnte, auf jeden Fall die Möglichkeit, innert der Frist ein neues Sühnbegehren zu stellen, was nur eine geringfügige Mühewaltung erforderte. Indem er weder das eine noch das andere tat, verletzte er ein elementares Gebot der Vorsicht.
Hieran kann nichts ändern, dass das Richteramt und der Beistand des Kindes es unterliessen, ihn bei bzw. gleich nach seiner Ernennung zum Armenanwalt darauf aufmerksam zu machen, dass nach ihrer Auffassung die Frist von Art. 153 ZPO, auf die er sich verliess, schon am 26. Februar 1957 begonnen habe und folglich bereits abgelaufen sei; denn er konnte sich auf Grund der Akten ohne weiteres selber davon Rechenschaft geben, dass das Gericht zu dieser Ansicht kommen und deshalb die Klage als verspätet erklären könnte, wenn er über den 15. November 1957 hinaus untätig blieb. - Den Versuch, seiner abweichenden

BGE 87 II 364 (372):

Auffassung über den Beginn der Klagefrist von Art. 153 ZPO durch eine staatsrechtliche Beschwerde gegen die Entziehung des Armenrechts zum Durchbruch zu verhelfen, hat er nicht unternommen.
Nach alledem muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, die Abweisung der Vaterschaftsklage wegen Verspätung durch ein grob fahrlässiges Verhalten verschuldet zu haben. Seine Haftung für den durch diesen Prozessausgang verursachten Schaden ist deshalb auch dann begründet, wenn man mit ihm annimmt, der Anwalt haffte nicht für leichtes Verschulden, sondern nur für grobe und offenkundige Fehler, wie das Bundesgericht dies in dem von ihm angerufenen EntscheideBGE 79 II 438unter Hinweis auf Entscheidungen über die Arzthaftpflicht beiläufig erklärt hatte. Es braucht daher nicht entschieden zu werden, ob dies wirklich als allgemeine Regel gelten könne oder ob unter Umständen eine weitergehende Haftung Platz greifen müsse (vgl. hiezu GAUTSCHI, der in N. 34 c zu Art. 398 OR u.a. sagt, es bestehe eine "strenge Haftung" des Anwalts für prozessrechtliche Fehler wie z.B. Fristversäumnis).
Wie ein wegen Versäumung der Klagefrist nicht durchgeführter Prozess bei Einhaltung dieser Frist ausgegangen wäre, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit feststellen. Es sind darüber vielmehr nur Vermutungen möglich. Das gilt sowohl hinsichtlich der Tatsachen, die im fraglichen Prozess festgestellt worden wären, als auch hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung, welche diese Tatsachen erfahren hätten. Dies schliesst jedoch die Leistung des Beweises, dass die klagende Partei den Prozess bei Einhaltung der

BGE 87 II 364 (373):

Klagefrist gewonnen hätte und dass der ihr durch die Versäumung der Frist zugefügte Schaden folglich dem Betrag entspreche, der ihr im Falle ihres Obsiegens als Prozessgewinn zugekommen wäre, nicht von vornherein aus. Auf Grund der im Schadenersatzprozess nachgeholten Abklärung der Verhältnisse, die für die materielle Beurteilung der verwirkten Klage erheblich gewesen wären, kann sich die Annahme, dass diese Klage geschützt worden wäre, so stark aufdrängen, dass der Beweis hiefür als erbracht angesehen werden darf. Im Schadenersatzprozess in dieser Weise die Aussichten des nicht durchgeführten Vorprozesses zu prüfen, ist der französischen wie der deutschen Rechtsprechung geläufig (vgl. MAZEAUD & TUNC, Traité théorique et pratique de la responsabilité civile délictuelle et contractuelle, 1. Band, 5. Aufl. 1957, no 219 S. 280: "... les juges examinent ce que valait au fond ce procès ...", und STAUDINGER a.a.O. S. 1153 vor N. 202, wo unter Anführung von Präjudizien ausgeführt wird, bei Beurteilung der Frage, ob der Kläger in einem Rechtsstreit infolge Pflichtverletzung des Anwalts einen Schaden erlitten habe, sei "davon auszugehen, dass bei Erfüllung der Pflicht die richtige, d.h. die Entscheidung von dem Vorgericht gefällt worden wäre, die das jetzt über den Ersatzanspruch entscheidende Gericht für richtig hält"). Dass das Urteil im Vorprozess so ausgefallen wäre, wie dies der Richter im Schadenersatzprozess annimmt, kann namentlich in solchen Fällen als praktisch sicher erscheinen, wo über die Schadenersatzklage das Gericht befindet, das den Vorprozess zu beurteilen gehabt hätte.
Das Bundesgericht kann im Schadenersatzprozess die Auffassung des als letzte (oder einzige) kantonale Instanz urteilenden Gerichts über die vermutlichen Aussichten des nicht durchgeführten Vorprozesses jedenfalls insoweit überprüfen, als sie sich auf Erwägungen über vom Bundesrecht beherrschte Fragen stützt. Ob seiner Überprüfung auch die Vermutungen der Vorinstanz darüber unterliegen, welche Tatsachen im Vorprozess festgestellt worden

BGE 87 II 364 (374):

wären, oder ob diese Vermutungen wie gemäss Art. 63 Abs. 2 OG die eigentlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz für es verbindlich seien, braucht heute nicht grundsätzlich abgeklärt zu werden (vgl. zur Frage der Überprüfbarkeit von Hypothesen darüber, was in einem nicht eingetretenen Falle geschehen wäre, einerseitsBGE 76 II 15und 279, BGE 80 III 57, anderseits BGE 80 II 333, BGE 85 II 39 und BGE 86 II 187, wo infolge eines Druckfehlers BGE 83 II 39 statt BGE 85 II 39 zitiert ist). Solche Vermutungen dürfen nämlich, wenn überhaupt, nur mit Zurückhaltung überprüft werden, da sie naturgemäss weitgehend durch die der Vorinstanz zustehende Würdigung der im Schadenersatzprozess erhobenen Beweise präjudiziert sind. Das Bundesgericht darf also von derartigen Vermutungen höchstens dann abweichen, wenn schwerwiegende Gründe gegen sie sprechen, insbesondere wenn sie mit einer Erfahrungsregel unvereinbar sind, und dies trifft hier nicht zu.
Der bernische Appellationshof hat auf Grund eines einlässlichen Beweisverfahrens gründlich geprüft, wie der Vaterschaftsprozess der Kläger gegen G. vermutlich ausgegangen wäre, wenn der Beklagte die Klage rechtzeitig eingereicht hätte. Er hat dabei mit Recht die Beweisvorschriften berücksichtigt, die für Vaterschaftssachen gelten. Die Ansicht des Beklagten, im Haftpflichtprozess seien an den Beweis des Geschlechtsverkehrs strengere Anforderungen zu stellen als im Vaterschaftsprozess, geht fehl; denn im Haftpflichtprozess kommt es u.a. eben gerade darauf an, ob die Beiwohnung in der kritischen Zeit im Vaterschaftsprozess als bewiesen betrachtet worden wäre. Dass die Kläger im Haftpflichtprozess (zutreffend) erklärt haben, das Ergebnis des abgebrochenen Vaterschaftsprozesses lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen, kann ihnen entgegen der Meinung des Beklagten nicht zum Nachteil gereichen, da für den Schadensbeweis im Haftpflichtprozess nach dem Gesagten genügen muss, dass angenommen werden darf, die Kläger hätten den Vaterschaftsprozess höchst wahrscheinlich gewonnen. Die Annahme,

BGE 87 II 364 (375):

dass in diesem Prozess die Beiwohnung in der kritischen Zeit als hinlänglich bewiesen erachtet worden wäre, die dem angefochtenen Urteil zugrundeliegt, lässt sich angesichts des vom Appellationshof festgestellten Ergebnisses des im Haftpflichtprozess durchgeführten Beweisverfahrens nicht beanstanden. Sie entspricht durchaus der Art, wie die bernischen Gerichte in Vaterschaftssachen auf Grund der kantonalen ZPO erfahrungsgemäss solche Beweisfragen zu beurteilen pflegen, und hat eine um so grössere Wahrscheinlichkeit für sich, als der Vaterschaftsprozess im Falle seiner materiellen Beurteilung aller Voraussicht nach an den Appellationshof weitergezogen worden wäre, so dass die vom Appellationshof im vorliegenden Prozess geäusserte Ansicht über das mutmassliche Ergebnis des Vaterschaftsprozesses als die Ansicht der Instanz gelten kann, die in diesem Prozess die tatsächlichen Verhältnisse abschliessend festzustellen gehabt hätte. Der Versuch des Beklagten, die Beweiswürdigung des Appellationshofs mit staatsrechtlicher Beschwerde als willkürlich anzufechten, ist misslungen. Gegen die Annahme der Vorinstanz, dass G. mit den Einreden aus Art. 314 Abs. 2 und Art. 315 ZGB nicht durchgedrungen wäre, wendet der Beklagte mit Recht nichts ein. Bei der Schlussfolgerung des Appellationshofes, es dürfe mit hinlänglicher Sicherheit angenommen werden, dass die Kläger den Vaterschaftsprozess gewonnen hätten, muss es daher sein Bewenden haben, was zur Folge hat, dass die Schadenersatzansprüche der Kläger gegen den Beklagten grundsätzlich zu schützen sind.
Die Würdigung der Grösse des Verschuldens des Beklagten (Art. 43 Abs. 1 OR; BGE 82 II 31) kann nicht zu einer

BGE 87 II 364 (376):

Ermässigung der Ersatzpflicht führen, da dem Beklagten entgegen seiner Ansicht nicht bloss ein leichtes Verschulden vorzuwerfen ist (vgl. Erw. 1 hievor).
Ebensowenig kommt eine Ermässigung gemäss Art. 44 Abs. 1 OR in Frage. Darin, dass die Erstklägerin dem Beklagten gewisse Belege mit Verspätung zustellte, kann nicht ein für den Schaden kausales Mitverschulden erblickt werden, weil der Beklagte diese Belege für die rechtzeitige Einleitung der Klage nicht benötigte (Erw. 1 hievor) und weil er zudem selber nicht behauptet, dass er die Erstklägerin bei Einforderung dieser Belege auf den drohenden Fristablauf hingewiesen habe. Dem Beklagten kann aber auch nicht gefolgt werden, wenn er geltend macht, es bedeute ein für den Schaden mitursächliches, dem Zweitkläger anzurechnendes Verschulden, dass dessen Beistand ihn nicht auf den Fristenlauf aufmerksam machte; denn der Beistand durfte sich darauf verlassen, dass der Kläger selber in der Lage sei, die Fristberechnung vorzunehmen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern, II. Zivilkammer, vom 14. Juni 1961 bestätigt.