BGE 97 II 362
 
51. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 30. November 1971 i.S. Hörni gegen Zürich-Unfall, Kunz und Richner.
 
Regeste
Schadenersatz zwischen Motorfahrzeughaltern.
2. Verletzung dieser Pflicht durch zwei Lastwagenführer, die einen Unfall verursachen; Kausalzusammenhang (Erw. 3 und 4).
3. Art. 60 Abs. 2, 61 Abs. 1 SVG. Aufteilung des Schadens; Bedeutung von Betriebsgefahr und Verschulden (Erw. 5).
 
Sachverhalt


BGE 97 II 362 (363):

A.- Albert Hörni führte am 12. September 1962, etwa um 19.20 Uhr, einen 2,25 m breiten "Fiat"-Lastwagen auf der Kantonsstrasse von Pfäffikon her durch das Dorf Schindel legi.
Ausgangs von Schindellegi beschreibt die Strasse eine Linkskurve und dann, bei einer Steigung von 5% und einem Hang entlang führend, eine langgezogene Rechtsbiegung. Sie ist auf dieser Strecke mit einer Leitlinie versehen und 6,10 bis 6,20 m breit.
Als Hörni angeblich mit etwa 35 km/h die Rechtsbiegung befuhr, kam ihm von Biberbrugg her ein Lastzug entgegen, der von Paul Richner gesteuert war und aus einem 2,25 m breiten "Mercedes"-Lastwagen und einem 2,30 m breiten Zweiachs-Anhänger bestand. Richner fuhr auf der Talseite der Strasse und hatte nach seinen Angaben eine Geschwindigkeit von 40 km/h. Beim Kreuzen streifte das linke Vorderrad des "Fiat"-Lastwagens die linken Räder des Anhängers. Der Lastwagen geriet daraufhin auf die linke Fahrbahn und stürzte über die steile Böschung in eine Baumgruppe, wobei er stark beschädigt und Hörni schwer verletzt wurde.
B.- Am 27. April 1965 klagte Hörni gegen Richner, den Halter des "Mercedes"-Lastwagens Ulrich Kunz sowie gegen die Versicherungsgesellschaft Zürich-Unfall, bei der Kunz für seine Halterhaftpflicht versichert war, auf Zahlung von Fr. 173'077.15 für Schadenersatz und Genugtuung.


BGE 97 II 362 (364):

Das Bezirksgericht Höfe hiess die Klage am 19. Januar 1968 im Teilbetrage von Fr. 17'307.70 nebst 5% Zins seit 12. September 1962 gut. Es kam zum Schluss, der Kläger habe den Schaden zu 9/10 selbst verschuldet.
Der Kläger appellierte an das Kantonsgericht Schwyz, das mit Urteil vom 16. Dezember 1969 den Entscheid des Bezirksgerichtes aufhob und die Klage abwies.
Der Begründung des Urteils ist zu entnehmen, dass das linke Vorderrad des "Fiat"-Lastwagens die Leitlinie beim Kreuzen um 12 cm überfuhr, während die linken Räder des Anhängers sich dieser Linie bis auf 10 cm näherten und dessen Oberbau 1,2 cm in die Linie hineinragte. Das Kantonsgericht ist jedoch der Meinung, Hörni sei für den Unfall allein verantwortlich, da er entgegen der Vorschrift des Art. 26 Abs. 2 MFG die Rechtsbiegung nicht eng genommen, sondern ohne Grund 1,13 m vom rechten Strassenrand entfernt gefahren sei. Nach Art. 25 Abs. 1 MFG hätte er zudem beim Kreuzen einen angemessenen Abstand wahren und innerhalb der rechten Strassenhälfte bleiben müssen. Angesichts des entgegenkommenden Lastzuges sei es unvernünftig und rücksichtslos gewesen, einen Teil der linken Fahrbahn für sich zu beanspruchen. Durch seine Fahrweise habe er elementare Verkehrsregeln grob verletzt und die einzige adäquate Unfallursache gesetzt. Richner dagegen sei mit dem Lastzug innerhalb seiner Fahrbahn geblieben; seine Fahrweise könne ihm trotz des knappen Abstandes von der Leitlinienmitte nicht als kausales Mitverschulden angerechnet werden.
C.- Der Kläger hat gegen das Urteil des Kantonsgerichtes die Berufung erklärt. Er beantragt, es aufzuheben und die Klage gutzuheissen.
Das Bundesgericht weist die Klage gegen Richner ab, heisst im übrigen die Berufung aber dahin gut, dass es das Urteil des Kantonsgerichtes aufhebt und die Sache zur Ermittlung und Berechnung des Schadens an die Vorinstanz zurückweist.
 
Aus den Erwägungen:


BGE 97 II 362 (365):

Das MFG verpflichtete den Fahrer, beim Kreuzen einen angemessenen Abstand einzuhalten (Art. 25 Abs. 1 letzter Satz), rechts zu fahren und Strassenbiegungen nach rechts kurz, solche nach links dagegen weit zu nehmen (Art. 26 Abs. 1 und 2). Diese Regeln decken sich mit Vorschriften des Art. 34 SVG, der unter anderem bestimmt, dass Fahrzeuge rechts fahren, sich namentlich auf unübersichtlichen Strecken möglichst an den rechten Strassenrand halten und beim Kreuzen einen ausreichenden Abstand wahren müssen (Abs. 1 und 4). Welcher Abstand beim Kreuzen angemessen ist, entscheidet sich nicht allgemein, sondern nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Fahrbahnbreite, der Art des Fahrzeuges, der Übersichtlichkeit der Strecke und der vom Führer selber eingehaltenen Geschwindigkeit. Je grösser diese ist, desto schwieriger wird es, den Abstand auf den Dezimeter genau abzuschätzen und einer im Verlaufe des Kreuzens eintretenden Gefahr durch Verzögerung der Fahrt, Anhalten oder Ausweichen wirksam zu begegnen. Auch darf der Führer, wie das Bundesgericht schon unter der Herrschaft des MFG entschieden hat, die rechte Strassenhälfte nicht beliebig für sich beanspruchen, insbesondere nicht hart der Mittellinie der Strasse entlang fahren. Wo die Verhältnisse es gestatten und mit Gegenverkehr zu rechnen ist, muss er vielmehr den zum Kreuzen notwendigen Zwischenraum in der Strassenmitte frei lassen, sein Fahrzeug folglich von ihr angemessen fern halten (BGE 76 IV 61, BGE 81 IV 172 /3, BGE 87 IV 24; vgl. fernerBGE 77 II 258Erw. 1, BGE 81 IV 299, BGE 94 IV 121 Erw. 1).
a) Richner fuhr nach eigenen Angaben mit etwa 40 km/h und sah, dass ihm ein Lastwagen entgegenkam. Unter diesen Umständen war es pflichtwidrig unvorsichtig, sich auf der eher schmalen Durchgangsstrasse der Leitlinie beim Kreuzen so zu nähern, dass die Karrosserie des Lastzuges zum Teil in die Linie hineinragte. Schon das Gebot, gegenüber entgegenkommenden Fahrzeugen einen genügenden Sicherheitsabstand zu wahren, verpflichtete ihn, weiter nach rechts zu halten. Er hatte keine Gewähr, gefahrlos kreuzen zu können, lief vielmehr Gefahr, den "Fiat"-Lastwagen zu streifen und dadurch mit den eigenen Fahrzeugen seitlich abgetrieben zu werden.


BGE 97 II 362 (366):

Dass die Fahrbahn auf der Talseite 22 cm weniger breit war als diejenige auf der Bergseite, weil die Leitlinie nicht genau der Strassenmitte folgte, befreit ihn nicht. Er war gleichwohl nicht genötigt, hart an der Linie entlang zu fahren, da er mit den Fahrzeugen 60 cm, mit den Rädern sogar 71 cm Abstand vom rechten Strassenrand einhielt. Seine Fahrweise lässt sich auch nicht damit entschuldigen, dass er auf der Talseite, einer steilen Böschung entlang fuhr. Angesichts des entgegenkommenden Lastwagens war ihm zuzumuten, etwa 20 cm weiter rechts zu halten und den sich daraus ergebenden Gefahren durch erhöhte Vorsicht und nötigenfalls durch Mässigung der Geschwindigkeit Rechnung zu tragen. Solche Vorkehren lagen für einen gewissenhaften Führer wesentlich näher als der Versuch, mit unverminderter Geschwindigkeit und einem seitlichen Abstand von wenigen Zentimetern am andern Fahrzeug vorbeizukommen.
b) Hörni hat die angeführten Verkehrsregeln der Art. 25 und 26 MFG erheblich schwerer verletzt als Richner. Obwohl er sich mit dem Wagen auf der Bergseite und auf der breiteren Fahrbahn befand, überfuhr er die Leitlinie um 12 cm, liess dagegen zu seiner Rechten mindestens 1,13 m offen. Dass die beschränkte Sicht in der Biegung, Rücksichten auf allfällige Fussgänger und in die Fahrbahn ragende Sträucher oder Äste ihn angeblich veranlassten, einen solchen Abstand vom rechten Strassenrand einzuhalten, lässt sich im Ernst nicht behaupten. Weder das eine noch das andere berechtigte ihn, sich über wichtige Verkehrsverpflichtungen hinwegzusetzen. Unter den gegebenen Umständen ging seine Pflicht, die dem Gegenverkehr vorbehaltene Fahrbahn freizuhalten und beim Kreuzen einen angemessenen Abstand zu wahren, seinem Bedürfnis, auf der rechten Seite gegen Überraschungen möglichst gesichert zu sein, vielmehr vor (vgl. BGE 87 IV 25). Seine Einwendungen sind umso weniger zu verstehen, als er das entgegenkommende Fahrzeug nach eigenen Aussagen schon zu Beginn der Linksbiegung erblickt hatte und sein Wagen mit einer Rechtssteurung versehen war, er folglich den rechten Strassenrand gut beobachten und den Abstand von dieser Seite ohne besondere Mühe auf ein Mindestmass beschränken konnte. Seine Fahrweise entbehrt jeder Rechtfertigung.
4. Das pflichtwidrige Verhalten des Klägers war nicht nur im natürlichen, sondern auch im Rechtssinne kausal für die

BGE 97 II 362 (367):

Streifkollision und deren Folgen. Der Kläger versucht dies mit Recht nicht zu widerlegen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist aber auch im schuldhaften Verhalten Richners eine adäquate Ursache für den Zusammenstoss zu erblicken. Ein angemessener Abstand beim Kreuzen ist um der Gefahren willen vorgeschrieben, denen der Verkehr aus entgegengesetzten Richtungen ohne diese Sicherung ausgesetzt ist. Wer sich über die Vorschrift hinwegsetzt und hart an der Leitlinie fährt, muss mit Folgen, wie sie hier eingetreten sind, rechnen. Das muss er vor allem dann, wenn er auf einer eher schmalen Strasse im Begriffe ist, einen Lastwagen zu kreuzen, und selber einen solchen Wagen führt. Richner hätte bei angemessenem Abstand den Zusammenstoss und dessen Folgen ebenso vermeiden können wie Hörni.
5. Haften nur Motorfahrzeughalter für einen Unfall, so haben sie gemäss Art. 60 Abs. 2 Satz 2 SVG den Schaden zu gleichen Teilen zu tragen, wenn nicht besondere Umstände, namentlich das Verschulden, eine andere Verteilung rechtfertigen. Die Vorschrift beruht auf der Vermutung, dass die Betriebsgefahren der am Unfall beteiligten Motorfahrzeuge meistens einigermassen gleich sind, eine von der Regel abweichende Aufteilung des Schadens folglich erst begründet ist, wenn die Gefahr beim Fahrzeug des einen Halters offensichtlich überwiegt. Zu beachten ist ferner, dass den konkreten Betriebsgefahren im Rahmen der Gesamtverursachung nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt, sobald die beteiligten Halter ein Verschulden trifft, da diesfalls der Schaden in erster Linie im Verhältnis ihres Verschuldens zu teilen ist (vgl. BGE 84 II 310, BGE 94 II 177 Erw. 2, BGE 95 II 343 Erw. 7). Gleich verhält es sich nach Art. 61 Abs. 1 SVG, der die Aufteilung des Schadens unter Haltern regelt, wenn einer von ihnen bei einem Unfall körperlich geschädigt worden ist.
Die Vorinstanz ist mit dem gerichtlichen Experten der Meinung, die an sich höhere Betriebsgefahr des Lastzuges habe sich bei der Streifkollision nicht auswirken können. Der Kläger behauptet demgegenüber, der Halter des Lastzuges habe wegen dessen Beschaffenheit und dessen ungleich grösseren Gewichtes eine viel höhere Betriebsgefahr zu vertreten als er. Aus dem Gewicht und der Länge des Lastzuges kann indes schon deshalb nichts für eine besondere Betriebsgefahr hergeleitet werden, weil einzig der Anhänger von der Kollision

BGE 97 II 362 (368):

erfasst wurde. Nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, spricht auch sonst nichts für die Behauptung des Klägers; insbesondere liegt nichts dafür vor, dass der Anhänger geschlingert habe, wie der Kläger anzunehmen scheint. Es ist deshalb von gleichwertigen Betriebsgefahren auszugehen.
Richner trifft ein eher leichtes, Hörni dagegen ein ziemlich schweres Verschulden am Unfall. Die Fahrweise des ersteren ist, wenn nicht entschuldbar, so doch teilweise verständlich, da er mit dem Lastzug auf der Talseite und zudem auf der schmäleren Fahrbahn fuhr. So geringfügig, wie das Bezirksgericht anzunehmen schien, ist das Verschulden Richners, der Berufsfahrer ist, freilich nicht. Statt der Gefahr einer Streifkollision pflichtgemäss vorzubeugen, hat er die nach den Umständen gebotene erhöhte Vorsicht vielmehr vermissen lassen. In erheblich grösserem Masse ist dies aber Hörni vorzuwerfen. Die Vorinstanz hält ihm mit Recht entgegen, dass er die Leitlinie, die mindestens 100 m vor der Unfallstelle begann, schlechterdings nicht übersehen konnte. Trotzdem hat er die Strassenmitte in der Biegung leichtsinnig überfahren. Dadurch hat er den schweren Unfall zum überwiegenden Teile selbst verschuldet. In Würdigung aller Umstände rechtfertigt es sich, ihm nur einen Drittel des Schadens ersetzen und ihn zwei Drittel selber tragen zu lassen.