53. Urteil der II. Zivilabteilung vom 9. Dezember 1964 i.S. Brugger gegen Zunft zu Webern.
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Regeste
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Entzug der elterlichen Gewalt (Art. 285 ZGB).
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Sachverhalt
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BGE 90 II 471 (472):
A.- Die im Jahre 1933 geborene Hanna Wiesmann heiratete im Jahre 1959 den 30 Jahre älteren, aus Russland zurückgekehrten Emil Brugger. Der Ehe entspross der am 19. Januar 1960 geborene Knabe Serge Alexander. Brugger hatte in Russland eine langjährige Freiheitsstrafe wegen politischer Verbrechen verbüsst. Er fand den Weg ins normale Leben nicht mehr, sondern lebte mit seiner Familie kümmerlich von Vorträgen über seinen Russlandaufenthalt und arbeitete nachts auf der Post. Schliesslich wurde er entmündigt. Am 24. Oktober 1963 setzte er seinem Leben ein Ende, als man ihm androhte, ihn zu versorgen.
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B.- Die Ehefrau war bereits im Frühjahr 1962 von der Poliklinik, wo sie seit einiger Zeit in psychiatrischer Behandlung stand, in die Heil- und Pflegeanstalt Waldau eingewiesen worden. Sie war dort während folgender Zeiten hospitalisiert: vom 30. März bis zum 30. April 1962, vom 12. bis zum 26. Januar 1963 und vom 1. Februar 1963 bis zum 7. März 1964. Während ihres letzten Aufenthaltes in der Waldau arbeitete sie von der Anstalt aus längere Zeit bei der Firma Tobler A. G.
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C.- Der Knabe Serge Alexander musste infolge der in der Ehe seiner Eltern aufgetretenen Spannungen und der Anstaltsaufenthalte seiner unsicher und depressiv gewordenen Mutter oft in fremde Hände gegeben werden. Im Jahre 1963 wurde er in einem Heim untergebracht.
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D.- Am 4. März 1964 leitete die Zunft zu Webern, Bern, als burgerliche Vormundschaftsbehörde ein Verfahren auf Entzug der elterlichen Gewalt gegen Frau Hanna Brugger ein. Diese hatte im Beisein des behandelnden Arztes schriftlich erklärt, es sei ihr nicht möglich, für den Knaben zu sorgen und ihre Mutterpflichten zu erfüllen; sie überlasse es dem Zunftrat, Serge in einem Heim oder in einer geeigneten Familie unterzubringen, und ersuche ihn, für die Erziehung des Kindes besorgt zu sein. Zum Gesuch BGE 90 II 471 (473):
des Zunftrates einvernommen, widersetzte sie sich dann aber der beantragten Massnahme. Dem Befund der psychiatrischen Universitätsklinik Bern vom 13. Mai 1964 ist zu entnehmen, dass Frau Brugger schon während der Schulzeit und auch an ihrem Arbeitsplatze durch Stimmungsschwankungen aufgefallen war. Die Patientin biete heute "das Bild eines leichten schizophrenen Defektzustandes bei einer psychopathisch verbogenen Persönlichkeit".
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E.- Die Gesuchsgegnerin war im Frühjahr 1964 nach Uster übergesiedelt. Als eventuellen Vormund des Kindes hatte sie ihren Vetter Max Greminger vorgeschlagen, und dieser hatte sich zur Übernahme der Vormundschaft bereit erklärt, zog dann aber seine Erklärung zurück, als er vernahm, dass Frau Brugger den Knaben nicht, wie vorgesehen, in einem Kinderheim oder in einer Pflegefamilie unterbringen lassen wollte, sondern andern Sinnes geworden war und ihn nun zu sich in den Haushalt ihrer Mutter aufzunehmen beabsichtigte. Am 21. Mai 1964 wurde Frau Brugger in die Heilanstalt Burghölzli, Zürich, eingewiesen, weil sie "in einen Stupor geraten war, in dem sie regungslos und sprachlos im Bette lag und sich weigerte, irgendwelche Auskunft zu geben". Sie schien den einweisenden Ärzten als stark suicidgefährdet. Die Anstaltsdirektion musste laut ihrem Bericht vom 15. Juni 1946 "die Diagnose auf wahnhafte Geistesstörung bestätigen". Frau Brugger blieb in der Anstalt bis zum 8. August 1964.
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F.- Am 22. Juni 1964 sprach der Regierungsstatthalter II von Bern den Entzug der elterlichen Gewalt aus, und einen Rekurs der Gesuchsgegnerin hat der Regierungsrat des Kantons Bern am 15. September 1964 abgewiesen.
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G.- Mit vorliegender Berufung an das Bundesgericht widersetzt sich die Gesuchsgegnerin weiterhin der verfügten Massnahme und beantragt, der Regierungsrat sei anzuhalten, Massnahmen nach Art. 283 und Art. 284 ZGB zu beschliessen.
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Der Regierungsrat verzichtet auf Gegenbemerkungen. Der Zunftrat zu Webern beantragt Abweisung der Berufung.
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BGE 90 II 471 (474): Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Art. 285 ZGB sieht den Entzug der elterlichen Gewalt in drei Fällen vor, von denen hier nur der erste in Frage steht: der Fall nämlich, dass "die Eltern nicht imstande sind", diese Gewalt auszuüben. Diesem Entzugsgrunde fehlt jeder pönale Charakter (wie übrigens auch dem bei eigener Bevormundung der Eltern auszusprechendenGewaltentzug, da die Bevormundung keinerlei Verschulden voraussetzt). Es handelt sich um eine Massnahme zum Schutze der Kinder. Sie darf freilich nicht ausgesprochen werden, wenn dazu keine schwerwiegenden Gründe bestehen - da die Kinder, auch wenn die Eltern gewisse Charakterfehler haben, in der Regel im Elternhause besser aufgehoben sind als ausserhalb der Familie (vgl. BGE 38 II 452, BGE 42 II 96) -, insbesondere dann nicht, wenn sich zwar ein behördliches Einschreiten rechtfertigt, aber Massnahmen nach Art. 283 und 284 ZGB ausreichen. Das entspricht dem Interesse der Kinder sowohl wie auch dem über den behördlichen Jugendschutz hinaus geltenden Grundsatz der Verhältnismässigkeit des behördlichen Eingriffs (vgl. BGE 87 I 272, 354/55, 453 Erw. 3 und BGE 88 I 67 Erw. 5 und 6). Der Berufungsklägerin ist jedoch darin nicht beizustimmen, dass einem Entzug der elterlichen Gewalt in jedem Falle Massnahmen nach Art. 283 und 284 ZGB vorauszugehen haben, und dass erst dann, wenn sich im einzelnen Falle solche Massnahmen als unzureichend erwiesen haben, ein Gewaltentzug ausgesprochen werden darf. Ein solch stufenweises Vorgehen ist nicht vorgeschrieben; es ist nur dann geboten, wenn die milderen Massnahmen voraussichtlich genügenden Schutz bieten; reichen sie aber von vornherein nicht aus, so ist sogleich der allein wirksame Gewaltentzug auszusprechen (vgl. BGE 82 II 181 und den nicht amtlich veröffentlichten Entscheid vom 7. März 1960, abgedruckt in der Zeitschrift für Vormundschaftswesen 16 S. 150 ff.; kantonale Entscheide in SJZ 37 S. 86 Nr. 48 [Obergericht Zürich] und ZVW 17 S. 14 ff. [Regierungsrat Luzern]; BGE 90 II 471 (475):
EGGER, 2. Aufl. N. 10 zu Art. 283 und N. 1 zu Art. 285 ZGB; SILBERNAGEL, N. 41 hiezu; W. LEHMANN, Die Einschränkung der elterlichen Gewalt..., Diss. 1949, S. 58: "Jede Massnahme hat ihre selbständigen Voraussetzungen").
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Die Berufungsklägerin gibt lediglich zu - und beantragt entsprechende vormundschaftsbehördliche Massnahmen -, dass das Wohl des Kindes, mindestens vorderhand, dessen Wegnahme zu rechtfertigen vermag. Dagegen lässt sie nicht gelten, dass sie im Sinne des Art. 285 ZGB "nicht imstande" sei, die elterliche Gewalt auszuüben. Die von ihr angeführten Entscheidungen besagen jedoch bloss, der Gewaltentzug dürfe nicht verfügt werden, wenn der Inhaber der elterlichen Gewalt bloss aus äussern Gründen die Kinder nicht persönlich betreuen kann (vgl. auch BGE 82 II 476/77; ZbJV 72 S. 566 [Appellationshof Bern]; M. BOEHLEN, Entzug und Wiederherstellung der elterlichen Gewalt, Monatsschrift für bernisches Verwaltungsrecht 52 S. 214). Bei der Berufungsklägerin handelt es sich aber nicht um äussere Schwierigkeiten, sondern um Krankheitserscheinungen, die sie nicht nur daran hindern, das Kind persönlich zu betreuen, sondern auch ausserstand setzen, die Erziehung durch Drittpersonen fortwährend zu überwachen und die durch die jeweiligen Umstände gebotenen Entschlüsse in bezug auf die Unterbringung und Betreuung des Kindes zu fassen. Angesichts des Sachverständigenbefundes vom 13. Mai 1964, der keine schlechte Prognose stellte, hätte sich zwar fragen können, ob man es nicht bei einer Wegnahme und Unterbringung des Kindes bewenden lassen könne. Der bereits acht Tage später eingetretene Rückfall und der hierauf festgestellte psychische Zustand der Berufungsklägerin rechtfertigen jedoch den Schluss, es bestehe Gefahr, dass sie auch in Zukunft in Zustände gerät, in denen sie vor allem geistig nicht in der Lage ist, sich gehörig um das Kind zu kümmern, sei es durch persönliche Pflege, sei es durch Beauftragung anderer Personen. Bei dieser Sachlage muss ihr die elterliche Gewalt entzogen und BGE 90 II 471 (476):
auf diese Weise namentlich die Entscheidung über Aufenthalt, Erziehung und berufliche Ausbildung des Kindes in die Hände eines geeigneten Vormundes gelegt werden. Das schliesst einen persönlichen Verkehr zwischen Mutter und Kind nicht aus, sofern kein entgegenstehendes Kindesinteresse besteht (vgl. BGE 72 II 10 ff., BGE 89 II 2 ff. zu Art. 156 Abs. 3 ZGB; HEGNAUER, N. 64 zu Art. 285 ZGB).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Berufung wird abgewiesen und der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Bern vom 15. September 1964 bestätigt.
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