BGE 96 III 93 |
16. Entscheid vom 30. November 1970 i.S. Michel. |
Regeste |
Beschwerde wegen Unpfändbarkeit. Örtlich zuständige Aufsichtsbehörde. Behandlung einer Beschwerde, die bei einer örtlich unzuständigen Behörde eingereicht wurde. |
2. Art. 139 OR ist auf Rechtsmittelfristen, insbesondere auf die Beschwerdefrist des Art. 17 Abs. 2 SchKG, nicht entsprechend anwendbar (Erw. 2). |
3. Wiederherstellung der Beschwerdefrist nach dem dafür massgebenden Art. 35 OG? (Erw. 3; Frage hier gegenstandslos). |
4. Ist Art. 75 Abs. 2 OG entsprechend anwendbar, wenn eine Beschwerde bei einer örtlich unzuständigen Behörde eingereicht wird? (Erw. 4 a; Frage offen gelassen). |
5. Fall, dass die Pfändungsurkunde ihrem Sinne nach eine unrichtige Angabe darüber enthält, wo Beschwerde zu führen ist. Überweisung einer Beschwerde, die entsprechend dieser Angabe bei einer örtlich unzuständigen Behörde eingereicht wurde, an die zuständige Behörde. |
Sachverhalt |
In den zu den Gruppen Nr. 232 und 48 zusammengefassten Betreibungen gegen Franz Michel in Winterthur pfändete das Betreibungsamt Zürich 11 im Auftrag des Betreibungsamtes Winterthur I am 8. Dezember 1969 und 26. Februar 1970 zahlreiche Gegenstände, die sich in Räumlichkeiten an der Seebacherstrasse 135 in Zürich 11 befanden, wo Michel als selbständiger Barkeeper tätig gewesen war. Mit Beschwerden, die innert 10 Tagen seit der Zustellung der Pfändungsurkunden bei der untern Aufsichtsbehörde über das Betreibungsamt Winterthur I eingereicht wurden, verlangte Michel die Freigabe bestimmter Gegenstände, weil sie zur Ausübung seines Berufs unentbehrlich seien. Die angerufene Behörde trat am 11. September 1970 auf die Beschwerden nicht ein, weil sie bei der untern Aufsichtsbehörde über das Betreibungsamt Zürich 11, das die Pfändung vollzogen hatte, hätten angebracht werden sollen. Die obere kantonale Aufsichtsbehörde hat den Rekurs Michels gegen diesen Entscheid am 26. Oktober 1970 abgewiesen. |
Den Entscheid der obern kantonalen Aufsichtsbehörde hat Michel an das Bundesgericht weitergezogen mit dem Antrag, es sei ihm "in Ergänzung des Entscheides der Vorinstanz eine Frist von 10 Tagen anzusetzen, um seine Beschwerde bei der zuständigen erstinstanzlichen Aufsichtsbehörde erneut einzureichen, eventuell sei die vorliegende Beschwerde dieser zuständigen Aufsichtsbehörde von Amtes wegen zu überweisen."
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Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung: |
Nach der neuern Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist die für die Verjährung erlassene Vorschrift des Art. 139 OR auf die Klagefristen des Bundeszivilrechts entsprechend anzuwenden (BGE 89 II 307 ff. E. 6 mit Hinweisen, BGE 93 II 369 E. 3). Die Frage, ob Art. 139 OR auch dann entsprechend anwendbar sei, wenn eine im SchKG vorgesehene Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit oder wegen eines verbesserlichen prozessualen Fehlers zurückgewiesen wurde und die im SchKG vorgesehene Klagefrist unterdessen abgelaufen ist, wurde in BGE 89 II 310 /11 offen gelassen und in BGE 91 III 17 ff. E. 2 unter Hinweis darauf, dass in diesem Falle eine Änderung (Verkürzung) der in Art. 139 OR vorgesehenen Nachfrist von 60 Tagen geboten wäre, als erwägenswert bezeichnet. Ein Urteil des Bundesgerichts über eine solche Klage, das diese - gemäss BGE 91 III 19 nicht von den Betreibungsbehörden, sondern von den Gerichten zu entscheidende - Frage beantworten würde, liegt nicht vor. Selbst wenn aber angenommen würde, diese Frage sei zu bejahen, würde das dem Rekurrenten im vorliegenden Falle nicht helfen; denn es handelt sich hier nicht um eine im SchKG vorgesehene Klagefrist, sondern um die in Art. 17 Abs. 2 SchKG festgesetzte Frist für die Beschwerde gegen Verfügungen des Betreibungs- oder Konkursamtes, also um eine Rechtsmittelfrist. Die für das materiellrechtliche Institut der Verjährung aufgestellte Vorschrift des Art. 139 OR auch auf die ausschliesslich dem Verfahrensrecht angehörenden Rechtsmittelfristen des Bundesrechts, insbesondere auf die Beschwerdefrist des Art. 17 Abs. 2 SchKG entsprechend anzuwenden, lässt sich nicht rechtfertigen. Auf diese Fristen angewandt, geriete Art. 139 OR in Konflikt mit den Bestimmungen des Verfahrensrechts, welche die Wiederherstellung gegen die Folgen der Versäumung von prozessualen Fristen und die Frage regeln, unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsmittel wirksam ist, obwohl es bei einer zu seiner Behandlung nicht zuständigen Stelle eingereicht wurde. |
Dem Hauptantrag des Rekurrenten kann daher nicht entsprochen werden.
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4. Zu prüfen bleibt, ob die bei der Aufsichtsbehörde für den Bezirk Winterthur eingereichte Beschwerde trotz der örtlichen Unzuständigkeit dieser Behörde als wirksam zu betrachten und gemäss dem Eventualantrag des Rekurrenten von Amtes wegen der örtlich zuständigen Aufsichtsbehörde für den Bezirk Zürich zu übermitteln sei (in welchem Falle ein Gesuch um Wiederherstellung überflüssig war). |
a) Wird eine Beschwerde bei einer dem Grade nach unzuständigen kantonalen Aufsichtsbehörde eingereicht, so ist sie nach Art. 75 Abs. 2 OG von Amtes wegen an die zuständige Aufsichtsbehörde abzugeben und gilt der Zeitpunkt der Einreichung als Zeitpunkt der Beschwerdeführung. Diese Bestimmung, die inhaltlich mit Art. 2 Abs. 1 und 2 der durch das OG von 1943 aufgehobenen Verordnung des Bundesgerichts vom 3. November 1910 betreffend die Beschwerdeführung in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen übereinstimmt, greift nach ihrem Wortlaut ein, wenn in einem Kanton, der neben der kantonalen Aufsichtsbehörde für einen oder mehrere Kreise untere Aufsichtsbehörden bestellt hat (Art. 13 Abs. 2 SchKG), eine nach der kantonalen Verfahrensordnung in erster Instanz von der untern Aufsichtsbehörde zu behandelnde Beschwerde bei der kantonalen Aufsichtsbehörde eingereicht wird oder umgekehrt. Sie erfasst aber auch den Fall, dass eine Eingabe, mit der ein Entscheid der untern Aufsichtsbehörde an die kantonale Aufsichtsbehörde weitergezogen wird (Art. 18 Abs. 1 SchKG), in Abweichung von der kantonalen Verfahrensordnung unmittelbar bei der kantonalen Aufsichtsbehörde statt bei der untern Aufsichtsbehörde oder bei der untern Aufsichtsbehörde statt unmittelbar bei der kantonalen Aufsichtsbehörde eingereicht wird (BIRCHMEIER, Handbuch des OG, N. 2 zu Art. 75, S. 269; zur Behandlung anderer Rechtsmittel, die bei einer dem Grade nach unzuständigen Behörde eingereicht werden, vgl. BGE 94 I 285, BGE 95 I 166 E. 5). BIRCHMEIER vertritt (a.a.O.) überdies die Auffassung, Art. 75 Abs. 2 OG sei sinngemäss auch dann anzuwenden, wenn eine Beschwerde bei einer örtlich unzuständigen Aufsichtsbehörde angebracht wird. Bei der Gesetzesberatung hat denn auch Ständerat Evéquoz als Berichterstatter der ständerätlichen Kommission zu dieser - bei der Ausarbeitung des OG von 1943 im übrigen nicht näher besprochenen - Bestimmung ganz allgemein bemerkt: "Une autorité incompétente recevant un recours doit le transmettre d'office à l'autorité compétente. Il suffit que le recours ait été déposé ou mis à la poste en temps voulu auprès d'une autorité de surveillance pour que le délai soit respecté" (Sten. Bull. 1943, StR, S. 121). Die neueste Gesetzgebung des Bundes hat für das Gebiet der eidgenössischen Verwaltungsrechtspflege ausdrücklich angeordnet, dass eine innert Frist an eine unzuständige Behörde gerichtete Eingabe zur Wahrung der Frist genügt und vom Amtes wegen an die zuständige Behörde weiterzuleiten ist (Art. 21 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren, Art. 107 Abs. 1 und 2 OG in der Fassung gemäss Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG; vgl. auch schon Art. 96 des OG von 1943). Die Vorschriften des Betreibungsrechts über das Verfahren und die Organisation der Betreibungsbehörden stehen dem Verwaltungsrecht nahe (BLUMENSTEIN, Handbuch des schweiz. Schuldbetreibungsrechts, S. 3/4; vgl. auch FAVRE, Droit des poursuites, 2. A., S. 10 Mitte). Unter diesen Umständen erscheint es nicht von vornherein als unzulässig, den Art. 75 Abs. 2 OG, obwohl er nur von der Einreichung einer Beschwerde bei einer dem Grade nach unzuständigen kantonalen Aufsichtsbehörde spricht, auf den Fall der Beschwerdeführung bei einer örtlich unzuständigen Aufsichtsbehörde entsprechend anzuwenden. Diese Frage (die schon in dem von BIRCHMEIER a.a.O. zitierten Entscheide der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 25. Januar 1945 i.S. Wyss berührt, aber offen gelassen wurde) braucht jedoch im vorliegenden Falle nicht entschieden zu werden, weil die Beschwerden des Rekurrenten auf jeden Fall aus einem andern Grunde als rechtzeitig zu gelten haben. |
b) In den Pfändungsurkunden steht am Fusse des 5. bzw. 3. Blattes die vorgedruckte Bemerkung: "Der Schuldner wird darauf aufmerksam gemacht, dass er sich innert 10 Tagen, von der Zustellung der Pfändungsurkunde an, bei der Aufsichtsbehörde zu beschweren hat, wenn er behaupten will, dass gesetzlich von der Pfändung ausgenommene Gegenstände gepfändet worden seien." Der hier verwendete Ausdruck "bei der Aufsichtsbehörde" ist nach dem Zusammenhang auf die Aufsichtsbehörde zu beziehen, der das Betreibungsamt Winterthur I untersteht, welches die Pfändungsurkunden unter Verwendung eines seinen Namen tragenden Titelblatts ausgefertigt und sie unterzeichnet und dem Schuldner bzw. dem ihn vertretenden Anwalt zugestellt hat. Dass Unpfändbarkeitsbeschwerden hinsichtlich der von einem andern Betreibungsamt gepfändeten Gegenstände bei der diesem Amt übergeordneten Aufsichtsbehörde anzubringen seien, wurde in den Pfändungsurkunden nicht vermerkt. Diese Urkunden enthielten also ihrem Sinne nach eine Angabe über die für eine Unpfändbarkeitsbeschwerde örtlich zuständige Behörde, die hinsichtlich der in Zürich gepfändeten Gegenstände unrichtig war. |
Aus dem Grundsatze von Treu und Glauben folgt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, dass einem Rechtsuchenden, der sich auf eine ihm von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat und verlassen durfte, aus dem dieser Belehrung entsprechenden Verhalten kein Rechtsnachteil erwachsen darf (BGE 78 I 297mit Hinweisen; BGE 96 II 72). Art. 107 Abs. 3 OG in der Fassung gemäss Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG stellt diese Regel für das Gebiet der Verwaltungsrechtspflege durch das Bundesgericht im Zusammenhang damit, dass schriftliche Verfügungen der Bundesverwaltungsbehörden gemäss Art. 35 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen sind, ausdrücklich auf. Sie gilt aber darüber hinaus wie der Grundsatz von Treu und Glauben, auf dem sie beruht, auf dem ganzen Gebiet der Rechtspflege, auch in Fällen, wo eine Rechtsmittelbelehrung vom Bundesrecht nicht vorgeschrieben ist, aber von der Behörde, die entschieden hat, tatsächlich erteilt wurde (BGE 96 II 72; zur Anwendbarkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben im Prozessrecht, im Betreibungsrecht und im Verwaltungsrecht vgl. BGE 83 II 348 ff. E. 2, 3, BGE 84 I 62 E. 4, BGE 85 III 29 E. 3a mit Hinweisen, BGE 89 I 249 E. 2a, BGE 94 I 351 mit Hinweisen, BGE 94 I 374, BGE 94 III 82 E. 4 und MERZ N. 69 ff. zu Art. 2 ZGB). Die erwähnte Regel muss daher auch für das Beschwerdeverfahren in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen gelten.
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Auf eine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung darf sich die Partei, an welche die Belehrung sich richtet, nur dann nicht verlassen, wenn sie die Voraussetzungen und Modalitäten des in Frage stehenden Rechtsmittels tatsächlich kannte, so dass sie durch die falsche Belehrung nicht irregeführt werden konnte, oder wenn die Unrichtigkeit der Belehrung für sie ohne weiteres klar erkennbar war (BGE 96 II 72). Das trifft im vorliegenden Falle nicht zu. Es liegt nichts dafür vor, dass der Rekurrent oder sein Anwalt die von ihnen nicht beachtete Zuständigkeitsregel gekannt hätten, und es lässt sich auch nicht sagen, es sei für sie ohne weiteres klar ersichtlich gewesen, dass eine Unpfändbarkeitsbeschwerde hinsichtlich der in Zürich gepfändeten Gegenstände entgegen der Belehrung, die das Betreibungsamt Winterthur I ihnen in den Pfändungsurkunden dem Sinne nach erteilt hatte, nicht in Winterthur, sondern in Zürich anzubringen war. Die fragliche Zuständigkeitsregel ist nicht im Gesetz ausgesprochen, sondern sie beruht lediglich auf der Rechtsprechung und versteht sich nicht ohne weiteres von selbst. |
Dem Rekurrenten darf also daraus, dass sein Anwalt die Unpfändbarkeitsbeschwerden entsprechend dem Sinne der in den Pfändungsurkunden enthaltenen Rechtsmittelbelehrung innert 10 Tagen von der Zustellung der Pfändungsurkunden an in Winterthur statt in Zürich einreichte, kein Nachteil erwachsen. Die Beschwerden sind daher als rechtzeitig zu erachten und von Amtes wegen der örtlich zuständigen Behörde zu übermitteln.
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Demnach erkennt die Schuldbetr. u. Konkurskammer:
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