90 II 184
Urteilskopf
90 II 184
22. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. Juni 1964 i.S. Witwe Marrer und Kinder gegen Helvetia-Unfall und Mitbeteiligte.
Regeste
Motorfahrzeughaftung.
Versorgerschaden, Art. 45 Abs. 3 OR.
Anrechnung von SUVA-Leistungen, Art. 100 KUVG (Erw. II/1).
Massgebendes Einkommen, Behandlung von Versicherungsprämien (Erw. II/2).
Genugtuung an Witwe und Kinder (Erw. III).
Solidarhaftung der Beklagten? (Erw. V).
Aus dem Tatbestand:
A.- Der Radfahrer Marrer wurde am 5. November 1960, kurz nach Mitternacht, auf der Strasse Gretzenbach-Däniken durch einen Personenwagen von hinten angefahren und getötet. Der Unfall war auf das alleinige Verschulden des Autolenkers Mathys zurückzuführen; dieser fuhr, obwohl die Sicht wegen starken Regens schlecht war und er wegen Gegenverkehrs die Scheinwerfer abgeblendet hatte, mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 km und sah daher den in gleicher Richtung fahrenden Radfahrer zu spät, so dass er trotz sofortigem Bremsen den Zusammenstoss nicht mehr vermeiden konnte.
Marrer, der im Zeitpunkt des Unfalls 57 Jahre alt war, ha;tte bei der Bally Schuhfabriken AG gearbeitet und war bei der SUVA gegen Betriebs- und Nichtbetriebsunfälle versichert. Er hinterliess die Ehefrau Elsa Marrer, geb. 1920, und die beiden Kinder Ernst, geb. 1946, und Verena, geb. 1954. Diese erhalten von der SUVA Hinterbliebenenrenten, deren Kapitalwert sich insgesamt auf rund Fr. 80 000.-- beläuft.
Die SUVA nahm gestützt auf Art. 100 KUVG Rückgriff auf die Helvetia-Unfall, bei welcher der Halter des Autos haftpflichtversichert ist. Dieser Rückgriffsanspruch wurde vergleichsweise dadurch erledigt, dass die Helvetia-Unfall Mitte Dezember 1961 an die SUVA den Pauschalbetrag von Fr. 48 000.-- bezahlte.
Die Hinterbliebenen Marrers erhoben weitere Schadenersatz- sowie Genugtuungsansprüche gegenüber der Helvetia-Unfall. Diese bestritt das Bestehen eines durch die SUVA-Leistungen nicht gedeckten Versorgerschadens. Dagegen anerbot sie sich, für Bestattungskosten und als Genugtuung an die Hinterbliebenen gesamthaft Fr. 11 000.-- zu bezahlen. Diese Summe überwies sie in der Folge den Hinterbliebenen, obwohl eine Einigung nicht zustande kam.
B.- Am 3. Oktober 1962 reichte Frau Marrer für sich und die beiden minderjährigen Kinder gegen die Helvetia-Unfall
BGE 90 II 184 S. 186
als Haftpflichtversicherer, die Firma O. Mathys als Halter und J. L. Mathys als Fahrzeuglenker Klage ein mit dem Begehren, die Beklagten seien unter solidarischer Haftbarkeit zu verurteilen, an die Kläger Schadenersatz- und Genugtuungsleistungen im Gesamtbetrag von Fr. 72 962.-- zu erbringen, abzüglich der von der Helvetia-Unfall bereits bezahlten Fr. 11 000.--.Die Beklagten beantragen Abweisung der Klage.
C.- Das Obergericht des Kantons Solothurn verpflichtete mit Urteil vom 21. Oktober 1963 die Beklagten zur Bezahlung von weiteren Fr. 14 600.-- an die Kläger.
Das Bundesgericht weist die Berufung der Kläger und die Anschlussberufung der Beklagten gegen dieses Urteil ab.
Aus den Erwägungen:
1. Die Kläger beanstanden, dass die Vorinstanz den Kapitalwert der ihnen ausgerichteten SUVA-Renten im Gesamtbetrag von Fr. 80 480.-- (Fr. 55 659.-- für die Witwe, Fr. 8148.-- für den Knaben Ernst und Fr. 16 673.-- für die Tochter Verena) im vollen Umfang auf den Schaden angerechnet hat, obwohl die SUVA ihr Rückgriffsrecht gegenüber der Helvetia-Unfall nur für den vergleichsweise festgesetzten Pauschalbetrag von Fr. 48 000.-- ausgeübt hat. Die Kläger sind der Ansicht, ihr Schadenersatzanspruch sei nur für den von der Helvetia tatsächlich bezahlten Betrag auf die SUVA übergegangen.
Diese Auffassung scheitert jedoch, wie die Vorinstanz mit zutreffender Begründung ausgeführt hat, am klaren Wortlaut von Art. 100 KUVG, wonach die SUVA bis zur Höhe ihrer Leistungen in die Rechte des Versicherten oder seiner Hinterlassenen gegenüber dem für den Unfall haftbaren Dritten eintritt. Auf Grund dieser Bestimmung ist der Kapitalwert einer von der SUVA ausgerichteten Hinterlassenenrente im vollen Umfang auf den Versorgerschadensanspruch anzurechnen, der dem Geschädigten nach zivilrechtlichen
BGE 90 II 184 S. 187
Grundsätzen zusteht (BGE 81 II 38 ff., BGE 85 II 256 ff., BGE 88 II 111 ff.). Übersteigt der Barwert der SUVA-Rente den zivilrechtlichen Anspruch aus Versorgerschaden, so hat der Geschädigte vom zivilrechtlich haftbaren Dritten, bzw. von dessen Haftpflichtversicherer, nichts mehr zu fordern. Ob und in welchem Umfang die SUVA auf den haftpflichtigen Dritten Rückgriff nimmt, ist auf die Frage der Anrechnung ohne Einfluss.Die Kläger glauben zu Unrecht, sich für ihre gegenteilige Auffassung darauf berufen zu können, dass auf diese Weise dem Haftpflichtversicherer ein Teil des Versorgerschadens "geschenkt" werde. Massgebend ist allein, dass der Geschädigte für den ihm zustehenden Ersatzanspruch in vollem Umfang befriedigt wird; mehr kann er nicht verlangen. Die von den Klägern verfochtene Lösung hätte aber unter Umständen zur Folge, dass der Geschädigte einen seinen Schaden übersteigenden Ersatz erhielte. Dieses den Grundgedanken des Schadenersatzrechts zuwiderlaufende Ergebnis zu verhüten, war jedoch einer der hauptsächlichsten Gründe für die Aufstellung der Vorschrift von Art. 100 KUVG.
2. Die Vorinstanz hat der Berechnung des Versorgerschadens einen Jahresverdienst des Getöteten von Fr. 13 000.-- zugrunde gelegt. Die Höhe des Verdienstes ist an sich im Berufungsverfahren nicht mehr streitig. Dagegen machen die Beklagten geltend, es müsse auf das Nettoeinkommen abgestellt werden und deshalb seien die vom Getöteten geleisteten AHV-, IV- und EO-Beiträge (2,4%) und die ebenfalls von ihm bezahlten SUVA-Prämien für Nichtbetriebsunfälle (1%) abzuziehen. Damit ergebe sich ein jährliches Nettoeinkommen von Fr. 12 452.--.
Hinsichtlich der Klägerin 1 ist diese Rüge jedoch gegenstandslos, da wegen des grossen Altersunterschiedes von 17 Jahren zwischen den Ehegatten der Barwert der SUVA-Rente der Ehefrau den auf Grund der Aktivitätstafeln berechneten Barwrwert ihres Versorgerschadens übersteigt.
Dagegen hat die Frage eine gewisse Bedeutung für die
BGE 90 II 184 S. 188
den beiden Kindern zugesprochenen Kapitalbeträge von Fr. 1700.-- bzw. Fr. 604.--.Es trifft zu, dass der Berechnung des Versorgerschadens das Nettoeinkommen des Getöteten zugrunde zu legen ist. Darunter ist der Betrag zu verstehen, der nach Abzug der für die Erzielung des Bruttoeinkommens unmittelbar aufgewendeten Gewinnungskosten übrigbleibt. Prämienbeiträge an Versicherungsinstitutionen sind jedoch nicht als solche Gewinnungskosten zu betrachten. Sie stellen vielmehr vorsorgliche Aufwendungen dar, die dazu bestimmt sind, den Lebensunterhalt des Einkommensempfängers oder seiner Hinterlassenen zu sichern für den Fall, dass infolge von Unfall, Krankheit oder Alter der Arbeitsverdienst wegfallen sollte. Es handelt sich bei solchen Prämienzahlungen um die Verwendung eines Teils des Einkommens zu einem Zweck, der mit der Ausübung der Erwerbstätigkeit und dem damit erzielten Einkommen keinen Zusammenhang aufweist. Ob es sich um freiwillig bezahlte Prämien an private Versicherungsinstitute handelt oder um obligatorische Beiträge an staatliche Kassen, ändert an der Rechtsnatur dieser Aufwendungen nichts.
Nach der Steuergesetzgebung einzelner Kantone, wie auch nach den Wehrsteuervorschriften (Art. 22 Abs. 1 lit. g WStB) darf der Steuerpflichtige zwar die AHV-Beiträge vom Einkommen abziehen. Aber diese Regelung beruht auf sozialpolitischen Erwägungen und bedeutet nicht, dass das Steuerrecht von einem andern Begriff des Nettoeinkommens ausgehe. Bei der Wehrsteuer dürfen übrigens nach Art. 22 Abs. 1 lit. h WStB bei Einkommen unter Fr. 10 000. - auch andere Versicherungsbeiträge und sogar Beiträge an staatliche Versicherungskassen bis zu einem bestimmten Betrag (gegenwärtig Fr. 500.--) abgezogen werden, was den sozialpolitischen Charakter dieser Abzüge deutlich erkennen lässt.
Die Vorinstanz hat es daher mit Recht abgelehnt, die in Frage stehenden Beiträge vom Einkommen des Getöteten abzuziehen.
Da die Kläger in der Berufungsschrift erklärt haben, die Annahme eines massgeblichen Einkommens von Fr. 13 000.-- werde nicht angefochten, kann dem in der Antwort auf die Anschlussberufung gestellten Begehren, zu den Fr. 13 000.-- seien auch noch die Arbeitgeberbeiträge an die AHV hinzuzuzählen, nicht stattgegeben werden.
Die Vorinstanz hat als Genugtuung zugesprochen
- der Witwe Fr. 13 000.--, abzüglich des von den Beklagten anerkannten und bereits bezahlten Betrages von Fr. 5500.--,
- jedem der beiden Kinder Fr. 5000.--, abzüglich der von den Beklagten geleisteten Zahlungen von je Fr. 2600.--.
Bei der Bemessung dieser Genugtuungssummen stellte die Vorinstanz einerseits auf das ausschliessliche schwere Verschulden des Urhebers des Unfalles und anderseits auf die besondere Schwere der Verletzung der Kläger in ihren persönlichen Verhältnissen ab.
Die Klägerin 1 verlangt mit der Berufung, die ihr zugesprochene Genugtuungssumme sei auf Fr. 15 000.-- zu erhöhen.
Die Beklagten beantragen mit ihrer Anschlussberufung, die Genugtuungssummen auf die anerkannten und bezahlten Beträge von Fr. 5500.-- für die Witwe und je Fr. 2600.-- für die beiden Kinder herabzusetzen. Sie machen geltend, die Vorinstanz habe mit den von ihr zugesprochenen Beträgen willkürlich und ohne jede stichhaltige Begründung den ihr zustehenden Ermessensrahmen weit überschritten. Es sei ihr insbesondere eine Verwechslung unterlaufen, indem sie auf die Festsetzung der Genugtuung an hinterlassene Angehörige die Grundsätze angewendet habe, die von der Rechtsprechung für die Bemessung der Genugtuung in Fällen schwerer Invalidität befolgt würden. Sie verweisen zur Begründung auf eine Reihe von Entscheiden (BGE 82 II 41,
BGE 90 II 184 S. 190
84 II 299, 88 II 461, 530), in denen die Genugtuung an die Witwe auf Fr. 5000.-- und diejenige an Kinder auf Fr. 1000.-- bis Fr. 3000.-- festgesetzt wurde.Für die Festsetzung von Genugtuungssummen kann jedoch kein Tarif aufgestellt werden, sondern es ist auf die gesamten Umstände abzustellen, die von Fall zu Fall verschieden sind.
Das Verschulden des Urhebers des Unfalles ist von der Vorinstanz entgegen der Auffassung der Anschlussberufung keineswegs unrichtig beurteilt worden. Den Fahrzeuglenker, der seine Geschwindigkeit nicht den gegebenen Sichtverhältnissen anpasst, trifft ein schweresVerschulden. Mit Rücksicht hierauf und angesichts der Schwere des Verlustes, der die Kläger betroffen hat, konnte die Vorinstanz ohne Überschreitung ihrer Ermessensbefugnis die Genugtuungssummen in der von ihr zugesprochenen Höhe festsetzen. Diese liegen durchaus im Rahmen der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichtes. Im Entscheid vom 24. März 1964 i.S. Dénéréaz c. Béchir (BGE 90 II 82 f.) wurde unter Umständen, die mit den hier gegebenen weitgehende Ähnlichkeit aufweisen, der Witwe Fr. 12 000.-- und jedem der sieben Kinder Fr. 5000.-- Genugtuung zugesprochen. Die Anträge der Berufung wie auch der Anschlussberufung sind deshalb abzuweisen.
Die Kläger vermissen im Dispositiv des angefochtenen Entscheides die ausdrückliche Feststellung, dass die drei Beklagten solidarisch haften.
Nach dem SVG, das auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, da sich der Unfall nach dem 1. Januar 1960 ereignet hat, besteht jedoch zwischen dem Haftpflichtversicherer und dem Fahrzeughalter keine echte Solidarität, sondern lediglich sogenannte Anspruchskonkurrenz oder unechte Solidarität (Art. 65 SVG und e contrario Art. 83 Abs. 2 SVG). Ebenso besteht blosse Anspruchskonkurrenz zwischen
BGE 90 II 184 S. 191
dem Halter Otto Mathys, der auf Grund des SVG haftet, und dem Fahrzeuglenker Jean Louis Mathys, der nach Art. 41 OR für den Unfall einzustehen hat. Der einzige Fall, für den das SVG eine Solidarhaftung vorsieht, nämlich derjenige von Art. 60 SVG (mehrere Schädiger), ist hier nicht gegeben.Wie in BGE 89 II 418 Erw. 2 ausgeführt worden ist, sind diese verschiedenen Haftungsfälle der Solidarität stark angenähert. Das trifft um so mehr zu, als in Bezug auf die Verjährung Art. 83 Abs. 2 SVG ausdrücklich die gleiche Lösung vorsieht, wie sie in Art. 136 OR für die echte Solidarität getroffen ist. Da jedoch das Gesetz eine Solidarhaftung nicht anordnet, sondern gegenteils Art. 83 Abs. 2 SVG das Nichtbestehen einer solchen voraussetzt (denn sonst wäre ja die genannte Vorschrift überflüssig), kann nicht gesagt werden, die Vorinstanz habe gegen Bundesrecht verstossen, indem sie es unterliess, im Urteilsdispositiv die Beklagten für die ihnen auferlegten Zahlungsverpflichtungen solidarisch haftbar zu erklären. Es besteht daher kein Anlass, den angefochtenen Entscheid in diesem Punkte zu ändern. Eine solche Änderung wäre übrigens für die Kläger ohne jedes praktische Interesse; denn auch auf Grund der blossen Anspruchskonkurrenz haftet ihnen jeder der drei Beklagten für das Ganze.