146 II 49
Urteilskopf
146 II 49
5. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Departement des Innern des Kantons Solothurn, Migrationsamt (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_468/2019 vom 18. November 2019
Regeste
Art. 62 Abs. 2 AIG: Widerruf/Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf ein Delikt, für das ein Strafgericht von einer Landesverweisung abgesehen hat.
Art. 62 Abs. 2 AIG will verhindern, dass verschiedene Behörden (Strafgericht und Migrationsbehörden) den gleichen Sachverhalt unterschiedlich beurteilen. Hat das Strafgericht ein nach dem 1. Oktober 2016 begangenes Delikt beurteilt, für das eine nicht-obligatorische Landesverweisung grundsätzlich möglich gewesen wäre, aber sich weder im Dispositiv noch in den Erwägungen zu einer Landesverweisung geäussert, und stützen sich die Migrationsbehörden nur auf frühere, vor Inkrafttreten dieses Artikels begangene Delikte, so bleibt ein Widerruf bzw. eine Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung durch die Migrationsbehörden zulässig (E. 5).
A. Der 1975 geborene A. ist polnischer Staatsangehöriger und seit 1997 mit einer Landsfrau verheiratet, mit welcher er vier volljährige Kinder hat. Am 15. Dezember 2010 reiste er in die Schweiz ein, worauf ihm eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA erteilt wurde.
Nach seiner Einreise in die Schweiz hat sich A. wiederholt strafbar gemacht; insbesondere wurde er mit Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 22. April 2016 verurteilt zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten, davon 15 Monate bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren und einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je Fr. 10.- und zu einer Busse von Fr. 200.- wegen Vergewaltigung, Nötigung, übler Nachrede, Fahrens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand (qualifiziert begangen), Führens eines nicht vorschriftsgemäss ausgerüsteten Personenwagens und Nichteinholens eines neuen Fahrzeugausweises nach Halterwechsel.
Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau widerrief daraufhin die Aufenthaltsbewilligung mit Verfügung vom 31. August 2016 und wies ihn aus der Schweiz weg. Dagegen erhob A. Einsprache. Am 1. September 2016 verlegte er seinen Wohnsitz in den Kanton Solothurn; im Gesuch um Kantonswechsel vermerkte er, dass er nicht strafrechtlich verurteilt worden sei, keine Schulden habe und keine Sozialhilfe bezogen habe. Daraufhin erteilte ihm das Migrationsamt des Kantons Solothurn am 10. Oktober 2016 eine Aufenthaltsbewilligung. Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau schrieb in der Folge die Einsprache als gegenstandslos geworden ab.
Weiter wurde A. mit Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden vom 17. Oktober 2018 zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 150.- und zu einer Busse von Fr. 100.- verurteilt wegen Führens eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis
BGE 146 II 49 S. 51
und Verwendung eines Telefons ohne Freisprecheinrichtung während der Fahrt.Am 5. Dezember 2018 verfügte das Migrationsamt des Kantons Solothurn unter Hinweis auf die strafrechtlichen Verurteilungen die Nichtverlängerung bzw. den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung und wies A. per 28. Februar 2019 aus der Schweiz weg. Zudem wurde er mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 4. Januar 2019 verurteilt zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 100.-, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von drei Jahren, wegen Täuschung der Behörden im Zusammenhang mit seinem Kantonswechsel.
B. Die von A. gegen die Verfügung vom 5. Dezember 2018 erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 28. März 2019 ab.
C. Mit Beschwerde an das Bundesgericht beantragt A., das Migrationsamt sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides anzuweisen, ihm eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
Aus den Erwägungen:
5. Im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG) ist schliesslich noch zu prüfen, ob dem Widerruf bzw. der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung Art. 62 Abs. 2 AIG entgegen steht.
5.1 Am 1. Oktober 2016 sind die neuen Bestimmungen über die Landesverweisung (Art. 66a ff. StGB) in Kraft getreten (AS 2016 2329). Gleichzeitig wurde ein neuer Abs. 2 von Art. 62 AIG aufgenommen, welcher lautet: "Unzulässig ist ein Widerruf, der nur ("uniquement", "per il solo motivo") damit begründet wird, dass ein Delikt begangen wurde, für das ein Strafgericht bereits eine Strafe oder Massnahme verhängt, jedoch von einer Landesverweisung abgesehen hat." Damit soll vermieden werden, dass der unter dem früheren Recht bestehende Dualismus von strafrechtlicher Landesverweisung und ausländerrechtlichem Bewilligungswiderruf wieder eingeführt wird. Der ausländerrechtliche Widerruf ist unzulässig, wenn er allein gestützt auf ein Delikt erfolgt, für welches ein Strafgericht bereits eine Strafe verhängt und keine Landesverweisung ausgesprochen
BGE 146 II 49 S. 52
hat. Sobald jedoch über das Delikt hinausreichende Aspekte in die Beurteilung einfliessen, etwa solche, die zum Zeitpunkt des Urteils nicht bekannt waren, erst später eintraten oder rein ausländerrechtliche Gründe betreffen, steht es den Ausländerbehörden weiterhin zu, die Bewilligung dieser Person gestützt auf ausländerrechtliche Überlegungen zu widerrufen (Botschaft vom 26. Juni 2013 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes, BBl 2013 6046).
5.2 Intertemporalrechtlich sind die neuen Bestimmungen über die Landesverweisung aufgrund des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots nur anwendbar, wenn das auslösende Delikt nach diesem Datum begangen wurde (Urteile 6B_1043/2017 vom 14. August 2018 E. 3.1.2 und 3.2.1; 2C_573/2018 vom 1. Februar 2019 E. 3.1). Das Strafgericht darf jedoch bei der Prüfung eines Härtefalls (Art. 66a Abs. 2 StGB) auch vor dem Inkrafttreten von Art. 66a StGB begangene Straftaten berücksichtigen; gestützt darauf darf nicht eine Landesverweisung ausgesprochen, aber die Integration und Rückfallgefahr bzw. die Verhältnismässigkeit der Landesverweisung generell beurteilt werden (Urteile 6B_651/2018 vom 17. Oktober 2018 E. 8.3.3; 6B_371/2018 vom 21. August 2018 E. 3.1 und 3.3; 6B_1043/2017 vom 14. August 2018 E. 3.2.2; 6B_506/2017 vom 14. Februar 2018 E. 2.5.1). Ebenso dürfen vor dem 1. Oktober 2016 begangene Delikte zwar nicht Anlass zu einer nicht-obligatorischen Landesverweisung (Art. 66abis StGB) geben, wohl aber mitberücksichtigt werden bei der Prüfung, ob eine solche verhältnismässig ist (vgl. Urteile 6B_607/2018 vom 10. Oktober 2018 E. 1.4.3; 6B_770/2018 vom 24. September 2018 E. 1.3 und 2.2.1).
5.3 Stehen ausschliesslich Delikte zur Diskussion, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen wurden, ist von vornherein eine strafrechtliche Landesverweisung nicht möglich. Das Strafgericht kann daher gar nicht in die Lage kommen, gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB von einer Landesverweisung abzusehen; Art. 62 Abs. 2 AIG ist in einer solchen Konstellation nicht anwendbar und die Migrationsbehörden bleiben zuständig zum Widerruf bzw. der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung (Urteile 2C_108/2018 vom 28. September 2018 E. 3.3; 2C_778/2017 vom 12. Juni 2018 E. 6.2; 2C_140/2017 vom 12. Januar 2018 E. 6.2; 2C_986/2016 vom 4. April 2017 E. 2.1).
5.4 Vorliegend stützen die Vorinstanzen die Nichtverlängerung hauptsächlich auf die mit dem Urteil vom 22. April 2016 beurteilte Vergewaltigung.
BGE 146 II 49 S. 53
Auf diese Tat konnten somit aus intertemporalrechtlichen Gründen die Art. 66a ff. StGB und Art. 62 Abs. 2 AIG nicht anwendbar sein. Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen wurde der Beschwerdeführer zusätzlich mit Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden vom 17. Oktober 2018 zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 150.-und zu einer Busse von Fr. 100.-verurteilt wegen Führens eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis und Verwendung eines Telefons ohne Freisprecheinrichtung während der Fahrt. Aus dem in den Akten befindlichen Strafurteil (Art. 105 Abs. 2 BGG) ergibt sich, dass die Tat am 24. Januar 2018 begangen wurde, somit nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen über die Landesverweisung. Führen eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis (Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, ist mithin ein Vergehen (Art. 10 Abs. 3 StGB) und kann zu einer nicht obligatorischen Landesverweisung (Art. 66a bis StGB) führen. Das Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden äussert sich weder im Dispositiv noch in den Erwägungen zu einer allfälligen Landesverweisung. Das Bezirkgsgericht hat dabei aber ausschliesslich über die Autofahrt vom 24. Januar 2018 geurteilt, nicht über die früheren Straftaten. In Bezug auf das Delikt, auf welches sich der Widerruf stützt, hat das Strafgericht nicht von einer Landesverweisung abgesehen; vielmehr kam eine solche aus übergangsrechtlichen Gründen gar nicht in Frage. Wenn bereits mit Blick auf dieses vor dem 1. Oktober 2016 begangene Delikt die Voraussetzungen für den Widerruf erfüllt sind, steht Art. 62 Abs. 2 AlG dem ausländerrechtlichen Widerruf nicht entgegen (BUSSLINGER/UEBERSAX, Härtefallklausel und migrationsrechtliche Auswirkungen der Landesverweisung, Plädoyer 2016 5 S. 106). Denn der Widerruf erfolgt in dieser Konstellation nicht "nur" ("uniquement", "per il solo motivo") wegen eines Deliktes, für welche das Strafgericht eine Strafe verhängt, aber von einer Landesverweisung abgesehen hat, wie dies der klare Wortlaut von Art 62 Abs. 2 AIG verlangt, sondern im Gegenteil in erster Linie wegen eines Deliktes, für welches die Art. 66a ff. StGB nicht anwendbar sind.
5.5 Das Bundesgericht hat allerdings in BGE 146 II 1 vom 18. November 2019 Art. 63 Abs. 3 AIG angewendet in einer Konstellation, in welcher einerseits eine Verurteilung zu drei Jahren Freiheitsstrafe erfolgt war wegen Delikten, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen worden waren, und andererseits eine Verurteilung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe (unter Absehen von der Landesverweisung
BGE 146 II 49 S. 54
gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB) unter anderem für Delikte, die nach diesem Datum begangen worden waren. Das Bundesgericht erwog, das Strafgericht habe bei seiner Annahme eines Härtefalls das gesamte deliktische Verhalten in Betracht gezogen mit Einschluss der vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Delikte. Würden die Migrationsbehörden gestützt auf diejenigen Tatsachen, welche das Strafgericht bei der Annahme eines Härtefalls gewürdigt hatte, die Bewilligung widerrufen, würde damit der Dualismus wieder eingeführt, den der Gesetzgeber vermeiden wollte.
5.6 Der vorliegende Fall unterscheidet sich in mehrfacher Beziehung von jenem Urteil: Dort war das zweite Urteil ergangen teilweise wegen Delikten, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen worden waren, teilweise aber auch wegen später begangener Delikte, auf welche die Art. 66a ff. StGB anwendbar waren, so dass eine Gesamtbetrachtung zu erfolgen hatte (vgl. vorne E. 5.2). Effektiv hatte denn das Strafgericht bei seinem Entscheid, von der Landesverweisung abzusehen, das gesamte deliktische Verhalten berücksichtigt mit Einschluss der vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Delikte. Schliesslich hatte das Kantonsgericht, welches den Widerruf bestätigt hatte, erwogen, das Strafgericht habe zu Unrecht von einer Landesverweisung abgesehen; eine solche Kritik der Verwaltungsjustiz an den Entscheiden der Strafjustiz widerspricht jedoch der Konzeption von Art. 62 Abs. 2 AIG.
Im vorliegenden Fall besteht eine klare Trennung zwischen dem Urteil vom 22. April 2016 und demjenigen vom 17. Oktober 2018, welch letzteres ausschliesslich wegen Delikten erging, welche nach dem 1. Oktober 2016 begangen wurden. Diesem Urteil lässt sich - anders als dem Strafurteil im Falle von BGE 146 II 1 - nicht entnehmen, dass das Strafgericht eine Landesverweisung in Betracht gezogen, unter Berücksichtigung der früheren Delikte jedoch davon abgesehen hätte. Das Urteil erging im abgekürzten Verfahren (Art. 358 ff. StPO) und äussert sich weder im Dispositiv noch in den Erwägungen zu einer allfälligen Landesverweisung. Es ist davon auszugehen, dass angesichts des (im Verhältnis zur maximalen Strafdrohung von drei Jahren Freiheitsstrafe) relativ geringfügigen Strafmasses (Geldstrafe von 90 Tagessätzen) eine Landesverweisung wegen der Autofahrt vom 24. Januar 2018 von vornherein nicht in Betracht gezogen wurde. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht den Widerruf nicht auf die Verurteilung vom 17. Oktober 2018 gestützt, sondern auf diejenige vom 22. April 2016. Wenn bereits diese - noch nicht unter
BGE 146 II 49 S. 55
Art. 66a ff. fallende - Verurteilung für den Widerruf ausreicht, kommt Art. 62 Abs. 2 AIG nicht zum Tragen (vorne E. 5.4). Schliesslich hat das Verwaltungsgericht - anders als das Kantonsgericht im Falle von BGE 146 II 1 - nicht darauf abgestellt, das Strafgericht habe zu Unrecht von der Landesverweisung abgesehen. Es verhält sich also nicht so, dass verschiedene Behörden (Strafgericht und Migrationsbehörden) den gleichen Sachverhalt unterschiedlich beurteilt hätten: Das Strafgericht hat bei seinem Entscheid gegen eine strafrechtliche Landesverweisung die früheren Delikte nicht in seine Beurteilung miteinbezogen, während die am 24. Januar 2018 begangene Tat nicht Anlass für den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung durch die Migrationsbehörden gab. In der vorliegenden Konstellation kommt daher Art. 62 Abs. 2 AIG nicht zur Anwendung. Anders zu entscheiden würde bedeuten, dass der Widerruf der Bewilligung wegen Vergewaltigung bloss deshalb ausgeschlossen wäre, weil der Beschwerdeführer nach dem 1. Oktober 2016 ein weiteres relativ geringfügiges Delikt begangen hat, für welches eine Landesverweisung von vornherein nicht in Betracht fiel, während dem Widerruf nichts entgegen stünde, wenn der Beschwerdeführer nach der Vergewaltigung nicht mehr delinquiert hätte. Eine solche Konsequenz wäre ein krasser Wertungswiderspruch, der sich dem Gesetz nicht entnehmen lässt.