Urteilskopf
109 II 195
45. Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. November 1983 i.S. H. F. gegen R. und H. B. sowie Obergericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 254 Ziff. 1 ZGB; Vaterschaftsprozess; Kostenvorschuss für die Expertise.
1. Zulässigkeit der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (E. 1).
2. Die im Vaterschaftsprozess von Bundesrechts wegen geltende Offizialmaxime verbietet es dem kantonalen Richter nicht, dem Beklagten, der die Vaterschaftsvermutung mit einer Expertise widerlegen will, für das Beweisverfahren einen Kostenvorschuss aufzuerlegen (E. 3).
A.- Vor Bezirksgericht Arbon ist zwischen dem 1982 geborenen R. B. sowie dessen Mutter H. B. einerseits und H. F. anderseits eine Klage auf Feststellung der Vaterschaft und auf Festsetzung von Unterhaltsbeiträgen hängig. Der Beklagte hat zugegeben, der Mutter des Kindes in der kritischen Zeit beigewohnt zu haben, weshalb seine Vaterschaft zu vermuten ist. Zur Entkräftung der Vaterschaftsvermutung hat er die Einholung eines serologischen, eventuell eines anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens beantragt. Mit Verfügung vom 10. Januar 1983 wurde ihm hierauf eine Frist bis zum 31. Januar 1983 angesetzt, um einen Kostenvorschuss von Fr. 4'000.-- zu leisten, ansonst die Expertise unterbleiben würde. Nachdem der Beklagte geltend gemacht hatte, eine Kostenvorschusspflicht widerspreche dem von der Offizialmaxime beherrschten Kindesrecht des ZGB, erliess das Bezirksgericht Arbon am 28. Januar 1983 einen formellen Beschluss, womit der Beklagte nochmals verpflichtet wurde, zur Durchführung der beantragten serologischen Expertise bis spätestens 31. März 1983 einen Kostenvorschuss von Fr. 4'000.-- zu bezahlen, ansonst die Expertise unterbleiben würde. Eine Beschwerde des Beklagten gegen diesen Beschluss wurde vom Obergericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 24. Mai 1983 abgewiesen.
B.- Gegen den Entscheid des Obergerichts hat H. F. staatsrechtliche Beschwerde erhoben.
Mit Verfügung vom 29. August 1983 wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Die angefochtene Kostenvorschussverfügung stützt sich auf
§ 96 ZPO TG, wonach abgesehen vom Fall der unentgeltlichen Prozessführung jede Partei pflichtig ist, der Gerichtskasse die Kosten vorzuschiessen, welche durch die in ihrem besonderen Interesse vorzunehmenden Handlungen verursacht werden. Der Beschwerdeführer macht geltend, das in Vaterschaftssachen von der Offizialmaxime beherrschte Bundesrecht verbiete es, die Einholung von Vaterschaftsgutachten von der Leistung eines Kostenvorschusses abhängig zu machen, und zwar unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der unentgeltlichen Prozessführung gegeben seien oder nicht. Er beruft sich damit sinngemäss auf den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2 ÜbBest. BV). Die Rüge der Verletzung dieses Grundsatzes kann im vorliegenden Fall nur mit der staatsrechtlichen Beschwerde erhoben werden, da die angefochtene prozessleitende Verfügung, obwohl in einem Zivilprozess ergangen, keine Zivilsache im Sinne von
Art. 44-46 und 68 OG darstellt und deshalb sowohl die Berufung als auch die Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne von
Art. 68 Abs. 1 lit. a OG ausser Betracht fallen (vgl.
BGE 96 I 463 E. 1; BIRCHMEIER, N. 2c zu
Art. 68 OG). Ob der behauptete Widerspruch zum Bundesrecht bestehe, prüft das Bundesgericht frei (
BGE 107 Ia 289 E. 4a). Im übrigen gilt für Beschwerden wegen Verletzung der derogatorischen Kraft des Bundesrechts die in
Art. 87 OG für die Anfechtung von Zwischenentscheiden vorgesehene Schranke des nicht wiedergutzumachenden Nachteils nicht (
BGE 104 Ia 107 E. 2b,
BGE 96 I 463 /464 E. 2).
2. Vor dem Inkrafttreten des neuen Kindesrechts bestimmte
Art. 310 Abs. 2 ZGB, dass die Kantone in Vaterschaftssachen keine Beweisvorschriften aufstellen dürften, die strenger seien als diejenigen des ordentlichen Prozessverfahrens. Das Scheidungsrecht ging in
Art. 158 ZGB bereits über dieses beinahe selbstverständliche Verbot hinaus. Das Bundesgericht hat
Art. 158 Ziff. 1-4 ZGB als im Prozess um die Anfechtung der Ehelichkeit analog anwendbar erklärt (
BGE 95 II 295 E. 3,
BGE 85 II 170 ff.). Der neue
Art. 254 Ziff. 1 ZGB erhob diese Rechtsprechung zum Gesetz und gab ihr einen allgemeineren Inhalt. Danach hat der Richter den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen und die Beweise nach freier Überzeugung zu würdigen. Die gleiche Regel wurde in
Art. 280 Abs. 2 ZGB für die Unterhaltsklage aufgestellt. Damit
BGE 109 II 195 S. 198
sind im Vaterschaftsprozess Parteierklärungen (unter Vorbehalt der Anerkennung der Vaterschaftsklage), Eid und Handgelübde für den Richter nicht verbindlich (Botschaft des Bundesrats vom 5. Juni 1974, BBl 1974 II S. 26). Ferner ist, soweit erforderlich, auch über unbestrittene oder anerkannte Tatsachen Beweis zu erheben und ist der Richter an die von den Parteien angebotenen Beweismittel nicht gebunden. Er kann auch von den Parteien nicht angebotene Beweismittel beiziehen (vgl.
Art. 36 und 37 BZP, worauf in der Botschaft des Bundesrats ausdrücklich hingewiesen wird; HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 2. Aufl., S. 87).
Ob die Offizialmaxime im Vaterschaftsprozess von Bundesrechts wegen nicht nur im Interesse des Kindes, sondern auch zugunsten des Beklagten zur Anwendung komme, wie der Beschwerdeführer geltend macht, ist umstritten. Dem vom Beschwerdeführer zitierten Entscheid des Zürcher Obergerichts vom 23. Januar 1979 (ZR 1979 Nr. 127) steht die gegenteilige Auffassung des Amtsgerichts Hochdorf in einem Urteil vom 17. September 1981 (ZZW 50/1982 S. 6 ff.) gegenüber. Das sich auf das Gebot der rechtsgleichen Behandlung beider Parteien im Prozess stützende Argument (worauf sich das Zürcher Obergericht in Anlehnung an WALDER, Die Offizialmaxime, S. 14-18, beruft) schlägt nicht ohne weiteres durch, denn das öffentliche Interesse an der Begründung eines Kindesverhältnisses zum Vater ist stärker als dasjenige an der Verhinderung eines Urteils, das mit der wirklichen Abstammung nicht übereinstimmt.
3. Im kantonalen Verfahren ist die Regelung der Prozesskosten ganz dem kantonalen Recht anheimgestellt. Das Bundesrecht kennt keine ausdrückliche Vorschrift, welche die Parteien in Fällen, in denen der Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen ist, von der Leistung von Kostenvorschüssen für die Durchführung von Beweismassnahmen befreit bzw. umgekehrt den Ausschluss des betreffenden Beweismittels zur Folge hat, wenn der verlangte Kostenvorschuss nicht rechtzeitig geleistet wird. Das stellt auch WALDER (a.a.O. S. 36) fest. Anderseits kann entgegen der Auffassung des Zürcher Obergerichts nicht gesagt werden, dass die Erforschung des Sachverhalts von Amtes wegen logisch zwingend einer kantonalen Kostenvorschusspflicht entgegensteht. Auch verlangt die Durchsetzung des Bundesprivatrechts keineswegs immer, dass die nicht bedürftige Partei von der Leistung von Kostenvorschüssen für das Beweisverfahren befreit werde. Weshalb die Öffentlichkeit für die Kosten der säumigen, nicht bedürftigen Partei einspringen
BGE 109 II 195 S. 199
sollte, ist sicher dort nicht einzusehen, wo es wie hier um die Entkräftung der Vaterschaftsvermutung geht. Auch im neuen Kindesrecht macht der Gesetzgeber die Begründung des Kindesverhältnisses nicht vom Nachweis der biologischen Abstammung abhängig. Er nimmt es vielmehr in Kauf, dass eine Vaterschaft allein gestützt auf die Vaterschaftsvermutung (
Art. 262 ZGB) festgestellt wird. Es bleibt dem Vaterschaftsbeklagten unbenommen, sich gegen diese Vermutung nicht zur Wehr zu setzen, so gut wie er das Kind ohne Vaterschaftsnachweis anerkennen kann, sei es vor dem Zivilstandsbeamten oder vor dem Richter (
Art. 260 Abs. 3 ZGB). Eine Überprüfung der tatsächlichen Abstammung erfolgt gegenüber einer gerichtlichen oder aussergerichtlichen Anerkennung erst dann, wenn diese angefochten wird, was zeitlich nur beschränkt möglich ist (
Art. 260c ZGB). Kann sich der Vaterschaftsbeklagte aber trotz der Offizialmaxime der Vaterschaftsklage unterziehen, ohne dass die biologische Abstammung überprüft wird, so kann nicht gesagt werden, diese Maxime verbiete es, ihm für die Erbringung des negativen Vaterschaftsbeweises einen Kostenvorschuss aufzuerlegen.
Ob sich der Verzicht auf Kostenvorschüsse der beweispflichtigen Partei aufgrund einer kantonalen "erweiterten" (so Walder, a.a.O. S. 36) Offizialmaxime aufdränge, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, da die Anwendung des thurgauischen Prozessrechts nicht beanstandet wird.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.