94 II 217
Urteilskopf
94 II 217
36. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. März 1968 i.S. Eheleute Naef.
Regeste
Nebenfolgen der Scheidung; Entschädigung wegen Beeinträchtigung von Anwartschaften (Art. 151 Abs. 1 ZGB); Die Anwartschaften des schuldigen Ehegatten können bei der Anwendung des Art. 151 ZGB von Bedeutung sein, soweit sie die Anwartschaften des schuldlosen Ehegatten beeinflussen.
Voraussetzungen, unter denen bei der Festsetzung der dem schuldlosen Ehegatten nach Art. 151 Abs. 1 ZGB gebührenden Entschädigung eine voraussehbare künftige Veränderung der Verhältnisse (insbesondere eine vorauszusehende Zunahme des Einkommens und Vermögens des schuldigen Ehegatten) berücksichtigt werden darf.
6. Die Kapitalentschädigung von Fr. 75 000.--, welche die Klägerin für den Verlust von Anwartschaften verlangte, wurde ihr vom Bezirksgericht mit der Begründung zugesprochen, die Scheidung zerstöre ihre Anwartschaft auf einen Teil des Nachlasses des Beklagten, der seinerseits eine Erbanwartschaft im Werte von mindestens Fr. 300 000.-- habe. Das Obergericht, das den erstinstanzlichen Entscheid hinsichtlich der Höhe der Kapitalentschädigung bestätigte, erachtete die Mitberücksichtigung
BGE 94 II 217 S. 218
der Anwartschaften des belangten Ehegatten ebenfalls als zulässig und stellte vor allem die Vorteile in Rechnung, welche die Klägerin ohne die Scheidung zu Lebzeiten des Beklagten aus dem Mitgenuss der Mehreinkünfte, die der Beklagte nach dem Tode seiner Mutter zu erwarten hat, gezogen hätte. Der Beklagte macht demgegenüber geltend, Anwartschaften des belangten Ehegatten dürften bei der Anwendung von Art. 151 ZGB überhaupt nicht in Betracht gezogen werden; es sei ausschliesslich auf dessen gegenwärtige Vermögenslage abzustellen und zu prüfen, welche Anwartschaften dem Ansprecher aus dieser Lage erwachsen.Die Meinungen darüber, ob bei der Bemessung der Entschädigung nach Art. 151 Abs. 1 ZGB auch Anwartschaften des schuldigen Ehegatten zu berücksichtigen seien, sind geteilt. Die Frage wird verneint vom Kantonsgericht Waadt in einem Urteil vom 28. Januar 1925 (SJZ 21, 1924/25, S. 294), von SEEGER, Die Rechtsprechung in Ehescheidungs- und Trennungssachen nach schweiz. ZGB, ZSR 1929 S. 203 a, von BRANDENBERGER, Die vermögensrechtlichen Folgen der Ehescheidung, Zürcher Diss. 1933, S. 45, und grundsätzlich auch von ESENER, L'obligation de réparer les préjudices résultant du divorce en droit suisse, Genfer Diss. 1951, S. 57/58. Bejaht wird sie dagegen von PICOT, ZSR 1929 S. 67 a, der den erwähnten Entscheid des Kantonsgerichts Waadt als unrichtig betrachtet, sowie von EGGER, N. 7 zu Art. 151 ZGB, und von SCHWANDER, Die Entschädigung wegen Eheauflösung nach Art. 151 Abs. 1 ZGB, Freiburger Diss. 1937, S. 55/56. Der von EGGER angeführte Entscheid des bernischen Appellationshofes vom 16. September 1924 (ZBJV 61, 1925, S. 271 ff.) befasst sich nicht mit Art. 151 ZGB, sondern bemerkt unter Berufung auf GMÜR (N. 9 zu Art. 152 ZGB) bloss, bei der Anwendung von Art. 152 ZGB, wonach die Bedürftigkeitsrente den "Vermögensverhältnissen" (facultés) des pflichtigen Ehegatten zu entsprechen hat, seien das Vermögen, die Anwartschaften (espérances) und das Einkommen dieses Ehegatten in Betracht zu ziehen, und stellt dann fest, aus den Akten gehe nicht hervor, dass der beitragspflichtige Ehemann von seinen Eltern etwas zu erwarten habe. Das Bundesgericht nahm in BGE 80 II 187 ff. beim Entscheid darüber, ob das Scheidungsurteil in allgemeiner Form die spätere Erhöhung einer Entschädigungsrente vorbehalten dürfe, u.a. an, das Gesetz gehe davon aus, dass "die finanziellen Nebenfolgen nach
BGE 94 II 217 S. 219
Art. 151/52 auf Grund der zur Zeit des Scheidungsurteils vorhandenen und der mit Sicherheit zu erwartenden Gegebenheiten zu bemessen..." seien (S. 190/91). In BGE 85 II 73 ff., wo es sich um die Auslegung einer Scheidungsvereinbarung handelte, führte das Bundesgericht (S. 77 f.) u.a. aus, der einzige Titel, unter dem die Klägerin, vom Verlust des ehelichen Unterhaltsanspruchs abgesehen, bei der Scheidung einen finanziellen Anspruch gegen den Ehemann habe stellen können, sei nach den Akten "der Verlust der Erbanwartschaft gegenüber dem Ehemann, der von seinen Eltern ein bedeutendes Erbe zu erwarten hatte"; die Entschädigung für den Verlust dieser Anwartschaft sei in der vereinbarten, beim Tode des Ehemannes verfallenden Kapitalentschädigung zu erblicken.Objektive Voraussetzung des Anspruchs auf eine Entschädigung nach Art. 151 Abs. 1 ZGB ist, dass durch die Scheidung die "Vermögensrechte oder Anwartschaften" (les intérêts pécuniaires, même éventuels; i diritti patrimoniali o le aspettative) des schuldlosen Ehegatten beeinträchtigt werden. Indem das Gesetz neben den Vermögensrechten die Anwartschaften nennt, sieht es vor, dass der schuldlose Ehegatte eine Entschädigung nicht nur für den Verlust von Vermögensrechten verlangen kann, die er in seiner Eigenschaft als Ehegatte zur Zeit der Scheidung bereits besass, sondern auch für den Verlust von vermögensrechtlichen Ansprüchen, die bei der Scheidung noch nicht bestanden, aber bei Fortdauer der Ehe voraussichtlich entstanden wären. Der weit gefasste Wortlaut von Art. 151 Abs. 1 ZGB (vgl. namentlich auch den französischen Text, auf den schon BGE 38 II 54 hinweist) erlaubt auch die Berücksichtigung des Umstandes, dass die vermögensrechtlichen Ansprüche, die dem schuldlosen Ehegatten zur Zeit der Scheidung zustanden oder in Aussicht standen, sich bei Fortdauer der Ehe infolge einer zu erwartenden Änderung der Verhältnisse erhöht hätten. Bei der Anwendung von Art. 151 Abs. 1 ZGB darf also gegebenenfalls in Betracht gezogen werden, dass das den Umfang des Unterhaltsanspruchs beeinflussende Einkommen des Ehemannes und dessen Vermögen, nach dem sich die Höhe der Erbanwartschaft der Ehefrau richtet, in Zukunft aus bestimmten Gründen, z.B. infolge einer dem Ehemann zufallenden Erbschaft, voraussichtlich zunehmen werden. Die Auffassung SEEGERS, der (vgl. a.a.O.) zwar die Möglichkeit einer Verminderung des Einkommens oder Vermögens des schuldigen Ehegatten in Rechnung stellen, die
BGE 94 II 217 S. 220
Aussicht auf eine Verbesserung dieser Verhältnisse aber als mit dem Wesen der Ehescheidung unvereinbar ausser Betracht lassen will, widerspricht dem Gesetz, das nach dem allgemein gehaltenen Wortlaut und dem Sinne des Art. 151 Abs. 1 ZGB darauf abstellt, ob und wieweit "die gesamte gegenwärtige und zukünftige ökonomische Lage" des schuldlosen Ehegatten durch die Scheidung beeinträchtigt wird (BGE 38 II 54).Die Mitberücksichtigung einer vorauszusehenden künftigen Veränderung der Verhältnisse verlangt selbstverständlich eine besonders sorgfältige Prüfung und Abwägung aller Umstände. Blosse subjektive Erwartungen des schuldlosen Ehegatten dürfen einer Anwartschaft im Sinne von Art. 151 Abs. 1 ZGB nicht gleichgestellt werden. Es muss vielmehr begründete Aussicht darauf bestehen, dass die Tatsachen, die dem schuldlosen Ehegatten bei Fortdauer der Ehe ein bestimmtes Recht verschafft oder seine Ansprüche erhöht hätten, wirklich eintreten werden. Die in BGE 80 II 190 f. gebrauchte Wendung, wonach bei Bemessung der Ansprüche aus Art. 151/52 ZGB neben den zur Zeit des Scheidungsurteils vorhandenen nur die "mit Sicherheit" zu erwartenden Gegebenheiten in Betracht fallen, ist dagegen zu eng. Eine gewisse Unsicherheit liegt im Wesen der Anwartschaft. Dieser vom Gesetz in Kauf genommenen Unsicherheit ist bei der Bemessung der Entschädigung und allenfalls bei der Bestimmung der Zahlungsmodalitäten Rechnung zu tragen (vgl. BGE 85 II 78 f.).
Die Auffassung des Beklagten, die Anwartschaften des schuldigen Ehegatten seien bei der Festsetzung der Entschädigung nach Art. 151 Abs. 1 ZGB überhaupt nicht zu berücksichtigen, ist nach alledem abzulehnen. Diese Anwartschaften können bei der Anwendung von Art. 151 ZGB insoweit von Bedeutung sein, als sie die Anwartschaften des schuldlosen Ehegatten beeinflussen.