BGE 136 II 281 |
26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Eheleute A. und Mitb. gegen I. AG, Baudirektion und Regierungsrat des Kantons Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_212/2009 / 1C_214/2009 vom 2. Juni 2010 |
Regeste |
Art. 89 Abs. 1 und Art. 111 Abs. 1 BGG; Art. 33 Abs. 3 lit. a RPG; Art. 11 Abs. 2 USG; Beschwerde- und Einspracheberechtigung von Anwohnern einer Deponie. |
Sachverhalt |
Die I. AG beabsichtigt, im Gebiet Stockeri, Gemeinde Risch, eine Deponie für unverschmutztes Aushubmaterial zu errichten und zu betreiben. Zusammen mit einem Zonierungsgesuch reichte sie beim Kanton Zug ein Gesuch um Erteilung der Errichtungsbewilligung ein. Der Deponiebetrieb ist für eine Dauer von ca. acht Jahren vorgesehen. Die Ablagerung soll etappenweise erfolgen. Nach Abschluss der Deponiearbeiten soll die Fläche rekultiviert, ökologisch aufgewertet und landwirtschaftlich genutzt werden. Die von der Deponie beanspruchte Fläche liegt in der Landwirtschaftszone, welche von einer Landschaftsschutzzone überlagert wird. Im kantonalen Richtplan des Jahres 2004 wurde im Gebiet Stockeri ein Standort für eine Inertstoffdeponie (Aushubmaterial/Inertstoffe) mit einem Volumen von 700'000 m3 festgesetzt. Der Deponiestandort befindet sich im BLN-Objekt 1309 "Zugersee" (vgl. Verordnung vom 10. August 1977 über das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung [VBLN; SR 451.11]). |
Während der öffentlichen Auflage des Nutzungsplanungs- und Bewilligungsprojekts gingen 121 Einsprachen ein.
|
Mit Verfügung vom 30. September 2008 erteilte die Baudirektion des Kantons Zug die Errichtungsbewilligung für die Inertstoffdeponie. Die Bewilligung steht unter dem Vorbehalt der Rechtskraft der kantonalen Nutzungszone "Stockeri" und enthält verschiedene Auflagen und Bedingungen. Auf die Einsprachen "aus dem Raum Buonas, Risch und Seefeld (Gemeinde Risch)" trat die Baudirektion "wegen fehlendem Berührtsein und fehlendem schutzwürdigen Interesse" nicht ein.
|
Mit Beschluss vom 30. September 2008 erliess der Regierungsrat des Kantons Zug die kantonale Nutzungszone für Abfallanlagen "Stockeri". Er stellte fest, dass die geplante Deponie umweltverträglich sei. Auf zahlreiche Einsprachen aus dem Raum Buonas, Risch und Seefeld (Gemeinde Risch) trat er nicht ein. In Gutheissung von Einsprachen aus dem Raum Meierskappel sowie der Einsprache des Gemeinderats Meierskappel wies er die Baudirektion an, die Errichtungsbewilligung mit einer Auflage zu versehen, die Erschliessung der Deponie ohne Inanspruchnahme der Lendiswilerstrasse in der Gemeinde Meierskappel festzulegen. Dieser Zonierungsbeschluss wurde gleichzeitig mit der von der Baudirektion erteilten Deponiebewilligung eröffnet. |
Gegen die Errichtungsbewilligung für die Deponie "Stockeri" und gegen die kantonale Nutzungszone für Abfallanlagen "Stockeri" erhoben unter anderem acht Personen bzw. Eheleute aus Risch Beschwerde beim Verwaltungsbericht des Kantons Zug. Mit Urteil vom 31. März 2009 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerden ab. Die Vorinstanzen hätten die Einspracheberechtigung der Beschwerdeführenden zu Recht verneint.
|
Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts führen mehrere Personen aus der Gemeinde Risch beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie reichten zwei weitgehend identische Beschwerdeschriften ein und beantragen, es sei festzustellen, dass sie einsprache- und beschwerdelegitimiert seien. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 31. März 2009 sei aufzuheben.
|
Am 3. Mai 2010 führte eine Delegation des Bundesgerichts einen Augenschein bei der geplanten Deponie durch.
|
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
|
(Zusammenfassung)
|
Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
2.1 Gemäss Art. 33 Abs. 3 lit. a RPG (SR 700) gewährleistet das kantonale Recht gegen Nutzungspläne und raumplanerische Verfügungen (z.B. Baubewilligungen gemäss Art. 22 RPG) die Legitimation mindestens im gleichen Umfang wie für die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Ferner schreibt Art. 111 BGG die Einheit des Verfahrens vor: Wer zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt ist, muss sich am Verfahren vor allen kantonalen Vorinstanzen als Partei beteiligen können (Art. 111 Abs. 1 BGG); die unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts muss grundsätzlich mindestens die Rügen nach den Art. 95-98 BGG prüfen können (Art. 111 Abs. 3 BGG). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die kantonalen Behörden die Rechtsmittelbefugnis nicht enger fassen dürfen, als dies für die Beschwerde an das Bundesgericht vorgesehen ist (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_379/2008 vom 12. Januar 2009 E. 3.2 mit Hinweisen). Zur Beurteilung, ob das Verwaltungsgericht die Beschwerdeführer vom Rechtsmittel ausschliessen durfte, ist im vorliegenden Fall die Beschwerdeberechtigung nach den Grundsätzen von Art. 89 Abs. 1 BGG, welche mit denjenigen des bisherigen Art. 103 lit. a OG übereinstimmen, zu prüfen. Sind die Beschwerdeführer befugt, gegen einen Sachentscheid über das umstrittene Vorhaben beim Bundesgericht Beschwerde zu führen, so müssen die Vorinstanzen auf ihr Rechtsmittel eintreten, soweit die übrigen formellen Voraussetzungen erfüllt sind. |
2.3 Die Behauptung allein, jemand sei von den Folgen einer Baubewilligung betroffen, genügt nicht, um die Beschwerdebefugnis zu begründen. Vielmehr muss aufgrund des konkreten Sachverhalts das besondere Berührtsein und das schutzwürdige Interesse glaubhaft erscheinen. |
2.3.2 Wird die Einsprache- und Rechtsmittelbefugnis aus den Immissionen des Zubringerverkehrs abgeleitet, so müssen diese für den Beschwerdeführer deutlich wahrnehmbar sein, damit er zur Beschwerde legitimiert ist (BGE 113 Ib 225 E. 1c S. 228 f.; BGE 110 Ib 99 E. 1c S. 102). In Grenzfällen besteht ein Beurteilungsspielraum, bei dessen Ausübung einerseits eine kaum mehr zu begrenzende Öffnung des Beschwerderechts zu vermeiden ist und andererseits die Schranken auch nicht zu eng gezogen werden dürfen, um nicht die vom Gesetzgeber gewollte Überprüfung der richtigen Rechtsanwendung in Fällen, in denen der Beschwerdeführer ein aktuelles und schützenswertes Interesse besitzt, auszuschliessen (BGE 112 Ib 154 E. 3 S. 159 mit Hinweis). Das Bundesgericht prüft die Legitimationsvoraussetzungen in einer Gesamtwürdigung anhand der im konkreten Fall vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse. Es stellt nicht schematisch auf einzelne Kriterien (wie z.B. Distanz zum Vorhaben, Sichtverbindung etc.) ab. |
So hat das Bundesgericht die Beschwerdeberechtigung verneint in Bezug auf Personen, die in einer Entfernung von rund 250 m bis 1,7 km vom an zentraler Lage in der Innenstadt von Zürich geplanten Casinobetrieb wohnten, weil keine deutlich wahrnehmbare zusätzliche Lärmimmissionen an den bereits vorbelasteten Strassenabschnitten zu erwarten waren (Urteil des Bundesgerichts 1C_405/2008 vom 18. März 2009). In gleicher Weise wurde die Beschwerdelegitimation verneint beim Zufahrtsverkehr zu einer Kiesgrube, weil sich das Grundstück der Beschwerdeführerin in einem hinreichenden Abstand von 60 m zur Kieswerkstrasse jenseits einer Böschung sowie eines kleinen Waldsaums befand, sodass die Immissionen aus dem Kiesgrubenverkehr für sie nicht mehr deutlich wahrnehmbar waren (Urteil des Bundesgerichts 1A.77/2000 vom 7. Februar 2001 E. 2d). In Bezug auf Anwohner der Zufahrt zu einer Tongrube, in welcher eine Inertstoffdeponie eingerichtet werden sollte, bejahte das Bundesgericht die Einsprache- und Beschwerdeberechtigung (Urteil 1C_362/2008 vom 27. April 2009). Ebenfalls bejaht wurde die Legitimation bei Personen, welche ungefähr einen Kilometer vor der Einfahrt in ein Kiesgrubengelände wohnten, wenn während 40 bis 50 Jahren durchschnittlich mit 120 Hin- und Rückfahrten pro Tag zu rechnen war (BGE 113 Ib 225 E. 1c S. 228 f.). Bei Lärmimmissionen des Verkehrs zu einem regionalen Einkaufszentrum bezeichnete das Bundesgericht die Bejahung der Legitimation bei einer Verkehrszunahme von 10 % als recht- und zweckmässig. Dabei wurde davon ausgegangen, dass eine Steigerung des durchschnittlichen täglichen Verkehrs (DTV) um 25 % zu einer Erhöhung des Verkehrslärmpegels um 1dB(A) führte und eine solche wahrgenommen werden könne (Urteil des Bundesgerichts 1A.148/2005 vom 20. Dezember 2005 E. 3.5 f., in: ZBl 107/2006 S. 609; URP 2006 S. 144).
|
Auch das Verwaltungsgericht geht davon aus, die Beschwerdeführer von Risch wohnten bezüglich der Erschliessung der geplanten Deponie an kritischen Stellen, weil die zu ihren Liegenschaften führende Kantonsstrasse bisher namentlich durch Lastwagen wenig befahren gewesen sei. Unter Berücksichtigung des Deponieprojekts sei im Jahresdurchschnitt über 365 Tage beim Stotzenacker neu mit einer Steigerung des DTV um 8.06 % zu rechnen bzw. mit einer Steigerung pro Tag von bisher 670 Fahrzeugen um 60 Lastwagen. Auf der Strecke Landhus-Stotzenacker sei eine Steigerung des DTV von 2.28 % bzw. eine Steigerung pro Tag von bisher 2'500 Fahrzeugen um 57 Lastwagen zu erwarten. Beim Stotzenacker ergebe sich eine Frequenz an 220 Betriebstagen mit je bloss 8 Betriebsstunden von täglich knapp 100 Fahrten bzw. von stündlich rund 12 Fahrten und beim Seefeld etwas weniger. Beim Strassenverkehrslärm sei die Erhöhung des Beurteilungspegels um 1 dB(A) gerade noch wahrnehmbar. Diese Zunahme entspreche einer Steigerung des durchschnittlichen täglichen Verkehrsaufkommens um rund 25 %. Der prognostizierte Mehrverkehr liege unter 10 %. |
2.5.1 Der bundesgerichtliche Augenschein hat gezeigt, dass die Kantonsstrasse, von welcher die Deponiezufahrt abzweigt und an welcher ein Teil der Beschwerdeführer wohnt, heute kaum von Lastwagen befahren wird. Der Schwerverkehr zwischen Rotkreuz und Küssnacht a.R. wird im Wesentlichen über die Autobahn N 4 abgewickelt. Der Deponiebetrieb hängt zu einem beträchtlichen Teil von der Lieferung des Deponieguts über die Kantonsstrasse (Küssnachterstrasse) ab. Gemäss dem Umweltverträglichkeitsbericht (Kapitel 4.3 Verkehrsgrundlagen), welcher den vorinstanzlichen Entscheiden zugrunde liegt, sollten über 90 % der Anlieferungen von Süden (Autobahnausfahrt Küssnacht a.R.) her erfolgen. Die Zufahrt aus Süden war via Kantonsstrasse, die Wegfahrt via Lendiswilerstrasse vorgesehen. Die übrigen 10 % der Fahrten wären Richtung Nord über die Kantonsstrasse Holzhäusern-Risch erfolgt. Der Regierungsrat Zug entschied am 30. September 2008 im Rahmen des Rechtsmittel- und Genehmigungsverfahrens, dass die Erschliessung ohne Inanspruchnahme der Lendiswilerstrasse in Meierskappel (Gemeindestrasse) festzulegen sei, weil diese Strasse den gesetzlichen Anforderungen nicht entspreche. Nach dem genannten Entscheid des Regierungsrats muss die Deponiebetreiberin die Lieferanten verpflichten, die Deponie auf dem kürzesten Weg vom übergeordneten Verkehrsnetz anzufahren und die Wegfahrt ebenso zu gestalten. Danach würden weiterhin rund 90 % des Deponieverkehrs von bzw. nach Süden erfolgen, und zwar einzig über die Kantonsstrasse, nachdem die Lendiswilerstrasse nicht mehr zur Verfügung steht. |
2.5.2 In Abweichung von diesem nach dem Umweltverträglichkeitsbericht wahrscheinlichen Verkehrsablauf spricht sich der Regierungsrat für eine Aufteilung des Lastwagenverkehrs auf drei Achsen aus: Vor dem Hintergrund, dass der Hauptanteil des Deponieguts aus dem nördlichen Teil des Einzugsgebiets stamme, wo sich rund 81 % der Bevölkerung und der Arbeitsplätze befinden, soll sich der Deponieverkehr nach Ansicht des Regierungsrats gleichmässig auf zwei Achsen von Norden und eine Achse von Süden aufteilen. Zur Verfügung stehen von Norden her ab Autobahnanschluss Rotkreuz die Route Holzhäusern-Buonas-Risch und die Route Rotkreuz-Meierskappel-Risch. Von Süden wird die Deponie ab Autobahnanschluss Küssnacht a.R. über die Kantonsstrasse Richtung Risch erreicht. Das ergäbe für jede dieser Routen einen Anteil am gesamten Lastwagenverkehr von etwa 30 % (je 7'150 Fahrten pro Jahr). Für diese Verkehrsverteilung spreche, dass der überwiegende Teil des Deponieguts aus dem Nordteil des Einzugsgebiets stamme. Für Lastwagen aus diesem Gebiet würde der Umweg von 5 km über die Autobahnausfahrt Küssnacht a.R. Mehrkosten von ca. Fr. 40.- pro Fahrt bedeuten (Schwerverkehrsabgabe und LKW-Mehrbenützung). Dies führe bei einer voraussichtlichen Betriebsdauer von acht Jahren zu Zusatzkosten von insgesamt 5,75 Mio. Franken. Es sei somit aus wirtschaftlichen Gründen angezeigt, die erwähnten kürzeren Zufahrtsrouten von Norden her zu wählen. Ein Verkehrsanteil aus Süden von wesentlich über 30 % erscheine somit als unwahrscheinlich. Da sich der Verkehr auf die drei beschriebenen Achsen gleichmässig verteile, sei auch keine relevante zusätzliche Belastung der Anwohner zu erwarten. |
2.5.4 Der auf der Kantonsstrasse ab Autobahnausfahrt Küssnacht a.R. bis zur Abzweigung der Stockeristrasse entstehende Lastwagenverkehr erweist sich nach den zutreffenden Darlegungen des BAFU angesichts der erheblichen Veränderung der Verkehrszusammensetzung als deutlich wahrnehmbar, auch wenn die Lärmzunahme rein rechnerisch unter 1 dB(A) liegt. Dies trifft insbesondere auf die Liegenschaften Stotzenackerweg 1 und 3 zu, welche von der Lärmzunahme bei der Abzweigung der Stockeristrasse am stärksten betroffen sind. Diese Liegenschaften befinden sich mit direkter Sicht- und Hörverbindung leicht erhöht oberhalb des genannten Kreuzungsbereichs, über welchen 12 Lastwagen pro Stunde die Deponie bedienen. Eine durchschnittliche Lastwagenfrequenz von 5 Minuten ist in dieser ruhigen Wohngegend zweifellos wahrnehmbar, weshalb zumindest den in den genannten Liegenschaften wohnenden beschwerdeführenden C. (Beschwerdeführerin 3) sowie Eheleuten H. (Beschwerdeführer 8) die Einsprache- und Beschwerdebefugnis nicht abgesprochen werden durfte. Die Legitimation dieser Anwohner ist sowohl für das Nutzungsplanungsverfahren als auch für das Verfahren der Errichtungsbewilligung zu bejahen. Unter diesen Umständen kann offenbleiben, ob auch den übrigen Beschwerdeführenden, deren Wohnhäuser etwas weiter von der Verzweigung Küssnachterstrasse/Stockeristrasse entfernt liegen, die Einsprache- und Beschwerdebefugnis zukommt. |