BGE 110 II 273 |
55. Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. September 1984 i.S. X. gegen S.-AG und Rekurskommission des Kantonsgerichts St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) |
Regeste |
Arbeitsvertrag; Geltendmachung von Lohnansprüchen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. |
Erwägungen: |
1. X. arbeitete vom 10. September 1979 bis zum 31. Oktober 1981 als Hilfsarbeiter bei der S.-AG. Das Arbeitsverhältnis unterstand dem Gesamtarbeitsvertrag für die Schweizerische Möbelindustrie. Am 28. November 1983 klagte X. gegen die S.-AG auf Bezahlung von Fr. 2'687.95 nebst Zins, womit er eine Lohnnachzahlung sowie eine Prämienrückerstattung verlangte. |
Das Arbeitsgericht Unterrheintal wies die Klage am 28. Februar 1984 ab. Es nahm an, die Ansprüche des Klägers seien durch Verzicht untergegangen, weil dieser sie erst nach mehr als zwei Jahren seit Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht habe.
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Auf kantonale Berufung des Klägers bestätigte die Rekurskommission des Kantonsgerichts St. Gallen dieses Urteil am 26. April 1984.
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Gestützt auf Art. 4 BV hat der Kläger gegen den Entscheid der Rekurskommission staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag, den Entscheid aufzuheben.
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Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Rekurskommission hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Der Beschwerdeführer hält diese Betrachtungsweise mit Recht für willkürlich. Es ist unhaltbar, einen Verzicht auf die Forderung oder einen Rechtsmissbrauch nur deshalb anzunehmen, weil der Arbeitnehmer zwei Jahre mit der Geltendmachung seiner zwingenden Ansprüche aus dem Gesamtarbeitsvertrag zugewartet hat. Gemäss Art. 341 Abs. 1 OR kann der Arbeitnehmer auf solche Forderungen während der Dauer des Arbeitsverhältnisses und eines Monats nach dessen Beendigung nicht verzichten. Im übrigen gelten die allgemeinen Vorschriften über die Verjährung von Forderungen, welche der Gesetzgeber in Art. 341 Abs. 2 OR ausdrücklich vorbehalten hat, um klarzustellen, dass die Frist gemäss Abs. 1 weder eine Verjährungs- noch eine Verwirkungsfrist sei (Botschaft BBl 1967 II S. 403). Der Lohn- und Rückerstattungsanspruch des Beschwerdeführers unterliegt demnach der fünfjährigen Verjährungsfrist gemäss Art. 128 Ziff. 3 OR.
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Allein aus dem Zeitablauf lässt sich ein rechtsgeschäftlich fassbarer Verzicht nicht ableiten, und durch das blosse Verstreichen der Zeit innerhalb der Verjährungsfrist wird die Geltendmachung einer Forderung höchstens dann rechtsmissbräuchlich, wenn ganz besondere Umstände hinzukommen; andernfalls würde das Rechtsinstitut der Verjährung weitgehend ausgehöhlt (BGE 94 II 41 f.; BGE 95 II 116; MERZ N. 522 zu Art. 2 ZGB; vgl. auch DESCHENAUX, Der Einleitungstitel, Schweiz. Privatrecht Band II S. 184 f.). Mit der Einräumung der Verjährungsfrist hat der Gesetzgeber auch in Kauf genommen, dass sich infolge Zeitablaufs für den Schuldner Beweisschwierigkeiten ergeben können für den Nachweis, dass die angebliche Schuld getilgt worden oder anderweitig untergegangen ist (BGE 94 II 41). Soweit das Arbeitsgericht, auf dessen Erwägungen die Rekurskommission ergänzend verweist, Gründe der Rechtssicherheit anführt, ist das daher nicht durchschlagskräftig. |
Aufgrund der in der Literatur zu Art. 341 OR vertretenen Meinungen ergibt sich entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin kein anderer Schluss. Soweit BRÜHWILER (Handkommentar zum Einzelarbeitsvertrag N. 3 zu Art. 341 OR) einen endgültigen Verzicht des Arbeitnehmers nach Ablauf eines Monats nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses annimmt, geht das selbst nach Auffassung der Rekurskommission zu weit; ausserdem beschränkt sich seine Äusserung auf den Fall einer Saldoquittung, wie sie hier nicht vorliegt. Aus REHBINDER (Schweizerisches Arbeitsrecht 7. Aufl. S. 106), SCHWEINGRUBER (Kommentar zum Arbeitsrecht S. 106) und STREIFF (Leitfaden zum neuen Arbeitsvertrags-Recht 2. Aufl. S. 164 N. 1 und 4 zu Art. 341 OR) ergibt sich hingegen ebenfalls, dass vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Erlöschen der Ansprüche nur angenommen werden kann, wenn die verzögerte Geltendmachung gegen Art. 2 ZGB verstösst. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Botschaft (BBl 1967 II S. 403).
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Umstände, die zum blossen Zeitablauf hinzukämen, sind vorliegend nicht dargetan. Im Gegenteil hat der Beschwerdeführer geltend gemacht, er habe von seinen Ansprüchen vorher gar keine Kenntnis gehabt, was die Rekurskommission zu Unrecht von vorneherein als unerheblich bezeichnet hat. Der angefochtene Entscheid, mit dem die Klage einzig deshalb abgewiesen worden ist, weil der Arbeitnehmer mit der Geltendmachung seiner Ansprüche gut zwei Jahre zugewartet hat, lässt sich deshalb mit sachlichen Gründen schlechterdings nicht halten. In Gutheissung der Beschwerde ist er daher aufzuheben.
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