BGE 101 II 333
 
56. Urteil der I. Zivilabteilung vom 1. Juli 1975 i.S. Saner und Mitbeteiligte gegen Schweizerische Lebensversicherungs- und Rentenanstalt.
 
Regeste
Mietzinserhöhung, Anpassung an die Teuerung.
2. Art. 15 lit. d BMM, Art. 11 VMM. Berechnung einer nach diesen Bestimmungen zulässigen Erhöhung von Mietzinsen für Bauten, die vor 1971 erstellt worden und nicht mit Hypotheken belastet sind (Erw. 2).
 
Sachverhalt


BGE 101 II 333 (333):

A.- Die Schweizerische Lebensversicherungs- und Rentenanstalt ist Eigentümerin der Liegenschaften Bernstrasse 11 und 13 in Solothurn, deren Wohnungen sie vermietet. Am 16. Mai 1973 schrieb sie den 11 Mietern, dass die Mietzinse ab 1. Oktober um 14,13% erhöht würden. Die Mieter hielten die Erhöhung für missbräuchlich und wandten sich an die Schlichtungsstelle, vor der die Parteien sich aber nicht einigen konnten.
Auf Klage der Vermieterin verfügte der Gerichtspräsident von Solothurn-Lebern am 18. September 1974, dass die Klägerin die Mietzinse ab 1. Oktober 1973 um 11,1% erhöhen dürfe.
Die Beklagten rekurrierten an das Obergericht des Kantons Solothurn. Dieses bestätigte am 20. Februar 1975 die angefochtene Verfügung und erkannte, dass die den Mietern am

BGE 101 II 333 (334):

16. Mai 1973 mitgeteilte Zinserhöhung nichtig (Ziff. 1), dass eine solche von 11,1% ab 1. Oktober 1973 aber zulässig sei (Ziff. 2).
B.- Die Beklagten haben gegen dieses Urteil Berufung und staatsrechtliche Beschwerde eingelegt. Mit der Berufung beantragen sie, Urteilsspruch Ziff. 2 des angefochtenen Entscheides aufzuheben und eine Erhöhung der Mietzinse ab 1. Oktober 1973 für unzulässig zu erklären, eventuell die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der BB über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen vom 30. Juni/20. Dezember 1972 (BMM) und die vom Bundesrat dazu erlassene Verordnung vom 10. Juli 1972 (VMM) enthalten soziales Mietrecht, durch das die Mieter vor missbräuchlichen Mietzinsen und anderen missbräuchlichen Forderungen der Vermieter geschützt werden sollen (Art. 1 BMM). Der Streit darüber, ob ein solcher Mietzins gefordert werde, ist wie derjenige über die Erstreckung eines Mietverhältnisses vermögensrechtlicher Natur (BGE 98 II 106 und 201, BGE 99 II 299); das Verfahren richtet sich in beiden Fällen zudem nach den gleichen Vorschriften (Art. 29 BMM, Art. 267 f OR). Kantonale Endentscheide über solche Streitigkeiten können mit der Berufung nur angefochten werden, wenn der Streitwert nach den Rechtsbegehren, wie sie vor der letzten kantonalen Instanz noch streitig waren, wenigstens 8'000 Franken erreicht (Art. 46 OG).
Die Klage der Vermieterin geht auf einen höheren Jahreszins für wiederkehrende Nutzungen, von denen ungewiss ist, wie lange sie dauern. Diesfalls ist gemäss Art. 36 OG der mutmassliche Kapitalwert (Abs. 4), d.h. der zwanzigfache Betrag der streitigen Jahresleistung als Streitwert einzusetzen (Abs. 5). Vor dem Obergericht stritten die Parteien sich noch um Erhöhungen von 11,1% auf Jahreszinsen von mindestens Fr. 4'500.-- oder um einen Mehrbetrag von Fr. 499.50 je Mieter. Das ergibt bei einem Mieter einen Kapitalwert von Fr. 9'990.--, bei elf Beklagten, deren Ansprüche einander nicht ausschliessen und daher zusammenzurechnen sind (Art. 47

BGE 101 II 333 (335):

Abs. 1 OG), somit einen Streitwert von Fr. 109'890.--. Diese Berechnung beruht freilich auf einer Vereinfachung, da insbesondere nicht berücksichtigt wird, wie lange die Vermieterin den erhöhten Mietzins tatsächlich fordert, ob ein Mieter deswegen oder aus andern Gründen das Vertragsverhältnis nicht mehr stillschweigend erneuert, sondern auflöst. Wie es sich damit verhält, ist indes ungewiss, und gerade für solche Fälle enthält Art. 36 Abs. 5 OG eine klare und einfache Regel, die dem Bundesgericht erlauben soll, den Streitwert nach seinem Ermessen rasch und ohne besondern Aufwand an Zeit oder Kosten zu ermitteln. Dieser Wert übersteigt hier den von Art. 46 OG vorgesehenen. Auf die Berufung ist daher einzutreten.
a) Das Obergericht hält im vorliegenden Fall eine Mietzinserhöhung von 11,1%, die zu 7,6% auf die Kaufkraftsicherung des risikotragenden Kapitals und zu 3,5% auf die Hypothekarzinserhöhung entfielen, für zulässig.
Es führt aus, Art. 15 lit. d BMM sei erst anlässlich der parlamentarischen Beratungen eingefügt worden. Aus den dabei abgegebenen Voten erhelle (Sten.Bull. 1972 StR S. 346, NR S. 974 und 979/80), dass man die Kaufkraft des investierten Eigenkapitals sichern und hiefür im Durchschnitt 40% des Anlagewertes berücksichtigen wollte, gleichviel ob der Vermieter die Liegenschaft ganz oder nur teilweise aus eigenen Mitteln finanzierte. Mit dieser Regelung solle verhindert werden, dass der Vermieter auf nominell gleichbleibenden Schulden einen Inflationsgewinn erziele und dass die Mieter unterschiedliche, vom Prozentsatz des investierten Eigenkapitals abhängige Mietzinse bezahlen müssen. Nach diesen Grundgedanken des BMM dürfe die Klägerin bei einem Anstieg des Indexes um 22 Punkte zwischen Oktober 1970 und April 1973,

BGE 101 II 333 (336):

was einer Teuerung von 19,2% entspreche, diese zu 40% (= 7,6% der Teuerung) auf die Mieter abwälzen.
Das Obergericht nimmt sodann an, die Klägerin habe die Liegenschaften aus eigenen Mitteln finanziert; gleichwohl dürfe sie die Mietzinse auch wegen des inzwischen gestiegenen Hypothekarzinsfusses anpassen, da sie das investierte Eigenkapital anderswo zu einem höheren Zinsfuss anlegen könnte; die Anpassung entspreche dem Sinn des Gesetzes. Die Kantonalbank Solothurn habe die Hypothekarzinse auf 1. Januar 1971 um 1/4% erhöht; es sei nicht bewiesen, dass die Klägerin diese Erhöhung bereits am 1. Oktober 1970 berücksichtigt habe. Der hiefür bewilligte Aufschlag von 3,5% decke sich mit den Richtlinien des Beauftragten des Bundesrates zur Überwachung der Preise, Löhne und Gewinne.
b) Die Beklagten versuchen die Ausführungen des Obergerichtes zur Entstehungsgeschichte des Art. 15 lit. d BMM nicht zu widerlegen. Sie bestreiten auch nicht, dass danach und nach Art. 11 VMM das risikotragende Kapital unbekümmert um die hypothekarische Belastung einer Liegenschaft mit 40% des Anlagewertes zu berücksichtigen ist. Sie anerkennen ferner die von der Vorinstanz verwendeten Berechnungsgrundlagen.
Die Beklagten bestreiten dagegen, dass die Klägerin die Mietzinse des Jahres 1973 um das Ergebnis von 7,6% aufschlagen dürfe, wie das Obergericht annehme. Art. 11 Abs. 2 VMM gehe von den Mietzinsen des Jahres 1970 aus und lasse nur eine Erhöhung von 40% der seitherigen Steigerung des Landesindexes für Konsumentenpreise zu; dies könne nur heissen, dass der Zuschlag von 7,6% nach den Zinsen von 1970 zu berechnen sei, die hier von den orts- oder quartierüblichen nicht abwichen, von der Klägerin aber in den Jahren 1971 und 1972 erheblich erhöht worden seien. Diese Aufschläge müsse sie sich bei der Ermittlung der Kaufkraftsicherung anrechnen lasse, die nur einen Sinn habe, wenn unter dem risikotragenden Kapital eine fixe Grösse verstanden werde; für Bauten, die vor 1971 erstellt wurden, ergebe sich diese Grösse aus dem Ertragswert von 1970. Der jeweilige Ertragswert sei nicht massgebend, da eine solche Lösung darauf hinausliefe, alle Mietzinse laufend zu 40% zu indexieren, was nicht nur dem Sinn und Zweck des Gesetzes, sondern auch den parlamentarischen Beratungen widerspräche.


BGE 101 II 333 (337):

c) Nach dem klaren Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 VMM dürfen nur die zur Kaufkraftsicherung des risikotragenden Kapitals geforderten Mietzinse die Quote von 40% nicht übersteigen; die Beschränkung bezieht sich also nicht auf den gesamten Mietzins. Diese Auslegung deckt sich mit den Überlegungen, welche die Eidg. Räte veranlassten, Art. 15 lit. d in den BMM aufzunehmen. SCHÜRMANN/STÖCKLI/ZWEIFEL (Das Mietrecht in der Schweiz, Anm. 61 S. 47/8 in Verbindung mit Anm. 58 S. 45) führen dazu insbesondere aus, die Anpassung der Mietzinse an die allgemeine Teuerung erstrecke sich nicht auf das Fremdkapital, da die Hypotheken nominelle Schulden des Eigentümers seien; dagegen solle das nachrangige Eigenkapital zur Erhaltung des Investitionsanreizes vor Kaufkraftverlust gesichert sein. Um die Anwendung zu vereinfachen, habe man nicht nur den risikotragenden Kapitalbetrag allgemein auf 40% des Ertragswertes festgelegt, sondern auch angenommen, dass ein gleicher Prozentsatz des gesamten Mietzinses auf die Verzinsung dieses Betrages entfalle. Sei der Landesindex z.B. seit 1970 um 15% gestiegen, so dürfe zwecks Kaufkraftsicherung des Eigenkapitals ein um 6% höherer Mietzins verlangt werden. Dieser Zweck werde aber nur erreicht, wenn im Unterschied zum zulässigen Index für Wohnungsmieten (Art. 6 VMM), der 4/5 der Steigerung des Landesindexes für Konsumentenpreise betrage, zusätzlich auch die seither eingetretenen Kostensteigerungen (Art. 9 VMM) abgegolten würden.
Entgegen den Einwänden der Beklagten ist die Streitfrage damit, dass die Klägerin die Mietzinse zwischen Herbst 1970 und Frühjahr 1973 aus irgendwelchen Gründen erhöht hat, also nicht erledigt. Wie es sich mit diesen Erhöhungen verhielt, kann zudem offen bleiben. Denn einerseits ist weder behauptet worden noch den Belegen zu entnehmen, dass die Vermieterin dabei die Kaufkraftsicherung des risikotragenden Kapitals mitberücksichtigt habe. Anderseits steht fest, dass sich ihre Mietzinse von 1970 im Rahmen der orts- oder quartierüblichen hielten und dass sich daran auch nach den letzten Erhöhungen im Jahre 1971 nichts änderte. Bei dieser Sachlage darf der Klägerin nicht verwehrt werden, die Mietzinse um 40% der bis April 1973 eingetretenen Steigerung des Landesindexes für Konsumentenpreise zu erhöhen, um der Kaufkraftsicherung des Eigenkapitals Rechnung zu tragen.


BGE 101 II 333 (338):

Diese Erhöhung darf jedoch nicht nach den bisherigen Mietzinsen berechnet werden, wie das Obergericht annimmt. Richtig ist, dass die entsprechenden 7,6% ab 1. Oktober 1973 den bisherigen Zinsen zuzuschlagen sind; dem Betrage nach müssen sie aber den Zinsen des Jahres 1970 entnommen werden. Dies gilt auch für eine allfällige spätere Anpassung zur Kaufkraftsicherung. Entweder ist vorweg die Indexsteigerung lediglich für die Zwischenzeit zu ermitteln oder muss die bereits ausgeglichene Quote vom Prozentsatz der gesamten seit 1970 eingetretenen Steigerung abgezogen werden. Eine andere Berechnung widerspräche nicht nur Art. 11 Abs. 2 VMM, sondern auch dem Grundgedanken der auf fünf Jahre befristeten Ordnung (vgl. RAISSIG, Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen, S. 33/4; GMÜR, Die Rechte des Mieters, S. 66/7).
Auf die Neufassung des Art. 11 VMM (AS 1975 S. 174 und 176 unter Ziff. II), die erst am 1. März 1975 in Kraft getreten ist, können die Beklagten sich nicht berufen; sie ergäbe im vorliegenden Fall übrigens keine andere Lösung.
d) Erhöhungen des Hypothekarzinsfusses gehören zu den Kostensteigerungen, die nach Art. 15 lit. b BMM und Art. 9 VMM angerechnet werden dürfen. Eine Erhöhung des Zinsfusses um 1/4% ist nach den geltenden Richtlinien, was unbestritten ist, einer Mietzinserhöhung von 3,5% gleichzusetzen, darf folglich in diesem Umfange dem Mieter belastet werden. Die Belastung wird, wie bereits ausgeführt worden ist, durch den Zuschlag für die Kaufkraftsicherung des risikotragenden Kapitals nicht ausgeschlossen. Unbestritten ist ferner, dass der Vermieter den Ausgleich selbst dann verlangen darf, wenn er zur Finanzierung der Liegenschaft kein Fremdkapital benötigte (vgl. SCHÜRMANN/STÖCKLI/ZWEIFEL, a.a.O. Anm. 61 S. 46; RAISSIG, a.a.O. S. 30). Auf den neuen Text des Art. 11 VMM kommt auch in diesem Zusammenhang nichts an.
Die Beklagten versuchen, die Anrechnung der Hypothekarzinserhöhung als missbräuchlich hinzustellen, weil die Vermieterin nach eigenen Angaben von 1970 bis 1972 Bruttorenditen zwischen 11,60 und 12,93% erzielt habe; sie verweisen für Einzelheiten auf Vorbringen im kantonalen Verfahren. Mit solchen Angaben lässt sich die Unangemessenheit eines Ertrages im Sinne von Art. 14 Abs. 1 BMM indes weder

BGE 101 II 333 (339):

allgemein noch im gegebenen Fall belegen. Verweise auf Eingaben im kantonalen Verfahren widersprechen zudem dem Art. 55 Abs. 1 lit. c OG (BGE 97 II 163). Da die Mietzinse bei Erhöhung des Hypothekarzinsfusses grundsätzlich angepasst werden dürfen, müsste übrigens für die Beurteilung des Ertrages gemäss Art. 14 Abs. 1 BMM zunächst untersucht werden, ob die noch streitigen Mietzinse den quartierüblichen Rahmen für gleichartige Liegenschaften überschreiten. Dass dies der Fall sei, wird von den Beklagten jedoch weder behauptet noch dargetan; damit ist ihrem Versuch, die Anpassung als missbräuchlich auszugeben, aber zum vorneherein der Boden entzogen (Art. 15 lit. a BMM; SCHÜRMANN/STÖCKLI/ZWEIFEL, a.a.O. Anm. 52 S. 43).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird teilweise gutgeheissen und Urteilsspruch Ziff. 2 des angefochtenen Urteils dahin abgeändert, dass für die beteiligten Mieter der Liegenschaften Bernstrasse 11 und 13 in Solothurn ab 1. Oktober 1973 eine Erhöhung der bisherigen Mietzinse um 11,1%, wovon 7,6% nach den Mietzinsen des Jahres 1970 zu berechnen sind, zulässig ist.