Urteilskopf
132 II 342
29. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bundesamt für Justiz (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
1A.210/2005 vom 29. März 2006
Regeste
Art. 13 Interpol-Verordnung; Auskunft über Daten.
Gesuch einer Asylantin um Auskunft darüber, ob ihr Heimatstaat sie international zur Fahndung ausgeschrieben hat. Nichtigkeit der Verfügung des Bundesamtes für Justiz, mit welcher dieses zum Gesuch Stellung genommen hat, mangels Zuständigkeit (E. 2). Hinweise zum weiteren Vorgehen (E. 3).
X. ist Angehörige des Staates Y. Anfang der 90er-Jahre wurde sie dort wegen Mitgliedschaft in einer Vereinigung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
In der Folge ergriff X. die Flucht und ersuchte in der Schweiz um Asyl, das ihr gewährt wurde.
Am 14. März 2005 ersuchte X. das Bundesamt für Justiz gestützt auf Art. 13 der Verordnung vom 1. Dezember 1986 über das Nationale Zentralbüro Interpol Bern (Interpol-Verordnung; SR 351.21) darum, ihr Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten Daten schriftlich zu erteilen. Insbesondere bat sie um Mitteilung, ob gegen sie ein internationaler Haftbefehl vorliege. Bejahendenfalls verlangte sie auch Auskunft über den Grund des Haftbefehls. Für den Fall, dass ihr die gewünschte Auskunft nicht erteilt werden könne, ersuchte sie um Zustellung einer entsprechenden Verfügung.
Mit Schreiben vom 16. März 2005 teilte das Bundesamt für Jus tiz X. mit, eine Person, welche Gegenstand eines ausländischen Fahndungs- oder Auslieferungsersuchens sei, sei darüber ausserhalb eines schweizerischen Auslieferungsverfahrens nur dann zu informieren, wenn ein solches missbräuchlich sei. Missbrauch sei beispielsweise gegeben, wenn ein Ersuchen offensichtlich aus rein politischen Gründen gestellt worden sei. Handle es sich hingegen um ein grundsätzlich zulässiges Ersuchen, welchem die Schweiz aber aus bestimmten Gründen (z.B. Schweizer Bürgerrecht oder Flüchtlingseigenschaft der gesuchten Person) nicht entsprechen könne, unterstünden solche Ersuchen dem Amtsgeheimnis. Im vorliegenden Fall liege kein missbräuchliches Ersuchen eines ausländischen Staates gegen X. vor. Ob sie allenfalls in anderen Staaten aufgrund eines internationalen Fahndungsersuchens eine Festnahme riskiere, könne ihr aus den dargelegten Gründen nicht mitgeteilt werden. Zudem sei darauf zu verweisen, dass die schweizerischen Behörden nicht Kenntnis aller internationalen Fahndungsersuchen hätten. Im Übrigen habe das Bundesamt für Migration dem Bundesamt für Justiz mitgeteilt, dass X. als in der Schweiz anerkannter Flüchtling bereits in generell-abstrakter Form auf eine mögliche Gefährdung bei Auslandreisen hingewiesen worden sei.
Am 28. Juni 2005 teilte X. dem Bundesamt für Justiz mit, sie könne dessen Auskunft vom 16. März 2005 nicht entnehmen, ob gegen sie ein internationaler Haftbefehl bestehe oder nicht. Sie gelange
BGE 132 II 342 S. 344
deshalb nochmals an das Bundesamt und bitte um eine klarere Antwort in Form einer Verfügung nach Art. 15 der Interpol-Verordnung.
Mit Schreiben vom 1. Juli 2005 teilte das Bundesamt für Justiz X. mit, gemäss Art. 13 Abs. 4 der Interpol-Verordnung könne eine Auskunft verweigert werden, soweit die Interessen der Strafverfolgung, Strafvollstreckung oder polizeilichen Verbrechensverhütung es erforderten. Wie das Bundesamt für Justiz ihr am 16. März 2005 bereits mitgeteilt habe, sei eine Person, welche Gegenstand eines ausländischen Fahndungs- oder Auslieferungsersuchens sei, darüber ausserhalb eines schweizerischen Auslieferungsverfahrens nur dann zu informieren, wenn ein solches missbräuchlich sei. Ansonsten unterstünden solche Ersuchen dem Amtsgeheimnis. Da vorliegend gegen sie kein missbräuchliches Ersuchen eines ausländischen Staates bestehe, könne ihr das Bundesamt nicht mitteilen, ob sie allenfalls in anderen Staaten aufgrund eines internationalen Fahndungsersuchens eine Festnahme riskiere. Das vorliegende Schreiben - zusammen mit dem Schreiben vom 16. März 2005 - habe die Wirkung einer Verfügung. Dagegen könne innert 30 Tagen Beschwerde beim Bundesgericht erhoben werden.
X. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Verfügung des Bundesamtes für Justiz vom 1. Juli 2005 aufzuheben; der Beschwerdeführerin sei Einsicht in die Interpol-Akten zu gewähren und Auskunft darüber zu erteilen, ob gegen sie ein Fahndungs- und/oder Auslieferungsersuchen des Staates Y. vorliege; eventualiter sei die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen; es sei festzustellen, dass die angefochtene Verfügung im Einzelnen aufgezählte Bestimmungen der Interpol-Verordnung, der Bundesverfassung, des Verwaltungsverfahrensgesetzes, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention verletze.
Das Bundesamt für Justiz hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
X. hat dazu Stellung genommen.
Am 19. Oktober 2005 teilte X. dem Bundesamt für Justiz mit, in dessen Vernehmlassung werde ein Auslieferungsersuchen des Staates Y. aus dem Jahr 2004 erwähnt. Sie ersuchte um Einsicht in die entsprechenden Akten.
BGE 132 II 342 S. 345
Mit Schreiben vom 11. November 2005 ersucht das Bundesamt für Justiz das Bundesgericht um Mitteilung betreffend das diesbezügliche weitere Vorgehen.
Das Bundesgericht tritt auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht ein und stellt die Nichtigkeit der Verfügung des Bundesamtes für Justiz vom 1. Juli 2005 fest.
Aus den Erwägungen:
1. Gemäss Art. 15 Abs. 3 der Interpol-Verordnung sind die allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege auf Beschwerden gegen Verfügungen unter anderem von Bundesbehörden anwendbar.
Nach Art. 100 Abs. 1 lit. a OG ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig gegen Verfügungen auf dem Gebiet der inneren oder äusseren Sicherheit des Landes, der Neutralität, des diplomatischen Schutzes, der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe sowie der übrigen auswärtigen Angelegenheiten.
Nach der Rechtsprechung ist
Art. 100 Abs. 1 lit. a OG grundsätzlich restriktiv auszulegen. Die Bestimmung erfasst in erster Linie Massnahmen, welche die innere und äussere Sicherheit der Schweiz betreffen, insbesondere eigentliche "actes de gouvernement". Der Gesetzgeber war der Auffassung, dass in diesem Bereich die Regierung für die getroffenen Entscheidungen allein verantwortlich bleiben muss, da die Massnahmen, welche den Schutz der staatlichen Integrität und die Aufrechterhaltung der guten Beziehungen mit dem Ausland betreffen, zu ihren wesentlichen Aufgaben gehören (
BGE 121 II 248 E. 1a S. 251 mit Hinweisen; Urteil 1A.157/2005 vom 6. Oktober 2005, E. 3). Handelt es sich um Fragen der Sicherheits- und Aussenpolitik, ist der Bundesrat die letzte Rekursinstanz (
Art. 72 VwVG i.V.m.
Art. 100 Abs. 1 lit. a OG; Urteil 1A.157/2005 vom 6. Oktober 2005, E. 3.5 mit Hinweis).
Art. 100 Abs. 1 lit. a OG erfasst Massnahmen mit ausgeprägt politischem Charakter (
BGE 121 II 248 E. 1b S. 251).
Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG), das am 1. Januar 2007 in Kraft treten wird, behält diesen Ausschlussgrund - soweit hier von Belang - in Art. 83 lit. a bei (vgl. dazu Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. Februar 2001, BBl 2001 S. 4322 f.).
BGE 132 II 342 S. 346
In
BGE 118 Ib 277 ging es um jemanden, der beim Sonderbeauftragten für die Behandlung der Staatsschutzakten des Bundes Einsicht in seine "Fiche" verlangt hatte. Der Sonderbeauftragte gewährte die Einsicht nur teilweise, wogegen der Betroffene Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhob. Das Bundesgericht trat darauf nicht ein. Es befand, der Entscheid des Sonderbeauftragten betreffe die staatliche Sicherheit und falle unter den Ausschlussgrund nach
Art. 100 Abs. 1 lit. a OG. Es erwog, der Begriff "actes de gouvernement" umfasse auch die von den Polizeibehörden des Bundes und der Kantone getroffenen Massnahmen zur Überwachung und Verhinderung von Handlungen, die geeignet seien, die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz zu gefährden (E. 2b S. 280).
Man kann sich fragen, ob im vorliegenden Fall nicht ebenso zu entscheiden und Art. 100 Abs. 1 lit. a OG damit anwendbar sei, zumal es um international übermittelte Daten geht und daher zusätzlich die auswärtigen Angelegenheiten betroffen sind. Die Frage braucht jedoch nicht vertieft zu werden. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann aus den folgenden Erwägungen ohnehin nicht eingetreten werden.
2.1 Nichtigen Verfügungen geht jede Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit ab. Nach der Rechtsprechung ist eine Verfügung nichtig, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer und offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Als Nichtigkeitsgrund kommt namentlich die Unzuständigkeit der verfügenden Behörde in Betracht. Die Nichtigkeit ist jederzeit und von sämtlichen staatlichen Instanzen von Amtes wegen zu beachten; sie kann auch im Rechtsmittelweg festgestellt werden (
BGE 132 II 21 E. 3.1 S. 27;
BGE 130 III 430 E. 3.3 S. 434;
BGE 127 II 32 E. 3g S. 47 f.;
BGE 118 Ia 336 E. 2a S. 340;
BGE 104 Ia 172 E. 2c S. 176 f., mit Hinweisen).
2.2 Das Auskunftsgesuch der Beschwerdeführerin und die angefochtene Verfügung stützen sich auf Art. 13 Interpol-Verordnung.
Diese Bestimmung, welche die Überschrift "Recht auf Auskunft" trägt, lautet:
"1) Jedermann kann vom Nationalen Zentralbüro (NZB) Auskunft über die ihn betreffenden polizeilichen Informationen verlangen. Er muss ein schriftliches Gesuch zusammen mit einem amtlichen Ausweis (Pass, Identitätskarte, Führerausweis) an das Bundesamt für Polizei richten.
BGE 132 II 342 S. 347
2) Die Auskunftserteilung richtet sich nach dem Recht des Gemeinwesens (anderer Staat, Bund, Kanton), dessen Behörde die Strafuntersuchung führt oder geführt hat. Das Bundesamt für Polizei leitet das Gesuch zum Entscheid an die zuständige Behörde weiter.
3) Hat das Bundesamt für Polizei das Verfahren geführt und wurde es nicht an einen Kanton delegiert, so entscheidet es über das Gesuch.
4) Die Auskunft kann verweigert werden, soweit die Interessen der Strafverfolgung, Strafvollstreckung oder polizeilichen Verbrechensverhütung es erfordern.
5) Die Auskunftserteilung über Fahndungsersuchen richtet sich nach den Bestimmungen der Verordnung vom 16. Dezember 1985 über das automatisierte Fahndungsregister (RIPOL).
6) Die Auskunftserteilung über Daten, die beim Generalsekretariat Interpol abgelegt sind, richtet sich nach dem Reglement vom 7. Oktober 2004 über die Kontrolle von Informationen und den Zugang zu den Interpol-Dateien (Anhang 3 dieser Verordnung)."
Absatz 1 bestimmt zunächst, an welche Behörde das Auskunftsgesuch zu richten ist. Absatz 2 Satz 1 sagt, nach welchem Recht sich die Auskunftserteilung richtet. Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 regeln die Zuständigkeit zum Entscheid über das Gesuch. Absätze 4 und 5 enthalten Regeln für den Entscheid; dies aber - wie aus dem Zusammenhang mit Absatz 2 Satz 1 zu schliessen ist - nur, soweit Bundesrecht anwendbar ist.
Die Beschwerdeführerin möchte mit ihrem Gesuch um Auskunft in Erfahrung bringen, ob die Behörden des Staates Y. sie zur Fahndung ausgeschrieben haben und sie somit bei einer Reise ins Ausland die Verhaftung und Auslieferung an den Staat Y. riskiert. (...)
Eine Strafuntersuchung gegen die Beschwerdeführerin wegen Mit gliedschaft in einer Vereinigung führte der Staat Y. Gemäss Art. 13 Abs. 2 Satz 1 Interpol-Verordnung richtet sich daher die Auskunftserteilung nach dem Recht des Staates Y. Nach Art. 13 Abs. 2 Satz 2 Interpol-Verordnung leitet das Bundesamt für Polizei das Gesuch zum Entscheid an die zuständige Behörde weiter. Damit kann nur die zuständige Behörde des Staates Y. gemeint sein, da es nicht Sache einer schweizerischen Behörde sein kann, über die Auskunftserteilung nach dem Recht des Staates Y. zu befinden. Das Bundesamt für Polizei ist in einem Fall wie hier zum Entscheid über das Auskunftsgesuch nicht zuständig. Das ergibt sich auch aus Art. 13 Abs. 3 Interpol-Verordnung, wonach das Bundesamt für Polizei über das Auskunftsgesuch dann entscheidet, wenn es das Verfahren
BGE 132 II 342 S. 348
ge führt hat und es nicht an einen Kanton delegiert wurde. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Dass in einem Fall wie hier die Behörden des Staates Y. über das Auskunftsgesuch zu entscheiden haben, erscheint sachgerecht. Der Grundgedanke der Zuständigkeitsregelung der Interpol-Verordnung ist offenbar folgender: Interpol stellt ein weltweites Kommunikationsnetz zur Verfügung, das der Übermittlung von Fahndungsdaten dient (MARCO GAMMA, in: Niggli/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, 2003, N. 7 vor
Art. 351ter StGB). Gibt ein ausländischer Staat Daten in das Kommunikationsnetz ein, trägt er dafür die Verantwortung. Deshalb soll er und kein anderer Staat darüber befinden, ob und wieweit dem Betroffenen die Daten offen gelegt werden. Eine andere Lösung wäre mit der Achtung der staatlichen Souveränität kaum vereinbar. Nach Art. 13 Abs. 2 Interpol-Verordnung ist es im vorliegenden Fall somit nicht Sache schweizerischer Behörden, darüber zu entscheiden, ob und wieweit vom Staat Y. über Interpol allenfalls verbreitete Daten zugänglich gemacht werden.
Das Bundesamt für Justiz ist nach Art. 13 Interpol-Verordnung nie zum Entscheid über ein Auskunftsgesuch zuständig. Vom Bundesamt für Justiz ist in dieser Bestimmung - wie im gesamten dritten Abschnitt der Interpol-Verordnung, der die Rechte betroffener Personen regelt (Art. 13 ff.) - überhaupt keine Rede. Gemäss Art. 1 Abs. 1 Interpol-Verordnung ist das Bundesamt für Polizei mit den Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne von Artikel 32 der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation betraut. Nach Art. 2 Abs. 1 lit. e Interpol-Verordnung stellt das Nationale Zentralbüro die Weiterleitung sämtlicher internationaler Rechtshilfeersuchen an das Bundesamt für Justiz sicher. Ein Rechtshilfeersuchen gegen die Beschwerdeführerin ist nicht hängig, so dass Art. 2 Abs. 1 lit. e Interpol-Verordnung die Zuständigkeit des Bundesamtes für Justiz - entgegen der Auffassung, welche das Bundesamt für Polizei in seinem Schreiben vom 14. Juli 2005 an die Beschwerdeführerin vertritt - im vorliegenden Fall nicht begründen kann. Wie gesagt, wäre auch das Bundesamt für Polizei zum Entscheid über das Auskunftsgesuch nicht zuständig gewesen.
War das Bundesamt für Justiz zum Erlass der angefochtenen Verfügung unzuständig, ist diese im Lichte der angeführten Rechtsprechung nichtig. Die Annahme der Nichtigkeit gefährdet die Rechtssicherheit nicht.
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2.3 Die angefochtene Verfügung entfaltet danach keinerlei Rechtswirkung. Sie kann somit auch nicht Anfechtungsobjekt einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde sein. Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten. Die Nichtigkeit der angefochtenen Verfügung ist im Dispositiv festzustellen (vgl. YVO HANGARTNER, Die Anfechtung nichtiger Verfügungen und von Scheinverfügungen, AJP 2003 S. 1054 Ziff. 2; PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. II, Bern 2002, S. 306 f.; FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 144).
3.1 Nach dem Gesagten wird das Bundesamt für Justiz das Auskunftsgesuch der Beschwerdeführerin dem Bundesamt für Polizei zu übergeben haben. Dieses hätte es nach Art. 13 Abs. 2 Satz 2 Interpol-Verordnung an die zuständige Behörde des Staates Y. weiterzuleiten.
Unter den gegebenen Umständen drängt sich allerdings seitens des Bundesamtes für Polizei eine Rückfrage bei der Beschwerdeführerin auf, ob diese mit der Weiterleitung an die Behörde des Staates Y. einverstanden sei. Wie gesagt, wurde der Beschwerdeführerin in der Schweiz Asyl gewährt. Ihre politische Verfolgung wurde damit anerkannt. Es ist somit denkbar, dass die Beschwerdeführerin einen Kontakt mit Behörden des Staates Y. ablehnt.
3.2 Der Beschwerdeführerin steht es sodann frei, bei der Kontrollkommission für Interpol-Dateien Zugang zu von Interpol bearbeiteten personenbezogenen Daten zu verlangen.
Gemäss Art. 1 des Reglements über die Kontrolle von Informationen und den Zugang zu den Interpol-Dateien - von der Generalversammlung Interpol angenommen am 7. Oktober 2004, in Kraft seit 1. Januar 2005 (Anhang 3 zur Interpol-Verordnung) - kontrolliert die Kommission, ob die Regeln und Tätigkeiten in Zusammenhang mit der Bearbeitung personenbezogener Daten durch die Organisation (...) mit den von dieser erlassenen einschlägigen Bestimmungen konform sind und ob sie nicht die fundamentalen Individualrechte verletzen, die in Artikel 2 der Interpol-Statuten - der auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verweist - erwähnt sind, oder gegen die allgemeinen Grundsätze des Datenschutzes verstossen (lit. a). Die Kommission berät die Organisation bei jedem Projekt, jeder Tätigkeit, jeder Regelung oder jeder anderen Frage, die eine Behandlung personenbezogener Daten nach sich zieht
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(lit. b). Die Kommission bearbeitet und beantwortet Gesuche um Zugang zu Interpol-Dateien. Sie hält eine Liste der Interpol-Dateien zur Verfügung, die Staatsangehörige von Interpol-Mitgliedstaaten sowie Personen mit ständigem Aufenthalt in einem Interpol-Mitgliedstaat einsehen dürfen (lit. c).
Gemäss Art. 9 des Reglements können interessierte Personen unentgeltlich und uneingeschränkt von ihrem Recht Gebrauch machen, Zugang zu den sie betreffenden personenbezogenen Daten zu erhalten, die in den Interpol-Dateien enthalten sind (lit. a). Die Kommission bestätigt den Eingang aller Gesuche und bearbeitet diese so rasch wie möglich (lit. b). Gesuche um Zugang zu personenbezogenen Daten sind nur zulässig, wenn sie von Personen gestellt werden, über die Daten gespeichert worden sein könnten oder wenn die Gesuche von ordnungsgemäss bevollmächtigten Personen (...) gestellt werden (lit. c). Sind die an die Kommission gerichteten Gesuche offensichtlich missbräuchlich, insbesondere auf Grund ihrer Anzahl oder ihres wiederholten oder systematischen Charakters, so kann die Kommission davon absehen, Abklärungen zu treffen; sie ist nicht verpflichtet, solche Gesuche zu beantworten (lit. d).
Nach Art. 10 des Reglements prüft die Kommission beim Eingang eines zulässigen Gesuchs um Einsicht, ob die von der Organisation möglicherweise gespeicherten Daten über die Person, die das Gesuch stellt oder in deren Namen das Gesuch gestellt wird, den für die Datenbearbeitung geltenden Bestimmungen der Organisation entsprechen (lit. a). Nach Massgabe von Artikel 6 unterbreitet die Kommission dem Generalsekretariat Empfehlungen, wenn sie es als angezeigt erachtet, dass dieses in einer Angelegenheit tätig werden sollte (lit. b).
Gemäss Art. 11 des Reglements kann die Kommission mit Zustim mung der Datenquelle der gesuchstellenden Person Auskunft über aus der genannten Quelle stammende Daten erteilen, die Interpol möglicherweise über die gesuchstellende Person besitzt (lit. a). Unter Vorbehalt von Artikel 9 Buchstabe d und ungeachtet des Ausgangs ihrer Arbeiten teilt die Kommission der Gesuchstellerin oder dem Gesuchsteller mit, dass sie die gewünschten Kontrollen vorgenommen hat (lit. b).
Die Beschwerdeführerin kann demnach ohne Zustimmung der Datenquelle - d.h. der zuständigen Behörde des Staates Y. - zwar
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keine Informationen aus der entsprechenden Datei erhalten. Sie kann aber veranlassen, dass die Kommission überprüft, ob die über sie allenfalls gespeicherten Daten den für die Datenbearbeitung geltenden Bestimmungen der Organisation entsprechen.
Gemäss Art. 2 der am 13. Juni 1956 in Kraft getretenen Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Anhang 1 zur Interpol-Verordnung) sind deren Ziele: a) eine möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller Kriminalpolizeibehörden im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und im Geiste der Erklärung der Menschenrechte sicherzustellen und weiterzuentwickeln; b) alle Einrichtungen, die zur Verhütung und Bekämpfung der gemeinen Straftaten wirksam beitragen können, zu schaffen und auszubauen. Nach Art. 3 der Statuten ist der Organisation jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters strengstens untersagt.
Die Beschwerdeführerin kann von der Kommission somit überprüfen lassen, ob über sie allenfalls gespeicherte Daten mit diesen Zielen und Grundsätzen vereinbar sind.
3.3 Von Bedeutung für das weitere Vorgehen ist überdies Folgendes:
Wie sich den Akten entnehmen lässt, ersuchte der Staat Y. im Jahr 2004 die Schweiz um Auslieferung der Beschwerdeführerin zur Vollstreckung der wegen Mitgliedschaft in einer Vereinigung verhängten Freiheitsstrafe. Darauf teilte das Bundesamt für Flüchtlinge dem Bundesamt für Justiz mit, die Durchsicht des Asyldossiers der Beschwerdeführerin habe ergeben, dass sich das Verhaftsersuchen der Behörden des Staates Y. auf ein Gerichtsverfahren stütze, das bereits Gegenstand des Asylverfahrens gewesen sei. Im Asylverfahren sei nach eingehender Prüfung festgestellt worden, dass keine Asylausschlussgründe gegeben seien. Aufgrund der Aktenlage bestehe weiterhin kein Grund, das Asyl zu widerrufen. Das Auslieferungsersuchen sei deshalb abzulehnen. In der Folge teilte das Bundesamt für Justiz dem Staat Y. mit, die Auslieferung der Beschwerdeführerin sei aus Gründen des innerstaatlichen schweizerischen Rechts und in Anwendung des Non-Refoulement-Prinzips nicht möglich und somit abzulehnen.
Aus den Akten ergibt sich nicht, dass das Bundesamt für Justiz der Beschwerdeführerin auf das Auslieferungsersuchen des Staates Y.
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hin das rechtliche Gehör gewährt oder ihr zumindest den das Ersuchen ablehnenden Entscheid mitgeteilt hätte. Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe von alledem erst durch die Vernehmlassung des Bundesamtes für Justiz im vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahren Kenntnis erhalten. Sie legt der Replik eine Eingabe vom 19. Oktober 2005 an das Bundesamt für Justiz bei, mit dem sie dieses um Einsicht in die Akten des abgeschlossenen Auslieferungsverfahrens ersucht. Diese Sache ist hier nicht Gegenstand des Verfahrens. Über das Gesuch vom 19. Oktober 2005 wird zunächst das Bundesamt für Justiz zu befinden haben.