BGE 113 III 2
 
2. Auszug aus dem Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 17. März 1987 i.S. Marco Generalunternehmung AG (Rekurs)
 
Regeste
Kognition der Betreibungs- und Aufsichtsbehörden bezüglich der Eintreibung eines rechtsmissbräuchlichen Anspruches.
 


BGE 113 III 2 (2):

Aus den Erwägungen:
2. Die Rekurrentin begründet den Rekurs im wesentlichen damit, dass die Gemeinde die Betreibung rechtsmissbräuchlich

BGE 113 III 2 (3):

angehoben habe. Es verstosse gegen Treu und Glauben, eine Forderung einzutreiben, von der man genau wisse, dass der Betriebene sie nicht schulde. Die Betreibung der Gemeinde sei daher nichtig.
a) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der Grundsatz von Treu und Glauben auch im Zwangsvollstreckungsrecht zu beachten. Eine Partei, welche die sich aus Art. 2 ZGB ergebenden Regeln verletzt, verdient ohne Rücksicht auf die Interessenlage zwischen Gläubiger und Schuldner keinen Rechtsschutz (BGE 108 III 120). Dies hat das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung vor allem im Zusammenhang mit dem Arrestverfahren anerkannt. Dabei ging es in der Regel um die Frage, ob der Gläubiger durch die besondere Art und Weise seines Vorgehens bei der Eintreibung der Forderung rechtsmissbräuchlich gehandelt habe (vgl. BGE 111 III 42 f.; BGE 110 III 37 f.; 108 III 120 f.; BGE 107 III 38; BGE 105 III 19).
b) Im vorliegenden Fall ist strittig, ob der Gemeinde gegenüber der Rekurrentin eine Forderung zustehe oder nicht. Das angeblich rechtsmissbräuchliche Vorgehen der Gemeinde, welches die Rekurrentin darin erblickt, dass die Gemeinde den irrtümlich unterbliebenen Rechtsvorschlag auszunützen versuche, indem sie eine Forderung eintreiben wolle, von der sie genau wisse, dass diese nicht gegenüber der Rekurrentin bestehe, setzt voraus, dass die in Betreibung gesetzte Forderung tatsächlich nicht gegenüber der Rekurrentin besteht. Fehlt es an dieser Voraussetzung, so ist ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen der Gemeinde zum vornherein ausgeschlossen.
Der materiellrechtliche Anspruch kann von der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer indessen nicht überprüft werden. Es entspricht einer Besonderheit des schweizerischen Vollstreckungsrechts, dass der Gläubiger eine Betreibung einleiten kann, ohne den Bestand seiner Forderung nachweisen zu müssen. Der Zahlungsbefehl als Grundlage des Vollstreckungsverfahrens kann grundsätzlich gegenüber jedermann erwirkt werden, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Schuld besteht oder nicht. Weder dem Betreibungsamt noch der Aufsichtsbehörde steht es zu, darüber zu befinden, ob ein strittiger Anspruch zu Recht eingefordert wird oder nicht (BGE 110 III 22). In der auf Geldzahlung gerichteten Zwangsvollstreckung gemäss Art. 38 Abs. 1 SchKG bildet denn auch weder die Forderung selbst noch der sie allenfalls verkörpernde Titel den Vollstreckungstitel, sondern einzig der in Rechtskraft erwachsene Zahlungsbefehl. Das schweizerische

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Vollstreckungsrecht zwingt daher den Schuldner, gegen einen Zahlungsbefehl etwas zu unternehmen, wenn er sich dem weiteren Vollstreckungsverfahren widersetzen will (vgl. FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, 3. Aufl., Bd. I, N 3 zu § 16 und N 17 zu § 17). Hierzu hat der Schuldner gemäss Art. 74 Abs. 1 SchKG innert zehn Tagen seit der Zustellung des Zahlungsbefehls dem Betreibungsamt mündlich oder schriftlich Rechtsvorschlag zu erklären. Damit diese kurze Frist für den unvorsichtigen Schuldner nicht zu unerträglichen Härten führt, hat der Gesetzgeber zudem verschiedene Vorkehren getroffen. So wird der Betriebene, der ohne seine Schuld verhindert war, innerhalb der gesetzlichen Frist Recht vorzuschlagen, unter den Voraussetzungen von Art. 77 SchKG zum nachträglichen Rechtsvorschlag zugelassen. Ferner hat der Betriebene die Möglichkeit, gemäss Art. 85 SchKG beim Richter die Aufhebung oder Einstellung der Betreibung zu bewirken, wenn er durch Urkunden die Tilgung oder Stundung der Schuld samt Zinsen und Kosten beweist. Schliesslich kann er für den Fall, dass er durch Unterlassung oder Beseitigung des Rechtsvorschlages zur Bezahlung einer Nichtschuld gezwungen wird, innerhalb eines Jahres nach der Bezahlung auf dem ordentlichen Prozessweg den bezahlten Betrag zurückfordern (Art. 86 Abs. 1 SchKG). Gerade dieser Behelf wäre in vielen Fällen überflüssig, wenn es der Schuldner in der Hand hätte, unter Berufung auf Art. 2 ZGB jederzeit eine materielle Überprüfung der Forderung und gegebenenfalls die Aufhebung der Betreibung zu bewirken.
Hinzu kommt, dass angesichts der Möglichkeit, einen Zahlungsbefehl ohne Nachweis der materiellen Berechtigung des geltend gemachten Anspruchs zu erwirken, der Rechtsmissbrauch diesbezüglich praktisch ausgeschlossen ist (BGE 102 III 5; BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, S. 240). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Gläubiger mit dem Betreibungsverfahren tatsächlich die Einforderung einer - wenn auch umstrittenen - Forderung und nicht nur beispielsweise die Kreditschädigung des Schuldners durch wiederholte Betreibungen bezweckt. Ebensowenig ist es rechtsmissbräuchlich, wenn der Gläubiger entsprechend den gesetzlichen Vorschriften die Fortsetzung der Betreibung verlangt, soweit kein Rechtsvorschlag erhoben wird. Der Schuldner hat es sich selber zuzuschreiben, wenn er den Rechtsvorschlag angeblich irrtümlich unterlässt. Zur Beseitigung der ihm unerwünschten Rechtswirkungen einer solchen Unterlassung

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stehen ihm die im Gesetz vorgesehenen Behelfe offen. Hingegen bleibt die Entscheidung über den materiellrechtlichen Anspruch dem ordentlichen Richter vorbehalten. Da weder das Betreibungsamt noch die Aufsichtsbehörde darüber zu befinden haben, ob der in Betreibung gesetzte Anspruch materiell berechtigt ist, kann daher in einem Beschwerdeverfahren nach Art. 17 ff. SchKG unter Berufung auf Art. 2 ZGB jedenfalls insoweit keine Aufhebung des Betreibungsverfahrens erreicht werden, als sich der Vorwurf darauf bezieht, der umstrittene Anspruch werde rechtsmissbräuchlich erhoben. Ob allenfalls eine Ausnahme zuzulassen wäre, wenn der Gläubiger gegenüber dem Betriebenen oder dem Betreibungsamt erklärt hätte, der Betriebene sei nicht der wirkliche Schuldner, ist hier nicht zu entscheiden. Der angefochtene Entscheid enthält keine Feststellungen über eine solche Erklärung der betreibenden Gemeinde. Damit erweist sich der Rekurs als unbegründet.