88 II 276
Urteilskopf
88 II 276
38. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 6. September 1962 i.S. Imstepf gegen Weger.
Regeste
Schadenersatzpflicht wegen ungerechtfertigter vorsorglicher Verfügung.
Als Rechtsgrundlage für eine solche Schadenersatzpflicht kommt sowohl das kantonale Prozessrecht als auch das Bundesrecht (Art. 41 OR) in Betracht (Erw. 3).
Unter welchen Voraussetzungen ist eine ungerechtfertigte vorsorgliche Verfügung widerrechtlich im Sinne von Art. 41 OR? (Erw. 4).
A.- Mit Vertrag vom 1. Juli 1958 verkaufte der Beklagte Weger dem Kläger Imstepf eine Kiesaufbereitungsanlage nebst einer Ausbeutungskonzession zum Preis von Fr. 147'000. -. Der Beklagte garantierte dem Kläger eine stündliche Ausbeute von 12 m3. Die Parteien verpflichteten sich, die Ausbeute durch einen Fachmann festlegen zu lassen. Für jeden m3 Minderausbeute sollte sich der Kaufpreis um Fr. 3000.-- vermindern.
Der von den Parteien gemeinsam bezeichnete Experte stellte in seinem Bericht vom 20. Juli 1958 fest, dass die stündliche Leistungsfähigkeit der Anlage höchstens 4 m3 betrage. Unter Berufung auf diese Expertise verlangte der Kläger die Herabsetzung des Kaufpreises auf Fr. 123'000. -. Der Beklagte ging darauf nicht ein und verlangte die Durchführung einer neuen Expertise, was der Kläger seinerseits ablehnte.
Als der Kläger im September 1958 Anstalten traf, die Kiesaufbereitungsanlage durch eine neue zu ersetzen, stellte der Beklagte am 19. September 1958 beim zuständigen Richter das Gesuch um Anordnung einer vorsorglichen Beweisaufnahme. Der Richter entsprach diesem Begehren und verbot dem Kläger, an der bestehenden Anlage Änderungen vorzunehmen.
Da die daraufhin durchgeführte Oberexpertise zu den gleichen Schlüssen kam wie das erste Gutachten, hob der Richter die Verfügung vom 19. September auf.
B.- In der Folge belangte der Kläger den Beklagten auf Bezahlung von Fr. 50'000. - als Ersatz des Schadens, der ihm infolge der durch den Beklagten widerrechtlich verursachten Verzögerung der Umbauarbeiten der Kiesaufbereitungsanlage entstanden sei.
C.- Das Kantonsgericht Wallis wies mit Urteil vom 25. Januar 1962 das Schadenersatzbegehren des Klägers ab.
Erwägungen:
3. Der Kläger macht geltend, der Beklagte sei schadenersatzpflichtig, weil er eine sachlich ungerechtfertigte vorsorgliche Verfügung erwirkt habe, und zwar hafte er für den dadurch verursachten Schaden sowohl kausal als auch gestützt auf Art. 41 OR und Art. 2 ZGB. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz sei bundesrechtswidrig und stehe im Widerspruch zu der in Rechtsprechung und Literatur herrschenden Meinung.
a) Da die mit vorsorglicher Verfügung vom 19. September 1958 angeordnete Oberexpertise den Befund des von den Parteien gemeinsam bestellten ersten Sachverständigen bestätigte, steht fest, dass die vom Beklagten erwirkte vorsorgliche Massnahme sachlich nicht gerechtfertigt war.
Die vorsorgliche Massnahme oder einstweilige Verfügung ist ein Institut des Prozessrechts. Dieses bestimmt, unter welchen Voraussetzungen eine solche Massnahme verlangt und angeordnet werden kann. Weil sie in einem abgekürzten Verfahren ergeht und daher die Möglichkeit besteht, dass sie mit der wirklichen Rechtslage nicht übereinstimmt, geben die Prozessgesetze dem Richter in der Regel die Befugnis, den Erlass der verlangten einstweiligen Verfügung von der Leistung einer Sicherheit durch den Gesuchsteller abhängig zu machen, die zur Deckung eines allfälligen Schadens aus der vorsorglichen Massnahme herangezogen werden kann (so z.B. gerade das Prozessrecht
BGE 88 II 276 S. 279
des Kantons Wallis in Art. 348 ZPO). Einzelne Prozessrechte haben diese Schadenersatzpflicht als eine unabhängig vom Verschulden des Gesuchstellers eintretende Haftung ex lege ausgestaltet (so z.B. BZP Art. 84, bern. ZPO Art. 332, ZPO von Basel-Stadt § 262). Klagen über die Schadenersatzpflicht auf Grund einer vorsorglichen Massnahme, die gestützt auf die Vorschriften einer kantonalen Prozessordnung erlassen worden ist, gehören dem kantonalen Recht an und sind daher nicht berufungsfähig, auch soweit bei ihrer Entscheidung allgemeine Grundsätze des Obligationenrechts als subsidiäres kantonales Recht herangezogen worden sind (BGE 47 II 472,BGE 41 III 132; LEUCH, Kommentar zur bern. ZPO, 3. Aufl., Art. 332 N. 3).An Stelle oder neben einer solchen kantonalrechtlichen Klage steht dem durch eine ungerechtfertigte vorsorgliche Massnahme Betroffenen überdies die bundesrechtliche Klage aus Art. 41 ff. OR zu Gebote. Ein auf dieser Grundlage ergangener Entscheid eines kantonalen Gerichts unterliegt der Berufung an das Bundesgericht (LEUCH, a.a.O.;BGE 47 II 472).
b) Im vorliegenden Falle hat der Kläger seinen Schadenersatzanspruch im kantonalen Verfahren nicht auf eine Bestimmung des kantonalen Prozessrechts gestützt, sondern sich ausschliesslich auf die Vorschriften des Bundeszivilrechts (Art. 41 ff. OR, Art. 2 ZGB) berufen. Ebenso hat die Vorinstanz ihren Entscheid ausschliesslich in Anwendung der vom Kläger angerufenen Bestimmungen des Bundeszivilrechts getroffen. Damit hat sie das Bestehen einer auf dem kantonalen Prozessrecht beruhenden Haftung ex lege stillschweigend verneint. Diese Frage ist, da sie die Auslegung des kantonalen Prozessrechts betrifft, vom Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht überprüfbar (oben lit. a).
In der Berufungsschrift macht der Kläger nun allerdings geltend, gemäss einem allgemeinen, auch bundesrechtlich anerkannten Grundsatz hafte eine Partei, die eine sachlich
BGE 88 II 276 S. 280
ungerechtfertigte vorsorgliche Verfügung erwirkt habe, für den der Gegenpartei daraus erwachsenen Schaden kausal. Für diese Auffassung beruft sich der Kläger vorab aufBGE 47 II 472. Er verkennt jedoch die Tragweite dieses Entscheides. Darin wurde lediglich festgestellt, dass das Bundeszivilrecht dem kantonalen Gesetzgeber nicht verbiete, in seinem Prozessrecht eine vom Verschulden des Gesuchstellers unabhängige Schadenersatzpflicht für die Folgen einer ungerechtfertigten vorsorglichen Massnahme vorzusehen, und es wurde daher die Berufungsfähigkeit eines auf Grund einer solchen kantonalrechtlichen Prozessvorschrift ergangenen Entscheides verneint. Die bundesrechtliche Zulässigkeit einer derartigen kantonalen Regelung wurde im genannten Entscheid freilich damit begründet, dass eine solche Haftung ex lege wegen der mit einer einstweiligen Verfügung verbundenen Gefährdung der Interessen des Betroffenen als dringend geboten erscheine. Aber damit wurde entgegen der Meinung der Berufung keineswegs das Bestehen einer solchen Haftung ex lege auf bundesrechtlicher Grundlage bejaht; denn sonst wäre ja auf die Berufung einzutreten gewesen.Auch TROLLER (Die Schadenersatzpflicht wegen unbegründeter vorsorglicher Massnahme, SJZ 43 S. 22 ff.), auf den sich der Kläger weiter beruft, erklärt zwar insbesondere für das Gebiet des Wettbewerbsrechts und des damals im Wurfe befindlichen neuen Patentgesetzes die Einführung einer Haftung ex lege als wünschbar; er anerkennt aber, dass im übrigen für das Bestehen einer solchen Schadenersatzpflicht das kantonale Prozessrecht massgebend ist.
4. Es kann sich daher im vorliegenden Falle lediglich fragen, ob die Ablehnung einer Haftung des Beklagten aus Art. 41 ff. OR gegen Bundesrecht verstosse.
a) Erste Voraussetzung einer Schadenersatzpflicht auf Grund von Art. 41 OR ist ein widerrechtliches Verhalten. Nach der vom Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannten sog. objektiven Theorie ist ein Verhalten dann widerrechtlich, wenn es gegen geschriebene oder ungeschriebene
BGE 88 II 276 S. 281
Gebote oder Verbote der Rechtsordnung verstösst, die dem Schutz des verletzten Rechtsgutes dienen sollen (BGE 82 II 28 und dort erwähnte Entscheide). Für die Feststellung der Widerrechtlichkeit in diesem Sinne kommen dabei nicht nur die Normen des eidgenössischen, sondern auch solche des kantonalen Rechtes in Betracht (OSER/SCHÖNENBERGER, OR Art. 41 N. 13).b) Ein Verstoss gegen ein geschriebenes Gebot oder Verbot der Rechtsordnung kann dem Beklagten nicht zur Last gelegt werden. Wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat, war der Beklagte nach dem kantonalen Prozessrecht befugt, eine Oberexpertise zu verlangen, und nach der damals in Kraft stehenden ZPO hatte nicht einmal der Richter die.Möglichkeit, einer Partei das Begehren um eine Oberexpertise abzuschlagen.
Gegen ein ungeschriebenes Gebot der Rechtsordnung aber hätte der Beklagte nur verstossen, wenn für die Erwirkung der vorsorglichen Verfügung keinerlei sachliche Gründe bestanden hätten. Der Kläger macht freilich unter Hinweis auf GULDENER (Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl. S. 389, Fussnote 35) geltend, die Erwirkung einer materiell ungerechtfertigten vorsorglichen Verfügung sei unter allen Umständen widerrechtlich. Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen.
Für das Vorgehen des Beklagten bestanden nun aber verschiedene sachliche Gründe. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hatte die Lieferfirma der Anlage eine stündliche Leistung von 6 - 8 m3 garantiert. Es ist daher verständlich, dass sich der Beklagte nicht mit dem ersten Gutachten abfinden wollte, das eine stündliche Leistung von höchstens 4 m3 annahm.
Es kann dem Beklagten aber auch nicht vorgeworfen werden, er habe mit der Erwirkung der vorsorglichen Verfügung in einer mit den Grundsätzen von Art. 2 ZGB unvereinbaren Weise ungebührlich lange zugewartet. Er stellte das Begehren um eine Oberexpertise unverzüglich nach Eingang des ersten Gutachtens und schlug vor, die
BGE 88 II 276 S. 282
neue Begutachtung sofort durch auf dem Platz befindliche Sachverständige vornehmen zu lassen. Für den Fall der Ablehnung dieses Vorschlages wies er schon damals darauf hin, dass er sich genötigt sehen könnte, beim Richter eine vorsorgliche Verfügung zu verlangen. Alles scheiterte aber am Widerstand des Klägers, der eine Oberexpertise mit der unzutreffenden Begründung ablehnte, der Befund des ersten Experten habe als verbindliches Schiedsgutachten zu gelten.Nach dem Briefwechsel vom 23./24. Juli 1958 blieb die Angelegenheit dann allerdings während einiger Zeit in der Schwebe. Da dies aber seinen Grund in den Gerichtsferien und in der Abwesenheit der beteiligten Anwälte hatte, kann auch das dem Beklagten nicht zum Nachteil gereichen. Als dann nach Mitte September 1958 der Kläger Anstalten traf, die bestehende Anlage durch eine neue zu ersetzen, so dass die Leistungsfähigkeit der Gegenstand des Kaufvertrags bildenden Anlage nicht mehr hätte abgeklärt werden können, machte der Beklagte mit dem Begehren um Erlass einer vorsorglichen Massnahme unverzüglich Gebrauch von der letzten Möglichkeit, die ihm angesichts des Widerstandes des Klägers noch zu Gebote stand.
5. Fehlt es nach dem Gesagten schon an einer Widerrechtlichkeit des Verhaltens des Beklagten, so brauchen die weiteren Erfordernisse eines Anspruchs aus unerlaubter Handlung (Verschulden, Schaden des Klägers) nicht geprüft zu werden. Die Vorinstanz hat somit einen Schadenersatzanspruch des Klägers aus Art. 41 OR zu Recht verneint. Das führt zur Bestätigung des angefochtenen Entscheides.