Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
Urteilskopf

93 II 354


47. Urteil der II. Zivilabteilung vom 13. Oktober 1967 i.S. Eheleute Pater.

Regeste

Klage eines ungarischen Flüchtlings auf Scheidung seiner Ehe mit einer Deutschen; Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte.
1. Die Rüge, ein letztinstanzlicher kantonaler Zwischenentscheid über diese Zuständigkeit verletze Bundesrecht, ist nicht durch Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 68 Abs. 1 lit. b OG), sondern durch Berufung (Art. 49 OG) zu erheben (Erw. 1).
2. Tragweite von Art. 7 h Abs. 1 NAG (Erw. 2 Abs. 1; vgl. auch Erw. 5 Abs. 1). Staatsangehörigkeit des Klägers. Nichtanerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes durch seinen Heimatstaat. Nichtanerkennung seiner Ehe? (Erw. 2 Abs. 2 und 3).
3. Ein in der Schweiz wohnender Flüchtling, der unter das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 fällt, kann an seinem Wohnsitz auf Grund des schweizerischen Rechts auf Scheidung klagen, ohne nachweisen zu müssen, dass Gesetz oder Gerichtsgebrauch seiner Heimat den angerufenen Scheidungsgrund zulassen und den schweizerischen Gerichtsstand anerkennen (Erw. 3).
4. Für die Ungarn, die ihr Land im Anschluss an die dortigen Ereignisse vom Oktober 1956 aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 1 lit. A Ziff. 2 des Abkommens vom 28. Juli 1951 verliessen, gilt das Abkommen in den Vertragsstaaten schon heute, d.h. schon vor dem Beitritt zum Protokoll vom 31. Januar 1967, das den Stichtag des 1. Januar 1951 beseitigt (Erw. 4; Änderung der Rechtsprechung).
5. Nachweis, dass der Heimatstaat der Beklagten den schweizerischen Gerichtsstand anerkennt. Anwendung der einschlägigen deutschen Vorschriften durch das Bundesgericht (Art. 65 OG). (Erw. 5, 6).

Sachverhalt ab Seite 355

BGE 93 II 354 S. 355

A.- Pater, der als ungarischer Staatsangehöriger in Ungarn geboren worden war, verliess dieses Land im Anschluss an die dortigen politischen Ereignisse vom Oktober 1956. Er befindet sich seit dem 17. November 1956 in der Schweiz. Seit April 1957 arbeitet er in Zofingen. Am 6. April 1957 stellte ihm die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements
BGE 93 II 354 S. 356
einen Reiseausweis im Sinne von Art. 28 des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (AS 1955 S. 443 ff.) aus, und am 1. Oktober 1966 bestätigte sie, dass er Flüchtling im Sinne dieses Abkommens sei.
Im Juli 1965 heiratete Pater in Zofingen Frau Gedövari, die ebenfalls aus Ungarn stammt, aber nach der Darstellung beider Parteien infolge einer frühern, durch Scheidung aufgelösten Ehe die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

B.- Am 2. Juni 1966 reichte der Ehemann beim Bezirksgericht Zofingen Klage auf Scheidung der Ehe wegen tiefer Zerrüttung ein. Die Ehefrau, die bei der Sühneverhandlung vom 29. März 1966 die Weiterführung der Ehe abgelehnt und die Scheidung verlangt hatte, stellte mit Eingabe vom 8. Juli 1966 den Antrag, auf die Klage sei wegen Unzuständigkeit der schweizerischen Gerichte nicht einzutreten.
Am 6. Oktober 1966 wies das Bezirksgericht die Unzuständigkeitseinrede der Beklagten ab.
Das Obergericht des Kantons Aargau hat am 13. Januar 1967 dieBeschwerde der Beklagten gegen diesen Entscheid abgewiesen.

C.- Gegen den Entscheid des Obergerichts hat die Beklagte beim Bundesgericht "Beschwerde" eingereicht mit dem Antrag, ihre Unzuständigkeitseinrede sei zu schützen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der angefochtene Entscheid ist ein Zwischenentscheid, der in einem Scheidungsprozess, also in einer nicht vermögensrechtlichen Zivilrechtsstreitigkeit im Sinne von Art. 44 OG, ergangen ist. Mit der "Beschwerde" gegen diesen Entscheid wird geltend gemacht, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Beurteilung dieses Prozesses bejahte. Eine solche Rüge kann gemäss Art. 49 OG mit der Berufung an das Bundesgericht erhoben werden (vgl. BGE 85 II 159, wonach auch die Frage der internationalen Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Frage der örtlichen Zuständigkeit im Sinne von Art. 49 OG gehört). Die "Beschwerde" der Beklagten genügt den Vorschriften, die für die Berufung gelten. Sie ist deshalb als Berufung zu behandeln. Die Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne von Art. 68 OG ist nach dieser Bestimmung ausgeschlossen, wo die Berufung zulässig ist.
BGE 93 II 354 S. 357

2. Nach Art. 7 h Abs. 1 NAG kann ein ausländischer Ehegatte, der in der Schweiz wohnt, eine Scheidungsklage beim Richter seines Wohnsitzes anbringen, wenn er nachweist, dass nach Gesetz oder Gerichtsgebrauch seiner Heimat der geltend gemachte Scheidungsgrund zugelassen und der schweizerische Gerichtsstand anerkannt ist. Das Gesetz fordert diesen Nachweis, um nach Möglichkeit zu vermeiden, dass die Scheidung nicht schweizerischer Ehegatten durch schweizerische Gerichte Konflikte mit den Heimatstaaten dieser Personen hinsichtlich des Zivilstands schafft. Hieraus hat die Rechtsprechung abgeleitet, der klagende ausländische Ehegatte habe, wenn der Beklagte nicht dem gleichen ausländischen Staat angehört wie er, den nach Art. 7 h Abs. 1 NAG erforderlichen Nachweis grundsätzlich nicht bloss für sich selbst, sondern auch für den Beklagten zu erbringen (BGE 59 II 114). Ist aber ein Ehegatte staatenlos, so ist es nicht möglich und nach dem Grundgedanken des Gesetzes auch nicht nötig, den erwähnten Nachweis für ihn zu leisten (BGE 59 II 114). Unnötig ist dieser Nachweis auch für einen Ehegatten, dessen Heimatstaat die zu scheidende Ehe nicht anerkennt (STAUFFER N. 12, BECK N. 25 zu Art. 7 h NAG).
Der Kläger behauptet nicht, und es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm wegen oder im Zusammenhang mit seiner Flucht aus Ungarn die ungarische Staatsangehörigkeit entzogen worden sei (vgl. zu dieser Frage MICHEL, "Zur Scheidung der Ehe ungarischer Staatsangehöriger, die nach dem Aufstand von 1956 in die Bundesrepublik Deutschland flüchteten", in Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht [FamRZ], 1961, S. 198). Er ist deshalb auch heute noch als ungarischer Staatsangehöriger zu betrachten. Als solcher vermag er den Nachweis der Anerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes durch den Heimatstaat für seine Person nicht zu leisten, weil nach einem ungarischen Erlass vom 28. Dezember 1952 die ungarischen Gerichte in Prozessen über den Personalstand ungarischer Staatsangehöriger, von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen, ausschliesslich zuständig sind, und zwar auch dann, wenn nur eine Partei die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt (ungarische Verordnung mit Gesetzeskraft Nr. 22/1952 betr. Inkrafttreten und Durchführung des Gesetzes Nr. III/1952 über die Zivilprozessordnung, § 15, ins Deutsche übersetzt in Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht [RabelsZ] 1954
BGE 93 II 354 S. 358
S. 151, sowie bei BERGMANN, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 3. Aufl., Band V, Art. Ungarn [Stand 31. Januar 1958] S. 8; BGE 88 II 329 mit Hinweis auf Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden [VEBB] 1958 Nr. 39 I; BOSCHAN, Europäisches Familienrecht, 3. Aufl., Berlin u. Frankfurt a. M. 1963, S. 491 unten in Verbindung mit S. 500 Ziff. IX B; PALANDT, BGB, 25. Aufl., München und Berlin 1966, N. 6 a. E. zu EGBGB 17, S. 1739).
Ob allenfalls Ungarn der vom Kläger nach seiner Flucht in die Schweiz geschlossenen Ehe die Anerkennung versage und der Kläger aus diesem Grunde den Nachweis der Anerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes durch Ungarn nicht zu leisten habe, kann dahingestellt bleiben, wenn sich dieser Nachweis aus einem andern Grunde als entbehrlich erweist. (Das ungarische Gesetz Nr. V/1957 über die Staatsbürgerschaft hat den Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit durch Eheschliessung mit einem Ungarn abgeschafft; siehe SZLEZAK, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Ungarn, Frankfurt a. M. 1959, S. 92 und 184 ff., insbesondere §§ 1 und 7. Wenn die Beklagte die ungarische Staatsangehörigkeit, die sie durch die Heirat mit einem Deutschen im Jahre 1942 verlor, durch die Heirat mit dem Kläger im Jahre 1965 nicht wiedererlangt hat, so liegt hierin also kein Indiz dafür, dass Ungarn die Ehe der Parteien nicht anerkenne oder dass der Kläger die ungarische Staatsangehörigkeit nicht mehr besitze.)

3. Art. 12 Ziff. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, das der Kläger anruft, lautet in der französischen Originalfassung:
"Le statut personnel de tout réfugié sera régi par la loi du pays de son domicile ou, à défaut de domicile, par la loi du pays de sa résidence."
Unter dem "statut personnel" (englische Fassung: "personal status") eines Flüchtlings, den diese Bestimmung dem Gesetz seines Wohnsitzlandes oder - beim Fehlen eines Wohnsitzes - dem Gesetz seines Aufenthaltslandes unterstellt, ist richtigerweise die persönliche Rechtsstellung zu verstehen (vgl. MAKAROv in RabelsZ 1955 S. 112/113). Der Ausdruck "personenrechtliche Stellung", den die deutsche Übersetzung des Abkommens in der Sammlung der eidgenössischen Gesetze verwendet (AS 1955 S. 448), ist zu eng (im gleichen Sinne MOSER, ZSR 1967
BGE 93 II 354 S. 359
II 456 Anm. 322). Zur persönlichen Rechtsstellung einer Person gehören u.a. ihre familienrechtlichen Beziehungen (BBl 1954 II 75/76; BGE 88 II 329 f. und BGE 92 I 385; MAKAROV a.a.O. S. 112 Fussnote 14 mit Hinweis auf einen amerikanischen Kommentar des Abkommens, wonach sich Art. 12 u.a. mit den "family rights" befasst).
Art. 16 des Abkommens stellt die Flüchtlinge hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten den Angehörigen des Staates gleich, wo sie ihren Wohnsitz bzw. ihren ordentlichen Aufenthalt haben.
Die Regelung des Abkommens, dem die Schweiz beigetreten ist, geht innerhalb ihres Geltungsbereichs der Regel des Art. 7 h Abs. 1 NAG vor.
Ein Flüchtling, der unter das Abkommen fällt und wie der Kläger in der Schweiz wohnt, kann daher an seinem Wohnsitz (Art. 144 ZGB) auf Grund des schweizerischen materiellen Rechts auf Scheidung klagen, ohne für seine Person nachweisen zu müssen, dass Gesetz oder Gerichtsgebrauch seiner Heimat den angerufenen Scheidungsgrund zulassen und den schweizerischen Gerichtsstand anerkennen (BBl 1954 II 76). Ist auch der beklagte Ehegatte Flüchtling im Sinne des Abkommens, so erübrigt sich dieser Nachweis für beide Ehegatten (BGE 88 II 330). Ist der Beklagte dagegen ein Ausländer ohne die Eigenschaft eines solchen Flüchtlings, so muss dieser Nachweis nach der herrschenden Rechtsprechung für ihn erbracht werden, es sei denn, dass dem Kläger zur Vermeidung einer Rechtsverweigerung ein sog. Notgerichtsstand in der Schweiz zu gewähren ist (VEBB 1957 Nr. 65, 1958 Nr. 39 II, 1959/60 Nr. 76; BGE 88 II 330 /331).

4. Nach Art. 1 lit. A Ziff. 2 des Abkommens vom 28. Juli 1951 ist Flüchtling im Sinne dieses Abkommens u.a. jede Person, die sich infolge von vor dem 1. Januar 1951 eingetretenen Ereignissen (par suite d'événements survenus avant le premier janvier 1951) und aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Auffassungen ausserhalb ihres Heimatlandes befindet und dessen Schutz nicht beanspruchen kann oder wegen dieser Befürchtung nicht beanspruchen will.
Im Falle BGE 88 II 329 ff., wo beide Parteien ungarische Flüchtlinge waren, hat das Bundesgericht angenommen, die
BGE 93 II 354 S. 360
Voraussetzungen von Art. 1 des Abkommens seien nicht erfüllt, weil die Parteien erst durch die Ereignisse in Ungarn vom Herbst 1956 zur Flucht bestimmt worden seien; ob die wegen dieser Ereignisse geflüchteten Ungarn in der Schweiz trotz dem entgegenstehenden Wortlaut von Art. 1 ohne weiteres in jeder Beziehung als Flüchtlinge im Sinne des Abkommens zu gelten haben, wie das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement nach seinen von der Vorinstanz erwähnten Schreiben vom 18. Juni und 16. Juli 1957 in Sachen K. anzunehmen scheine, könne dahingestellt bleiben; denn der Klägerin müsste, selbst wenn Art. 12 des Abkommens formell nicht anwendbar wäre, zur Vermeidung einer Rechtsverweigerung gestattet werden, an ihrem schweizerischen Wohnsitz gegen den ebenfalls in der Schweiz wohnhaften Ehemann auf Scheidung zu klagen.
Schon in dem vom Bundesrat genehmigten Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 7. März 1957 über die schweizerische Asylpraxis in neuester Zeit, der als Anhang zum Bericht von Prof. Ludwig über "Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955" veröffentlicht wurde (Beilage zum Bundesblatt 1957 II, S. 410 ff.), war indessen erklärt worden, das Abkommen gelte auch für die neuen ungarischen Flüchtlinge; die Voraussetzungen des Art. 1 seien bei ihnen erfüllt, "liegt doch der Grund zur Flucht in der Auseinandersetzung des ungarischen Volkes mit dem politischen Regime, wie es seit 1948 in Ungarn besteht"; das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge teile diese Auffassung, und auch die Mehrzahl der Mitgliedstaaten in Europa habe kürzlich an der Sitzung des Exekutivkomitees des Hochkommissariats erklärt, das Abkommen werde auch auf die neuen ungarischen Flüchtlinge angewendet (a.a. O. S. 415, vgl. dazu MOSER, ZSR 1967 II 447). Die Polizeiabteilung des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements hat dem Kläger auf Grund dieser Auffassung im April 1957 einen Reiseausweis im Sinne von Art. 28 des Abkommens ausgestellt und später ausdrücklich bestätigt, er sei Flüchtling im Sinne des Abkommens.
Im Jahre 1965 führte der damalige Hochkommissar für die Flüchtlinge, SCHNYDER, in einer Vorlesung an der Académie de droit international de La Haye aus, der vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen zur Vorbereitung des Abkommens eingesetzte Sonderausschuss habe in seinem Bericht die Auffassung vertreten, die Festsetzung eines Stichtages bezwecke
BGE 93 II 354 S. 361
nicht, die Anwendung des Abkommens auf Personen auszuschliessen, die in einem spätern Zeitpunkte Flüchtlinge werden sollten infolge von vor dem 1. Januar 1951 eingetretenen Ereignissen oder infolge von Wirkungen solcher Ereignisse, die sich erst später zeigen ("à la suite d'effets de tels événements qui ne se manifesteraient qu'à une date ultérieure"): in der Praxis seien die Mitgliedstaaten dieser Auffassung gefolgt; so hätten sie die Eigenschaft von Flüchtlingen im Sinne des Abkommens den Ungarn zuerkannt, die ihr Land im Laufe und im Gefolge der dramatischen Ereignisse vom Jahre 1956 verliessen, welche man als Nachwirkungen ("séquelles") von vor dem 1. Januar 1951 eingetretenen Ereignissen betrachtet habe (Académie de droit international, Recueil des cours, 1965 I, Band 154 der Sammlung, S. 364 f.).
In der Bundesrepublik Deutschland, die zu den Vertragsstaaten gehört und deren Praxis hier wegen der deutschen Staatsangehörigkeit der Beklagten neben der schweizerischen Praxis von besonderer Bedeutung ist, hat die innere Verwaltung nach den Feststellungen, die das Oberlandesgericht Stuttgart in einem Urteil vom 13. Februar 1962 (FamRZ 1962 S. 160 f.) auf Grund der Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern vom 20. Dezember 1956 und 13. September 1957 traf, die - anerkannten - Ungarnflüchtlinge des Winters 1956/57 von Anfang an als Flüchtlinge im Sinne des Abkommens behandelt (vgl. auch MICHEL a.a.O., der ebenfalls auf das Rundschreiben des genannten Bundesministeriums vom 13. September 1957 hinweist und daraus den gleichen Schluss zieht wie das Oberlandesgericht Stuttgart). Das Oberlandesgericht Stuttgart hat sich im erwähnten Urteil der dargestellten Verwaltungspraxis mit näherer Begründung angeschlossen. Der bereits zitierte Kommentar PALANDT erklärt unter Hinweis auf dieses Urteil und den Aufsatz von MICHEL, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Abkommens sei für die Ungarnflüchtlinge des Jahres 1956 anerkannt (N. 6 a. E. zu EGBGB 17, S. 1739). Der Kommentar ERMAN zum BGB (4. Aufl., 2. Band,Münster/Westf. 1967) bemerkt, unter die Konvention falle auch, wer auf Grund der vor dem Stichtag in den osteuropäischen Staaten eingetretenen politischen Umwälzungen nach dem Stichtag geflohen ist (Anhang zu Art. 29 EGBGB, Bem. zu Art. 1 lit. A des Abkommens, S. 1824).
Bei Beurteilung der Anwendbarkeit und der Bedeutung staatsvertraglicher
BGE 93 II 354 S. 362
Abmachungen ist die Praxis der politischen und administrativen Behörden für die Gerichte nicht verbindlich (BGE 81 II 330; ebenso das angeführte deutsche Urteil). Sie ist aber für die eigene Meinungsbildung des Richters immerhin von wesentlichem Interesse (BGE 81 II 330). Das gilt ganz besonders dann, wenn es sich wie hier um ein internationales Abkommen handelt, dessen Anwendung zum weitaus grössten Teil in den Händen der genannten Behörden liegt. In einem solchen Falle lässt sich ein Abweichen von der Praxis dieser Behörden nur rechtfertigen, wenn schlechthin zwingende Gründe ihre Übernahme verbieten. So verhält es sich hier nicht. Die Bedenken, die in der Regel gegen eine ausdehnende Auslegung staatsvertraglicher Abmachungen bestehen mögen (BGE 90 I 47 unten mit Hinweisen), fallen weg, wenn wie hier die Praxis aller Vertragsstaaten oder doch die Praxis der Staaten, die an dem zu beurteilenden Falle unmittelbar interessiert sind, der fraglichen Auslegung zustimmt.
Der Kläger ist daher auch von den schweizerischen Gerichten als Flüchtling im Sinne des Abkommens von 1951 zu behandeln, so dass er für seine Person den durch Art. 7 h Abs. 1 NAG geforderten Nachweis nicht zu leisten hat.
(Voraussichtlich wird übrigens bei Erlass des Sachurteils im vorliegenden Prozess für die Schweiz und für die Bundesrepublik Deutschland das Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge gelten, das den Stichtag des 1. Januar 1951 beseitigt und das gemäss Bekanntmachung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge vom 5. Oktober 1967 infolge Hinterlegung der sechsten Beitrittsurkunde in Kraft getreten ist.)

5. Zu prüfen bleibt nach der Rechtsprechung, ob der Nachweis im Sinne von Art. 7 h Abs. 1 NAG für die Beklagte erbracht sei. Ist diese Frage zu bejahen, so kann dahingestellt bleiben, ob und allenfalls in welchem Sinne der von der Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz, dass dieser Nachweis nicht nur für den Kläger, sondern auch für den Beklagten erforderlich ist, zu lockern sei.
Die Vorinstanz hat zur Frage der Anerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes durch den Heimatstaat der Beklagten nicht Stellung genommen. Sie hat also das deutsche Recht, das für den Entscheid über die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Beurteilung der vorliegenden Scheidungsklage
BGE 93 II 354 S. 363
neben Art. 7 h NAG und dem ebenfalls zum schweizerischen Bundesrecht gehörenden Flüchtlingsabkommen massgebend ist, nicht angewendet. Das Bundesgericht ist daher nach Art. 65 OG befugt, es selbst anzuwenden. Sein Inhalt lässt sich auf Grund des einschlägigen Schrifttums mit genügender Zuverlässigkeit ermitteln (vgl. zu diesem Erfordernis BGE 93 II 184 b mit Hinweisen).

6. Für Klagen auf Scheidung einer Ehe kann nach § 606 der deutschen ZPO stets ein deutsches Gericht angerufen werden, wenn auch nur einer der beiden Ehegatten die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (STEIN/JONAS, Kommentar zur ZPO, 17./18. Aufl., Tübingen 1956 ff., N. II zu § 606 b [4. Nachtrag Juli 1960]; ROSENBERG, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 8. Aufl., München und Berlin 1960, § 161 II l'S. 804; RAAPE, Internationales Privatrecht, 5. Aufl., Berlin und Frankfurt a. M. 1961, S. 298; BAUMBACH/LAUTERBACH, ZPO, 28. Aufl., München und Berlin 1965, N. 2 A zu § 606 b). Zuständig ist in solchen Fällen nach § 606, wenn keiner der Ehegatten im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, das Landgericht Berlin (STEIN/JONAS N. II 2 f zu § 606; ROSENBERG a.a.O. Ziff. 2 S. 804 f.; BAUMBACH/LAUTERBACH N. 4 A zu § 606). Auf eine Klage, die der in der Schweiz wohnhafte Kläger dort anbrächte, wäre gemäss Art. 17 Abs. 1 EGBGB in Verbindung mit Art. 12 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens grundsätzlich schweizerisches Recht anwendbar (vgl. RAAPE S. 294 Ziff. 6 in Verbindung mit S. 63 und das erwähnte Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart, das auf die Klage eines in Deutschland wohnhaften ungarischen Flüchtlings unter Berufung auf die genannten Bestimmungen deutsches Recht als das Recht des Wohnsitzlandes des Klägers angewendet hat). Im Hinblick auf diese Klagemöglichkeit dürfte im vorliegenden Falle nicht angenommen werden, dem klagenden Ehegatten müsse zur Vermeidung einer Rechtsverweigerung ein Notgerichtsstand in der Schweiz gewährt werden, wie es im Falle BGE 88 II 329 ff. geschehen war.
Deutschland beansprucht jedoch für die Scheidung von Ehen, bei denen wenigstens ein Ehegatte Deutscher ist, in internationaler Hinsicht nicht die ausschliessliche Zuständigkeit in dem Sinne, dass es ausländischen Urteilen auf Scheidung solcher Ehen die Anerkennung in jedem Fall versagen würde. Der Umstand, dass § 606 ZPO die dort vorgesehenen Gerichtsstände als ausschliessliche bezeichnet, hindert die Anerkennung derartiger
BGE 93 II 354 S. 364
Urteile in Deutschland namentlich dann nicht, wenn der Beklagte (Mann oder Frau) nicht Deutscher ist, oder wenn der Beklagte zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland hat, oder wenn die Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt im Ausland hatten (STEIN/JONAS N. V zu § 606 b ZPO; ROSENBERG § 149 III 3 b, S. 748; RAAPE S. 308 f.; BAUMBACH/LAUTERBACH N. 2 B zu § 606 a ZPO, S. 1024; PALANDT N. 6 b zu EGBGB 17, S. 1739 unten; VEBB 1959/60 Nr. 71, Erw. 2 S. 144). Im vorliegenden Falle hat die Beklagte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz und hatten die Ehegatten ihren letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt ebenfalls in diesem Lande. Daher ist anzunehmen, dass der schweizerische Gerichtsstand durch Deutschland anerkannt würde, wenn beide Ehegatten deutsche Staatsangehörige wären. Das gleiche darf aber auch angenommen werden für den hier gegebenen Fall, dass nur die Beklagte die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und der Kläger ein unter das internationale Abkommen fallender Flüchtling ist. Die Tatsache, dass der Heimatstaat des Klägers die Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts nicht anerkennt, steht der Anerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes durch Deutschland nicht im Wege, weil Art. 16 des für die Schweiz und für Deutschland geltenden Flüchtlingsabkommens die Flüchtlinge im Sinne des Abkommens hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten den Angehörigen ihres Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsstaates gleichstellt (vgl. das angeführte Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart, FamRZ 1962 S. 161).
Der Nachweis der Anerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes durch das Heimatland der Beklagten darf somit als erbracht gelten. (Den - im voraus unmöglich zu erbringenden - Nachweis der Anerkennung des Urteils durch den Heimatstaat fordert Art. 7 h NAG nicht; vgl. BGE 43 II 283 Erw. 3 und STAUFFER N. 10, BECK N. 50 zu Art. 7 h NAG.)
Hinsichtlich der Frage, ob das Heimatland der Beklagten den geltend gemachten Scheidungsgrund zulasse, genügt für den vorliegenden Zuständigkeitsentscheid die Feststellung, dass die Klage damit begründet wird, die Ehe sei aus Verschulden der Beklagten tief zerrüttet, und dass in derartigen Fällen der Scheidungsgrund von § 43 des deutschen Ehegesetzes zutreffen kann. Die nähere Prüfung der Frage, ob die Scheidung im vorliegenden
BGE 93 II 354 S. 365
Falle nach deutschem Recht zulässig sei, ist dem Sachurteil vorzubehalten.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau (1. Zivilabteilung) vom 13. Januar 1967 wird bestätigt.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5 6

Dispositiv

Referenzen

BGE: 88 II 329, 88 II 330, 81 II 330, 85 II 159 mehr...

Artikel: Art. 7 h Abs. 1 NAG, Art. 7 h NAG, Art. 49 OG, Art. 65 OG mehr...