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Urteilskopf

88 II 247


36. Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Juni 1962 i.S. X gegen Vormundschaftsbehörde Y.

Regeste

Beiratschaft (Art. 395 ZGB).
Voraussetzungen ihrer Anordnung. Übermässiger Aufwand? Berücksichtigung der Vermögenslage zur Zeit der Entscheidung.

Sachverhalt ab Seite 247

BGE 88 II 247 S. 247
X, geb. 1902, wuchs als Sohn eines Landwirts in einem ca. 30 km von der Kantonshauptstadt entfernten Dorfe auf. Er ist seit 1925 verheiratet und hat zwei Töchter und einen Sohn, die heute ebenfalls verheiratet und wirtschaftlich von ihm unabhängig sind. Er steht zu Frau und Kindern seit längerer Zeit in einem gespannten Verhältnis. Während vieler Jahre war er in zahlreichen Behörden und Organisationen tätig. Nachdem im Jahre 1951 sein Vater gestorben war, übernahm er dessen Heimwesen mit Aktiven und Passiven. Nach dem Testament des Vaters und dem im Testamentsanfechtungsprozess abgeschlossenen Vergleich ist er u.a. verpflichtet, zwei nur reduziert arbeitsfähige Brüder zu beschäftigen und ihnen Nahrung, Kleider, Unterkunft, ein angemessenes Taschengeld und soweit nötig ärztliche Pflege zu gewähren und dem einen von ihnen diese Leistungen auch noch während vier Jahren nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zukommen zu lassen.
Am 5. August 1960 stellten seine drei Kinder bei der Vormundschaftsbehörde das Begehren, es sei für ihn wegen Misswirtschaft und Verschwendung eine Mitwirkungsbeiratschaft im Sinne von Art. 395 Abs. 1 ZGB anzuordnen. Die Ehefrau unterstützte dieses Begehren. Die Bezirksbehörde, bei der die Vormundschaftsbehörde am 31. Oktober 1960 in diesem Sinne Antrag stellte, errichtete mit Beschluss vom 12. Juni 1961 eine Verwaltungsbeiratschaft
BGE 88 II 247 S. 248
im Sinne von Art. 395 Abs. 2 ZGB. Die obere kantonale Behörde hat diese Massnahme am 4. Januar 1962 bestätigt mit der Begründung, X habe trotz angespannter Finanzlage, die ihn zu Landverkäufen und zur Aufnahme von Darlehen zu ungünstigen Bedingungen gezwungen habe, einen unsinnigen Aufwand getrieben (Kleider, Automobile, ärztliche Behandlung in einer ca. 90 km entfernten Stadt) und übermässige, unrentable und unüberlegte Investitionen vorgenommen sowie seinem Betrieb nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt; es sei ihm deshalb Verschwendung und Misswirtschaft vorzuwerfen; zur Abwendung oder Minderung der deswegen drohenden Verarmung sei eine Verwaltungsbeiratschaft erforderlich; dass X den stark gestiegenen Verkehrswert seines Heimwesens, für das er ein ernsthaftes Kaufsangebot zum Preise von 2,6 Millionen Franken besitze, in absehbarer Zeit realisieren könne, sei namentlich mit Rücksicht auf das Vorkaufsrecht gemäss EGG, das von der Ehefrau und den Kindern zum weit niedrigeren Schätzungswert im Sinne des LEG ausgeübt werden könne und "sicher" ausgeübt würde, nicht zu erwarten; auf jeden Fall wären zur Bereinigung der Lage ernsthafte Verhandlungen mit den Familienangehörigen nötig, die mit Erfolg selber zu führen X nicht in der Lage sei.
Gegen diesen Entscheid hat X die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, er sei aufzuheben und es sei von vormundschaftlichen Massnahmen ihm gegenüber abzusehen; eventuell sei die Sache zur Aktenergänzung und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem hat er den Entscheid der obern kantonalen Behörde mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV (Willkür und Verweigerung des rechtlichen Gehörs bei der Ermittlung des Tatbestandes) angefochten.
In Gutheissung der Berufung hebt das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid und die dadurch bestätigte Anordnung einer Verwaltungsbeiratschaft auf.
BGE 88 II 247 S. 249

Erwägungen

Erwägungen:

1. Nach Art. 57 Abs. 5 OG wird die Entscheidung über die Berufung in der Regel bis zur Erledigung einer staatsrechtlichen Beschwerde ausgesetzt. So vorzugehen, ist jedoch nicht nötig, falls das mit der Berufung gestellte Rechtsbegehren aus Gründen des Bundesrechts sogar dann geschützt werden muss, wenn auf die mit der staatsrechtlichen Beschwerde angefochtenen tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Behörde abgestellt wird.

2. Auf Grund der Tatsachen, welche die Vorinstanz festgestellt hat, kann dem Berufungskläger der Vorwurf nicht erspart werden, in den letzten Jahren einen Aufwand getrieben zu haben, der zu seinen flüssigen Mitteln in einem Missverhältnis stand und zumal in einer ländlichen Gegend als weit übersetzt anmuten konnte (Auslagen für Kleider in der Zeit von 1956 bis 1960 nahezu Franken 20'000.--; Kauf von sechs zum Teil teuren Automobilen - jeweilen zum Ersatz des bisher benützten Wagens - in der Zeit von 1952 bis 1960). Auch erscheinen einige der Investitionen, die er in seinem Landwirtschaftsbetrieb vornahm, beim festgestellten Sachverhalt als ungeschickt.
Eine Beiratschaft kann jedoch nur angeordnet werden, wenn sie sich heute noch als im Sinne von Art. 395 ZGB notwendig erweist. Diese Notwendigkeit lässt sich nicht schon damit begründen, dass ein wenig haushälterisches und nicht immer zweckmässiges Wirtschaften einen Vermögensrückgang befürchten lässt. Das Institut der Beiratschaft ist nicht dazu bestimmt, den künftigen Erben das anwartschaftliche Vermögen zu erhalten. Eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit im Sinne von Art. 395 ZGB erscheint vielmehr nur dann als notwendig, wenn mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die in Frage stehende Person durch die selbständige Durchführung von Geschäften im Sinne von Art. 395 Abs. 1 oder durch die Art ihrer Vermögensverwaltung ihre wirtschaftliche
BGE 88 II 247 S. 250
Existenz sowie diejenige der Angehörigen, für die sie aufzukommen hat, ernstlich gefährde (vgl.BGE 78 II 336f.). Bei Prüfung der Frage, ob dies der Fall sei, muss die Vermögenslage berücksichtigt werden, wie sie sich im Zeitpunkt der Entscheidung darbietet. Hieran ist der Aufwand zu messen.
Der Berufungskläger war nun zur Zeit der Ausfällung des angefochtenen Entscheides mindestens potentiell ein sehr reicher Mann. Bei einem Vermögen von zwei bis drei Millionen Franken können Aufwendungen, wie sie ihm vorgeworfen werden, die wirtschaftliche Existenz nicht gefährden, auch wenn sie das landesübliche Mass übersteigen.
Der Reichtum des Berufungsklägers liegt freilich in Liegenschaften, deren Verwertung zum heutigen Verkehrswert im Hinblick auf das gesetzliche Vorkaufsrecht der Ehefrau und der Kinder möglicherweise einigen Schwierigkeiten begegnen wird. Angesichts der gewaltigen Spanne zwischen Verkehrswert und Schätzungswert nach LEG, die sich aus dem Interesse an einer Überbauung erklärt, ist jedoch anzunehmen, dass die Verwertung sei es des ganzen Heimwesens, sei es einzelner Parzellen in absehbarer Zeit dennoch gelingen wird. Den Vorkaufsberechtigten ist letztlich so wenig wie dem Berufungskläger daran gelegen, dem Hof den Charakter eines landwirtschaftlichen Gewerbes zu erhalten. Sobald sie einsehen müssen, dass die Sicherung ihrer Erbanwartschaften kein genügender Grund zu vormundschaftlichen Massnahmen sein kann, wird der Weg zu einer vernünftigen Verständigung frei sein. Dann werden auch die Mittel zu einer angemessenen Abfindung oder Sicherstellung der Brüder, für die der Berufungskläger nach Massgabe des väterlichen Testaments und des Prozessvergleichs zu sorgen hat, verfügbar werden.
Dass der Berufungskläger weiterhin übertriebene Aufwendungen für seinen Betrieb machen oder mangels genügender Sorge dafür Schaden erleiden werde, ist kaum
BGE 88 II 247 S. 251
zu befürchten, nachdem er aus gesundheitlichen Gründen die Bewirtschaftung seines Heimwesens zur Hauptsache aufgegeben und sein Land verpachtet hat. Ihm allgemein die Fähigkeit abzusprechen, sein Vermögen zu verwalten, geht bei der gegebenen Sachlage nicht an. Auch wenn ihm die Konjunktur zu Hilfe gekommen ist, scheint er bei der Veräusserung und Wiederbeschaffung von Land, nach dem Ergebnis zu schliessen, im ganzen doch eher eine glückliche Hand gehabt zu haben. Von Unerfahrenheit in geschäftlichen Dingen kann bei ihm angesichts seiner Laufbahn nicht die Rede sein. Seine übertriebene Ausgabenfreudigkeit äusserte sich auf einem verhältnismässig beschränkten Gebiet. Im öffentlichen Leben, wo er offenbar einen Ausgleich dafür suchte, dass er das väterliche Heimwesen erst in vorgerückten Jahren übernehmen konnte, hätte er sich im übrigen als ein Mann von einfacher bäuerlicher Herkunft ohne besonders hervorstechende Gaben kaum behaupten können, wenn er nicht über gesunden Menschenverstand und eine gewisse Willenskraft verfügen würde. Darum darf auch angenommen werden, dass er aus dem vorliegenden Verfahren für sein künftiges Verhalten eine nützliche Lehre ziehen werde.
Nach alledem ist die Anordnung einer Verwaltungsbeiratschaft nicht notwendig und daher nicht gerechtfertigt. - Sollte der Berufungskläger, wie in der Eingabe vom 5. August 1960 behauptet worden ist, seiner Ehefrau das Haushaltungsgeld nur frankenweise geben, während er seine persönlichen Bedürfnisse reichlich befriedigt, so könnte sich die Ehefrau an den Eheschutzrichter wenden (Art. 169 ff. ZGB). Wenn er für ihren Unterhalt nicht pflichtgemäss sorgen würde, könnte sie überdies nach Art. 183 Ziff. 1 ZGB die Gütertrennung verlangen.

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