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Urteilskopf

89 II 337


45. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. November 1963 i.S. Chesini gegen Hagen.

Regeste

Kauf, Abtretung, Wechselrecht, Berufung.
Berufung, Zulässigkeit neuer rechtlicher Begründung (Erw. 1, 2). Übergabe eines Wechselblanketts bei Kauf an Zahlungsstatt oder zahlungshalber? (Erw. 3).
Zulässigkeit des Zurückgreifens auf die Kaufpreisforderung? (Erw. 4, 5).

Sachverhalt ab Seite 338

BGE 89 II 337 S. 338
Tatbestand (gekürzt):
Albert Hagen kaufte am 20. Juli 1954 von H. Rutz 30 000 Stück Feuerzeuge zum Preis von Fr. 10'000. -. Der Kauf wurde in einem von beiden Vertragsparteien unterzeichneten Bestätigungsformular auf Geschäftspapier des Albert Hagen verurkundet. Darin wurde unter der Rubrik "Lieferung" erklärt, der Lagerschein über die im Zürcher Freilager eingelagerte Ware sei bereits auf den Käufer umgeschrieben. Der Text zur Rubrik "Zahlungsbedingungen" lautete: "Gegen Übergabe eines Wechsels im Betrage von Fr. 10'000.--, akzeptiert von Wilhelm Hagen". Am Fusse der Bestätigung wurde der Vermerk angebracht: "Obiges Geschäft ist bereits von beiden Teilen vorbehaltlos abgewickelt.". Der dem Verkäufer übergebene Wechsel war unvollständig, da der Name des Wechselnehmers nicht eingesetzt war und die Unterschrift des Ausstellers ebenfalls fehlte. Als Rutz den Wechsel dem Bezogenen Wilhelm Hagen zur Zahlung vorwies, erklärte dieser, er könne und wolle nicht zahlen.
Am 10. September 1954 kaufte Rutz von Frau Chesini eine Liegenschaft. Zur Tilgung eines Teils des Kaufpreises übergab er ihr den oben genannten Wechsel, den er blanko indossierte. Seine zuvor als Aussteller angebrachte Unterschrift strich er vor der Übergabe des Papiers an Frau Chesini wieder durch. Als diese den Wechsel dem Akzeptanten Wilhelm Hagen vorlegte, erfuhr sie, dass dieser, wie Rutz gewusst habe, weder willens noch fähig war zu zahlen. Sie erstattete daher gegen Rutz und später auch gegen Albert Hagen Strafanzeige wegen Betruges.
Das Bezirksgericht Oberrheintal erklärte Rutz des Betruges zum Nachteil der Frau Chesini schuldig und
BGE 89 II 337 S. 339
verpflichtete ihn zur Zahlung von Fr. 10'000.-- Schadenersatz an sie. Albert Hagen wurde des Betruges zum Nachteil des Rutz schuldig gesprochen. In der gegen Rutz angehobenen Betreibung erhielt Frau Chesini einen Verlustschein für den vollen Forderungsbetrag. Am 19. Juni 1961 trat Rutz ihr "sämtliche ihm gestützt auf die Kaufsbestätigung vom 20. Juli 1954 gegen Albert Hagen zustehenden und sich aus dem rechtskräftigen Strafurteil des Bezirksgerichts Oberrheintal ergebenden Forderungsansprüche (Fr. 10'000.--)" ab.
Frau Chesini belangte gestützt auf diese Abtretungserklärung den Albert Hagen auf Bezahlung von Fr. 10'000.-- mit der Begründung, wegen der Übergabe des ungültigen Wechsels hafte der Beklagte dem Rutz gegenüber aus unerlaubter Handlung (Betrug) und Bereicherung.
Das Bezirksgericht Kreuzlingen und das Obergericht des Kantons Thurgau wiesen die Klage ab. Das Bundesgericht schützt sie auf Grund der folgenden

Erwägungen

Erwägungen:

1. Die Klägerin begründet in der Berufungsschrift die eingeklagte Forderung von Fr. 10'000.-- wie schon im kantonalen Verfahren als Schadenersatzanspruch aus unerlaubter Handlung; ausserdem fordert sie als Rechtsnachfolgerin des Rutz vom Beklagten den Betrag von Fr. 10'000.-- als Zahlung des Kaufpreises aus dem Kaufvertrag vom 20. Juli 1954 über die Feuerzeuge. Sie macht also einen Erfüllungsanspruch aus Vertrag geltend.

2. Der Beklagte wendet ein, die Klägerin habe die eingeklagte Forderung im kantonalen Verfahren unter diesem Titel nicht geltend gemacht und gemässBGE 65 II 206sei die Frage, ob ein von einer Partei nicht vorgebrachter Rechtsstandpunkt von Amtes wegen in Betracht gezogen werden dürfe, prozessrechtlicher Natur und daher vom kantonalen Recht beherrscht.
In dem vom Beklagten angerufenen Entscheid wurde
BGE 89 II 337 S. 340
ausgeführt, beim Fehlen einer ausdrücklichen materiellrechtlichen Bestimmung sei die Frage, inwieweit ein von einer Partei nicht geltend gemachter Rechtsstandpunkt von Amtes wegen berücksichtigt werden dürfe, vom kantonalen Prozessrecht beherrscht. Das Bundesgericht hielt das einer Partei entgegen, die geltend machte, die Gegenpartei habe einen von der kantonalen Instanz berücksichtigten Rechtsstandpunkt im kantonalen Verfahren gar nicht vorgetragen. Dieser Entscheid hat also den Sinn, das Bundesrecht verbiete dem kantonalen Richter nicht, einen von der Partei nicht eingenommenen Rechtsstandpunkt von Amtes wegen zu berücksichtigen. Zur Frage, ob das Bundesrecht dem kantonalen Richter gebiete, sich von Amtes wegen mit einem im kantonalen Verfahren nicht eingenommenen Rechtsstandpunkt zu befassen, äusserte sich das Bundesgericht dagegen im erwähnten Entscheid nicht.
Diese Frage ist zu bejahen. Da das Bundesgericht an die Begründung der Anträge der Parteien nicht gebunden, vielmehr in Bezug auf die rechtliche Würdigung der Tatsachen frei ist (Art. 63 Abs. 1 und 3 OG), muss auch der kantonale Richter frei sein, den Tatbestand rechtlich anders zu würdigen als die Parteien. Die Freiheit des Richters in der Anwendung des eidgenössischen Rechtes kann im kantonalen Verfahren nicht weniger weit gehen als im Berufungsverfahren vor dem Bundesgericht. Beide Instanzen, der kantonale Richter und das Bundesgericht, sollen den im kantonalen Verfahren gültig vorgebrachten und bewiesenen Tatbestand richtig beurteilen, ohne an eine unvollständige oder irrige rechtliche Begründung seitens der Parteien gebunden zu sein.
Im vorliegenden Falle geht es indessen nicht um diese Frage. Die Vorinstanz hat nicht geprüft, ob der Beklagte der Klägerin die eingeklagten Fr. 10'000.-- als Kaufpreis schulde. Die Frage ist daher die, ob die Klägerin erst im Berufungsverfahren einen solchen Erfüllungsanspruch aus Kaufvertrag geltend machen dürfe. Das ist zu bejahen.
BGE 89 II 337 S. 341
Das Vorbringen neuer rechtlicher Gesichtspunkte ist im Berufungsverfahren zulässig (BGE 75 II 310, BGE 87 II 383); sie dürfen sich nur nicht auf Tatsachen stützen, die nicht schon im kantonalen Verfahren in der vom kantonalen Prozessrecht vorgeschriebenen Weise vorgebracht wurden (BGE 82 II 371 oben).
Diesen Einwand will der Beklagte offenbar erheben, indem er geltend macht, die Klage sei unter dem Titel des Art. 211 OR nicht genügend substanziert worden.
Diese Auffassung ist jedoch unbegründet. Der Abschluss des Kaufvertrages, die Lieferung der Feuerzeuge, die Vereinbarung eines Kaufpreises von Fr. 10'000. - und dessen Nichtzahlung durch den Beklagten wurden schon in der Klage behauptet, unter Vorlegung der Kaufsbestätigung und Anrufung weiterer Beweise. Ebenso machte die Klägerin geltend, der Beklagte habe Rutz als Zahlung einen von Wilhelm Hagen angenommenen Wechsel übergeben, der aber ungültig gewesen sei. Der Inhalt des Kaufvertrages und des Wechsels bilden denn auch Gegenstand vorinstanzlicher Feststellungen. Aus diesen ergibt sich, dass Rutz eine Forderung gegen den Beklagten an sich zustand und dass die Vertragsparteien sie auf Fr. 10'000. - bezifferten.

3. Es fragt sich, ob diese Forderung durch die Übergabe des Wechselblanketts an Rutz unterging, d.h. ob der Beklagte das Papier an Zahlungsstatt oder nur zahlungshalber hingab.
Die Übergabe an Zahlungsstatt wird nicht vermutet. Zwar trifft Art. 116 Abs. 2 OR, wonach die Eingehung einer Wechselverbindlichkeit mangels gegenteiliger Abrede keine Neuerung bewirkt, nicht unmittelbar zu, denn der Beklagte hat das Papier, das übrigens noch hätte ausgefüllt werden müssen, um zum formgültigen Wechsel zu werden, weder als Aussteller noch als Indossant unterzeichnet. Wenn aber nach der erwähnten Bestimmung sogar durch die Eingehung einer Wechselverbindlichkeit die Kaufpreisforderung nur im Falle einer entsprechenden
BGE 89 II 337 S. 342
Vereinbarung untergegangen wäre, so darf umsoweniger vermutet werden, dass die Übergabe des vorliegenden Blanketts sie getilgt habe. Vielmehr müsste nachgewiesen sein, dass der Beklagte und Rutz die Tilgung vereinbart hatten.
Eine dahin gehende Vereinbarung ist vom Beklagten weder im kantonalen Verfahren noch in der Berufungsantwort vor Bundesgericht ausdrücklich behauptet worden und steht denn auch nicht fest. Sie lag nicht darin, dass am Fusse der Bestätigung vom 20. Juli 1954 bemerkt wurde, das Geschäft sei bereits von beiden Teilen vorbehaltlos abgewickelt. Das hatte nur den Sinn, dass einerseits der Lagerschein für die Ware und anderseits der "Wechsel" schon übergeben und ohne Vorbehalt entgegengenommen worden seien. Dass die Übergabe des "Wechsels" entgegen der sinngemäss zutreffenden Regelung des Art. 116 Abs. 2 OR die Kaufpreisforderung getilgt habe, war darunter nicht zu verstehen.

4. Wurde die Kaufpreisforderung durch die Aushändigung des Wechsels nicht getilgt, so war Rutz jederzeit befugt, sie gegenüber dem Beklagten geltend zu machen. Diese Befugnis ist durch die Abtretungserklärung des Rutz vom 19. Juni 1961 auf die Klägerin übergegangen; denn diese Abtretung erstreckte sich auf "sämtliche ihm (Rutz) gestützt auf die Kaufsbestätigung vom 20. Juli 1954 gegenüber Albert Hagen zustehenden... Forderungsansprüche". Die eingeschaltete Wendung "und sich aus dem rechtskräftigen Strafurteil des Bezirksgerichts Oberrheintal ergebenden" hat nur den Sinn einer näheren Erläuterung des Sachverhaltes, nicht die Bedeutung einer Beschränkung auf den Schadenersatzanspruchs aus unerlaubter Handlung, der im erwähnten Urteil gar nicht beurteilt wurde.

5. Der Beklagte wendet ein, gemäss Art. 172 OR hätten Rutz bezw. die Klägerin als dessen Zessionarin zunächst den Drittschuldner W. Hagen erfolglos betreiben müssen, bevor auf ihn zurückgegriffen werden könne.
BGE 89 II 337 S. 343
Die Berufung auf.Art. 172 OR scheitert jedoch schon daran, dass eine Abtretung eines Anspruchs des Beklagten gegen Wilhelm Hagen gar nicht erfolgt ist. Der Beklagte hat Rutz lediglich den unvollständigen Wechsel mit dem Akzept des Wilhelm Hagen ausgehändigt. Eine schriftliche Abtretungserklärung mit der Unterschrift des Beklagten, die nach Art. 165 OR Voraussetzung für die Gültigkeit der Abtretung ist, liegt dagegen nicht vor.
Rutz hätte zwar das ihm übergebene Wechselblankett vervollständigen können; denn die Erfordernisse des gezogenen Wechsels brauchen nicht schon im Zeitpunkt der Ausstellung oder Begebung vorhanden zu sein. Blankowechsel sind zulässig (Art. 1000 OR); es genügt, wenn sie im Zeitpunkt der Geltendmachung der wechselmässigen Ansprüche ausgefüllt sind (GUHL, Das schweizerische Obligationenrecht, 5. Aufl., S. 709). Rutz wäre somit befugt gewesen, das Blankett zu unterzeichnen und sich dadurch selbst zum Aussteller zu machen; er hätte auch sich selbst als Wechselnehmer einsetzen (Art. 993 Abs. 1 OR) oder einem andern, z.B. der Klägerin, diese Stellung verleihen können. Er hat nun zwar zunächst das Blankett als Aussteller unterzeichnet, dann aber seine Unterschrift gemäss Feststellung der Vorinstanz noch vor Übergabe der Urkunde an die Klägerin wieder durchgestrichen.
Das Blankett auszufüllen, es z.B. als Aussteller zu unterzeichnen und sich damit als solcher wechselmässig zu verpflichten, war Rutz dem Beklagten gegenüber nicht gehalten. Er konnte auf die Ausübung des Rechts zur Vervollständigung des Wechsels verzichten und - nach dem Fehlschlagen seines zunächst unternommenen Versuchs, von Wilhelm Hagen Zahlung zu erhalten - auf die noch bestehende Kaufpreisforderung zurückgreifen. Hiezu ist auf Grund der Abtretung der Kaufpreisforderung auch die Klägerin befugt.

6. Ist somit die eingeklagte Forderung von Fr. 10'000. - als Erfüllungsanspruch aus dem Kaufvertrag vom 20. Juli 1954 begründet, so kommt nichts darauf an,
BGE 89 II 337 S. 344
ob sie sich überdies auf die Vorschriften aus unerlaubter Handlung oder aus ungerechtfertigter Bereicherung stützen liesse.

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5 6

Referenzen

BGE: 87 II 383, 82 II 371

Artikel: Art. 116 Abs. 2 OR, Art. 172 OR, Art. 63 Abs. 1 und 3 OG, Art. 211 OR mehr...