BGE 104 II 302
 
52. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Dezember 1978 i.S. Gloor gegen Diem
 
Regeste
1. Wirkungen des thurgauischen provisorischen Grundbuchs.
2. Notwegrecht (Art. 694 ZGB).
Auf ein Begehren betreffend Einräumung eines Notwegrechts ist nicht einzutreten, falls die Parteien sich über die Entschädigung nicht geeinigt haben und der Ansprecher die Entschädigungsfrage nicht zum Gegenstand des Rechtsbegehrens macht (E. 4).
 
Sachverhalt


BGE 104 II 302 (302):

Karl Gloor ist Eigentümer der beiden Parzellen Nrn 449 und 450 im Weiler Tonhueb, Gemeinde Hefenhofen, die mit Wohnhäusern überbaut sind und keinen direkten Zugang zur Gemeindestrasse haben. Er beansprucht ein Fuss- und Fahrwegrecht

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über die angrenzende Parzelle Nr. 448 des Jakob Diem. Am 6. April 1977 reichte er gestützt auf eine Weisung des Friedensrichteramtes Uttwil vom 11. März 1977 beim Bezirksgericht Arbon Klage ein mit folgendem Rechtsbegehren:
"1. Es sei festzustellen, dass zu Gunsten von Parzelle Nr. 449/450 im Grundbuch Hefenhofen und zu Lasten von Parzelle Nr. 448 im Grundbuch Hefenhofen ein nördlich der Scheune Nr. 223 und südlich des Schopfes Nr. 232 von der Gemeindestrasse in gerader Richtung zu Parz. Nr. 449 verlaufendes Fuss- und Fahrwegrecht besteht;
2. es sei demnach das Grundbuchamt Uttwil anzuweisen, die Servitut gemäss Rechtsbegehren 1 zu Gunsten von Parzelle Nr. 449/450 und zu Lasten von Parzelle 448 im Grundbuch Hefenhofen einzutragen."
Gloor berief sich auf Ersitzung nach früherem thurgauischem Privatrecht, auf Ausübung der beanspruchten Dienstbarkeit seit unvordenklicher Zeit und auf ausserordentliche Ersitzung im Sinne von Art. 662 in Verbindung mit Art. 731 Abs. 3 ZGB.
Das Bezirksgericht Arbon hiess die Klage mit Urteil vom 23. November 1977 gut.
Das Obergericht des Kantons Thurgau schützte eine gegen dieses Urteil eingereichte Berufung und wies die Klage ab.
Mit rechtzeitig eingereichter Berufung stellt der Kläger dem Bundesgericht folgende Anträge:
"1. Die Berufung sei gutzuheissen und das Urteil des Obergerichts des Kt. Thurgau vom 29. Juni/9. August 1978 aufzuheben.
2. Die Klage sei zu schützen, und es sei demnach
2.1. festzustellen, dass zu Gunsten von Parz. Nr. 449/450 im Grundbuch Hefenhofen und zu Lasten von Parz. Nr. 448 im Grundbuch Hefenhofen ein nördlich der Scheune Nr. 223 und südlich des Schopfes Nr. 232 von der Gemeindestrasse in gerader Richtung zu Parz. Nr. 449 verlaufendes Fuss- und Fahrwegrecht besteht;
2.2. das Grundbuchamt anzuweisen, die Servitut gemäss Rechtsbegehren 1 zu Gunsten von Parz. Nr. 449/450 und zu Lasten von Parz. Nr. 448 im Grundbuch Hefenhofen einzutragen.
3. Eventuell sei die Streitsache zur Feststellung des Notweganspruchs in der Linienführung gemäss Rechtsbegehren Ziff. 2.1. an die Vorinstanz zurückzuweisen."
Der Beklagte und das Obergericht beantragen Abweisung der Berufung.
 
Aus den Erwägungen:
2. Sodann wird mit der Berufung der ebenfalls von beiden kantonalen Instanzen verworfene Standpunkt wieder aufgenommen, die Dienstbarkeit sei durch ununterbrochene

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und unangefochtene Ausübung seit unvordenklicher Zeit entstanden. Ob und allenfalls inwiefern das geltende Bundeszivilrecht diesen Entstehungsgrund für eine Dienstbarkeit kenne und zulasse (vgl. dazu LIVER, N. 141-148 zu Art. 731 ZGB und BGE 74 I 48 f. E. 3, je mit weiteren Hinweisen), mag indessen offen bleiben. Die Vorinstanz führt aus, dass nach Lehre und Rechtsprechung ununterbrochene und unangefochtene Ausübung der Dienstbarkeit während zwei Generationen bzw. während 80 Jahren erforderlich gewesen wäre, dass aber der Kläger einen entsprechenden Beweis nicht erbracht habe, und zwar auch nicht für den Fall, dass die erwähnte Dauer nicht vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zivilgesetzbuches an, sondern ab heute zurückzurechnen sein sollte. Die obergerichtliche Feststellung, eine 80jährige Ausübung des Fuss- und Fahrwegrechts sei nicht bewiesen, ist tatsächlicher Natur und demnach für das Bundesgericht verbindlich, zumal der Kläger nicht behauptet, sie sei unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen, und auch nichts auf ein offensichtliches Versehen hindeutet (vgl. Art. 63 Abs. 2 OG). Entgegen der Auffassung des Klägers hat die Vorinstanz auch dadurch kein Bundesrecht verletzt, dass sie vom Erfordernis einer 80jährigen Ausübungsdauer ausging.
3. Der Kläger ist schliesslich der Ansicht, das strittige Fuss- und Fahrwegrecht sei jedenfalls unter der Herrschaft des Zivilgesetzbuches - im Sinne von Art. 662 in Verbindung mit Art. 731 Abs. 3 ZGB - ersessen worden, da für Hefenhofen kein bereinigtes Register bestehe, das auch über die auf einem Grundstück lastenden altrechtlichen Dienstbarkeiten erschöpfend Aufschluss gebe, und das Grundstück des Beklagten somit im Sinne von Art. 662 Abs. 1 ZGB als "nicht im Grundbuch aufgenommen" zu gelten habe. Er befindet sich damit in Einklang mit einem Teil von Lehre und Rechtsprechung (vgl. LIVER, N. 94 und 162-165 zu Art. 731 ZGB; LIVER, Das Eigentum, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1 S. 155; BROGGINI, Intertemporales Privatrecht, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. I S. 506; TOBLER, Die dinglichen Rechte des Zivilgesetzbuches, dargestellt am Beispiel der Leitungen, Berner Diss. 1953, S. 80;, Urteile des Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 30. Juni 1944, 10. Januar 1951 und 21. März 1967, wiedergegeben in: Praxis des Kantonsgerichtes von Graubünden 1944 Nr. 28, 1951 Nr. 27 und 1967 Nr. 29; Urteil des

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Kantonsgerichtes Wallis vom 25. Mai 1971, wiedergegeben in: SJZ 71/1975 S. 12 Nr. 6). Die vom Kläger und der erwähnten Lehre und Rechtsprechung vertretene Auffassung wird indessen dem - beispielsweise in den Art. 41 Abs. 2 und 46 SchlT ZGB zum Ausdruck kommenden - Gedanken nicht gerecht, die Wirkungen des eidgenössischen Grundbuches - wenn auch unter Umständen nur schrittweise - möglichst schnell eintreten zu lassen. So ist einer kantonalen Publizitätseinrichtung, die die Voraussetzungen erfüllt, wenigstens bezüglich der Zeit seit dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches Grundbuchwirkung im Sinne von Art. 48 Abs. 1 und 2 SchlT ZGB zuzuerkennen, solange die Bereinigung der einzutragenden altrechtlichen Dienstbarkeiten noch aussteht und die Wirkung zugunsten des gutgläubigen Dritten noch nicht eintreten kann (Art. 48 Abs. 3 SchlT ZGB).
Das Grundstück des Beklagten ist im provisorischen Grundbuch eingetragen, das mit Wirkung ab 1. Januar 1912 angelegt wurde und unter anderem ein Eigentümerverzeichnis sowie ein Manual und Protokoll über die Dienstbarkeiten und Grundlasten umfasst (vgl. § 129, § 131 in Verbindung mit § 128 Abs. 1 lit. b und § 132 des thurgauischen Gesetzes betreffend die Einführung des schweizerischen Zivilgesetzbuches; EG zum ZGB). Jedes Grundstück ist von Amtes wegen in dieses Grundbuch aufzunehmen (§ 132 EG zum ZGB), und § 128 Abs. 4 EG zum ZGB bestimmt, dass den Eintragungen in das Manual bezüglich Entstehung, Übertragung, Umänderung und Untergang der dinglichen Rechte Grundbuchwirkung zukomme. Daraus erhellt, dass im Kanton Thurgau seit dem 1. Januar 1912 Dienstbarkeiten, für die das Bundeszivilrecht die Eintragung verlangt, anders nicht mehr begründet werden können und dass das provisorische Grundbuch somit lückenlos über diese unter der Herrschaft des Zivilgesetzbuches errichteten beschränkten dinglichen Rechte Aufschluss gibt. In diesem Umfang ist dem thurgauischen Grundbuch deshalb Grundbuchwirkung im Sinne von Art. 48 Abs. 1 und 2 SchlT ZGB zuzuerkennen. Dass dem kantonalen Zivilrecht das Eintragungsprinzip fremd gewesen sein soll, vermag daran entgegen der Ansicht des Klägers nichts zu ändern.
Die Vorinstanz hat nach dem Gesagten zu Recht dafür gehalten, das Grundstück des Beklagten habe als im Sinne von Art. 662 ZGB in das Grundbuch aufgenommen zu gelten, so

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dass für eine ausserordentliche Ersitzung des vom Kläger beanspruchten Fuss- und Fahrwegrechts seit dem 1. Januar 1912 kein Raum mehr sei (im gleichen Sinne auch verschiedene Urteile aus den Kantonen Zürich, Luzern und St. Gallen - deren Publizitätseinrichtungen ähnlich ausgestaltet sind wie im Thurgau -, wiedergegeben in: ZBGR 42/1961, S. 206; SJZ 58/1962, S. 232 Nr. 139; St. Gallische Gerichts- und Verwaltungspraxis 1976, Nr. 22; dazu auch HUBER/MUTZNER, System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts, 2. A., S. 268; PFISTER, Die Ersitzung nach schweizerischem Recht, Zürcher Diss. 1931, S. 56 Anm. 10).
4. Im kantonalen Verfahren hat der Kläger hilfsweise die Einräumung eines Notwegrechts zu Lasten des beklagtischen Grundstücks verlangt. Das Obergericht hat es abgelehnt, auf dieses Begehren einzutreten, weil der Kläger die Entschädigungsfrage nicht zum Gegenstand des Prozesses gemacht habe. Diese Betrachtungsweise verstösst nicht gegen Bundesrecht. Wohl hat das Bundesgericht in BGE 101 II 320 E. 5 ausgeführt, die Begründung eines Notwegrechts setze nicht die vorgängige Bezahlung einer Entschädigung voraus. Es hat darin aber klargestellt, dass die Entschädigung spätestens bei der Eintragung des Notwegrechts im Grundbuch zu leisten sei. Auch der Wortlaut von Art. 694 Abs. 1 ZGB, wonach ein Notweganspruch nur gegen volle Entschädigung zuerkannt werden kann, setzt voraus, dass die Entschädigungsfrage spätestens mit dem Urteil über den Notweganspruch geregelt wird. Liegt darüber keine Vereinbarung vor und hat der Ansprecher die Entschädigungsfrage nicht zum Gegenstand des Prozesses gemacht, so ist der Richter zwangsläufig ausserstande, einen Notweganspruch abschliessend zu beurteilen. Die Berufung erweist sich somit auch in diesem Punkt als unbegründet.